Leitsatz (amtlich)

Voraussetzung für die Wiederaufrollung des gesamten Steuerfalles im Rahmen einer Berichtigungsveranlagung nach § 222 Abs. 1 Nr. 1 AO ist, daß die neuen Tatsachen, die den Anlaß zur erneuten Prüfung in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht bilden, das Unternehmen des Steuerpflichtigen betreffen; neue Tatsachen, die bei einer fremden Firma festgestellt worden sind, können nur dann zu einer Änderung des gegen den Steuerpflichtigen ergangenen Steuerbescheids führen, wenn diese Firma umsatzsteuerrechtlich dem Steuerpflichtigen zuzurechnen ist, m. a. W., von seinem Unternehmen miterfaßt wird.

 

Normenkette

AO § 222 Abs. 1 Nr. 1; KRG Nr. 15 Art. II

 

Tatbestand

Die Klägerin und Revisionsklägerin (Steuerpflichtige) gehört zu einer Gruppe von Familienunternehmen, die sich mit der Herstellung und dem Vertrieb von Maschinen befaßt. Die Gruppe besteht aus den folgenden vier Firmen:

1. KG A (Steuerpflichtige),

2. GmbH H

3. GmbH G

4. GmbH P.

Die Steuerpflichtige, die ursprünglich die Maschinen selbst hergestellt hatte, ist seit dem 1. Januar 1952 (von einem Versuchsbetrieb abgesehen) nur noch Besitzgesellschaft. Sie hat seit diesem Zeitpunkt die Herstellung und den Vertrieb der Maschinen der GmbH H übertragen. Zu diesem Zwecke hat sie der GmbH H ihr gesamtes Anlagevermögen - bestehend aus Grundstücken, Gebäuden und beweglichen Wirtschaftsgütern - (mit Ausnahme der Einrichtungsgegenstände des Versuchsbetriebs) gegen einen Pachtzins von jährlich 5 v. H. der Wiederbeschaffungskosten der Pachtgegenstände verpachtet und alle ihr, ihren Gesellschaftern und ihren Werksangehörigen erteilten Patente und Gebrauchsmuster einschließlich der nicht angemeldeten Erfindungen gegen eine nach dem Netto-Fakturen-Wert der verkauften Erzeugnisse jährlich besonders berechnete Lizenzgebühr überlassen. Die Erfindereinnahmen werden vor Verzinsung der Privatkonten und vor Verteilung des Restgewinns nach Kapitalanteilen den Erfinder-Gesellschaftern (bzw. deren Erben) vorab gutgeschrieben.

Die Herstellung und der Vertrieb der Maschinen erfolgt durch die GmbH H. Die Anfang 1948 gegründete GmbH G und die Ende 1955 gegründete GmbH P sind als Zubringerbetrieb bzw. als Lohnverarbeitungsbetrieb ausschließlich für die GmbH H tätig. Alle vier Gesellschaften stehen unter der Leitung der persönlich haftenden Gesellschafter der Steuerpflichtigen. Sie werden einheitlich von X aus verwaltet. Die Steuerpflichtige bedient sich hierbei der Räume und des Personals der GmbH H.

Bis einschließlich 1955 waren die Mitglieder der Familie A hinsichtlich der Anteile als solcher und hinsichtlich ihrer Höhe unterschiedlich an den vier Gesellschaften beteiligt. Es wurden - in Übereinstimmung mit zwei im Jahre 1952 und Ende 1955 bis Anfang 1956 bei der A-Gruppe durchgeführten Betriebsprüfungen - Organschaftsverhältnisse zwischen den Gesellschaften angenommen und die zwischen ihnen ausgeführten Umsätze (Innenumsätze) wegen der zeitweiligen Aufhebung der umsatzsteuerrechtlichen Organschaft durch Art. II des Kontrollratgesetzes Nr. 15 (KRG) der Umsatzsteuer unterworfen.

Als ab 1. Januar 1956 die GmbH G keine Umsatzsteuervoranmeldungen mehr abgab, fragte das FA am 8. Juni 1956 nach den Gründen an. Es erhielt unter dem 18. Juni 1956 die Antwort, es seien keine umsatzsteuerpflichtigen Einnahmen zu melden gewesen, weil ab 1. Januar 1956 mit der Steuerpflichtigen Unternehmereinheit bestehe. Auf eine weitere Anfrage des FA vom 5. Oktober 1956 erklärte der Steuerberater der A-Firmen mit Schreiben vom 16. Oktober 1956, durch Schenkungen und Kapitalerhöhungen sei innerhalb der A-Gruppe erreicht worden, daß bei sämtlichen Unternehmungen das gleiche Beteiligungsverhältnis der Gesellschafter bestehe. Auf Anforderung des FA reichte die Steuerpflichtige Abschriften der in Betracht kommenden Verträge sowie eine Aufstellung ein, aus der sich die Veränderungen auf den Kapitalkonten bei den einzelnen Firmen ergaben, die zu den gleichen Kapitalbeteiligungsverhältnissen der Gesellschafter bei allen Gesellschaften geführt hatten. Daraufhin stellte das FA die Steuerpflichtige und die drei Kapitalgesellschaften bei den Veranlagungen für die Veranlagungszeiträume 1956 und 1957 (durchgeführt in der Zeit zwischen Februar 1958 und Januar 1959) mit den untereinander getätigten Innenumsätzen von der Umsatzsteuer frei.

Anläßlich einer erneuten Betriebsprüfung bei den Firmen der A-Gruppe im Jahre 1959 vertraten die Betriebsprüfer die Auffassung, daß zwischen der Steuerpflichtigen und den drei GmbH in den Jahren 1956 und 1957 eine Unternehmereinheit nicht bestanden habe. Die Erfindungen als der größere Teil des Betriebsvermögens der Steuerpflichtigen seien Vorabvermögen ihrer persönlich haftenden Gesellschafter (bzw. deren Erben). Der Gesellschafts-Wille werde zwar bei den drei GmbH einheitlich gebildet, nicht aber zwischen diesen einerseits und der Steuerpflichtigen andererseits; denn den beiden Komplementären der Steuerpflichtigen stünden größere Rechte zu als den Kommanditisten. Außerdem seien die einzelnen Betriebe nicht einander nebengeordnet; die GmbH sei wirtschaftlich von der Steuerpflichtigen abhängig. Weil die von der Besitzgesellschaft gepachteten Gegenstände des Anlagevermögens sowie die Patente und Gebrauchsmuster der Besitzgesellschaft und die Erfindungen der Komplementäre die wesentliche Grundlage für den Betrieb und die Erfolge der Herstellungs- und Vertriebsgesellschaft bildeten und die Steuerpflichtige an der Entwicklung der A-Erzeugnisse maßgebend beteiligt sei. Die GmbH G und P arbeiteten als Zubringerbetriebe ausschließlich für die GmbH H und seien in ihr Fertigungsprogramm wie Betriebsabteilungen eingegliedert. Infolgedessen stünden weder die drei Kapitalgesellschaften mit der Steuerpflichtigen noch die GmbH G und P mit der GmbH H, sondern nur die GmbH G mit der GmbH P in Unternehmereinheit.

Das FA schloß sich dieser Auffassung an. Es hielt hinsichtlich der Beziehungen der Gesellschaften der A-Gruppe zueinander neue Tatsachen für gegeben und zog durch Sammelberichtigungsbescheide gemäß § 222 Abs. 1 Nr. 1 AO die vier Firmen mit ihren Innenumsätzen zur Umsatzsteuer heran. Bei der GmbH H unterwarf es außerdem Vergütungen an Händler für durchgeführte Inspektionen, die diese Gesellschaft als entgeltmindernd behandelt hatte, sowie Mehrumsätze aufgrund einer Debitorenprobe der Umsatzsteuer mit 4 v. H. Diese Umsätze, die zu einer Mehrsteuer von rd. 1 900 DM für 1956 und von 2 200 DM für 1957 führte, waren nicht erklärt und nicht versteuert worden; sie stellen unstreitig neue Tatsachen im Sinne des § 222 Abs. 1 Nr. 1 AO dar.

Im Einspruchs- und Berufungs(Klage)verfahren war nicht mehr streitig, daß zwischen der Steuerpflichtigen und der GmbH H sowie zwischen dieser und den GmbH G und P in den Jahren 1956 und 1957 eine Unternehmereinheit nicht bestand. Streit besteht, nachdem sich andere Streitpunkte im Klageverfahren erledigt haben, im Revisionsverfahren nur noch darüber, ob das FA berechtigt war, die ursprünglichen Umsatzsteuerbescheide 1956 und 1957 durch Berichtigungsveranlagungen gemäß § 222 Abs. 1 Nr. 1 AO zu ändern.

Der Einspruch der Steuerpflichtigen gegen die Berichtigungsbescheide blieb ohne Erfolg. Das FG kam in der Vorentscheidung mit ausführlicher Begründung zu dem Ergebnis, dem FA seien die Tatsachen, die gegen das Vorliegen einer Unternehmereinheit sprächen, bei der ursprünglichen Umsatzsteuerveranlagung 1956 und 1957 (Anfang 1958 bis Anfang 1959) bekannt gewesen. Trotzdem erklärte die Vorinstanz die Berichtigungsveranlagungen 1956 und 1957 hinsichtlich der streitigen Innenumsätze für berechtigt, weil die bei der GmbH H anläßlich der Betriebsprüfung 1959 zutage getretenen neuen Tatsachen (betreffend Vergütungen für Inspektionen und Mehrumsätze aufgrund einer Debitorenprobe) Mehrsteuern ergeben hätten, die die im Urteil des Senats V 180/50 U vom 8. Februar 1962 (BFH 74, 610, BStBl III 1962, 225) festgelegte 1 000-DM-Grenze überschreiten, und daher nach der ständigen Rechtsprechung des BFH eine Gesamtüberprüfung der ursprünglichen Veranlagungen (Wiederaufrollung des gesamten Steuerfalles) geboten gewesen sei.

Mit der Revision wendet sich die Steuerpflichtige gegen die Rechtsprechung des BFH zur Frage der Wiederaufrollung. Die vom FA nachgeforderten Mehrsteuern stünden in einem völligen Mißverhältnis zu den Steuern, die aufgrund der neuen Tatsachen allein zu zahlen gewesen wären (unversteuerte Umsätze = rd. 0,1 v. H. der erklärten Umsätze). Das Auftreten neuer Tatsachen und der Rechtsfehler des FA seien zwei durchaus verschiedene Dinge. Das Bekanntwerden neuer Tatsachen sei ein reiner Zufall. Es gehe aber nicht an, die Zahlung oder Nichtzahlung von Steuern von Zufällen abhängig zu machen. Nur ein relativer Maßstab, der die Größenordnung der Unternehmen berücksichtige, führe beim Vergleich der Mehrsteuern und der erklärten Steuern zu befriedigenden Ergebnissen. Die vom BFH aufgestellten absoluten Grenzen (100 DM nach unten und 1 000 DM nach oben) seien willkürlich und fragwürdig. Die Berichtigungsveranlagungen verstießen im Streitfalle gegen die Grundsätze von Treu und Glauben. Die Richtlinien des BFH hätten nur für den Regelfall Gültigkeit. Ein Ausnahmefall liege vor, wenn das FA das Gebot des gegenseitigen Vertrauens mißachtet habe. Dies sei im Streitfall geschehen. Denn das FA habe durch seine wiederholten Anfragen und durch die späteren Veranlagungen die Rechtsauffassung der Steuerpflichtigen, es bestehe zwischen den A-Firmen ab 1. Januar 1956 Unternehmereinheit, bestätigt. Schließlich sei es nicht begründet, wegen der nur bei der GmbH H festgestellten neuen Tatsachen (Fehler bei der Versteuerung der Außenumsätze dieser Firma) die Umsatzsteuerveranlagungen 1956 und 1957 sämtlicher vier A-Unternehmen zu berichtigen und ihre Umsatzsteuerfälle insgesamt wiederaufzurollen.

 

Entscheidungsgründe

Aus den Gründen:

Die Revision führt zur Aufhebung der Vorentscheidung.

Nach § 222 Abs. 1 Nr. 1 AO sind Umsatzsteuerbescheide durch Berichtigungsveranlagungen zu ändern, wenn neue Tatsachen oder Beweismittel bekanntwerden, die eine höhere Veranlagung rechtfertigen, und die Verjährungsfrist noch nicht abgelaufen ist. Es besteht unter den Beteiligten kein Streit mehr darüber, daß zwischen der Steuerpflichtigen und den drei GmbH der A-Gruppe sowie zwischen der GmbH H und den GmbH G und P in den Jahren 1956 und 1957 eine Unternehmereinheit nicht bestand, weil zwei der vier Voraussetzungen für die Annahme einer Unternehmereinheit - gleiche Gesellschafter, gleiche Beteiligungsverhältnisse bezüglich jeder Gesellschaft, einheitliche Willensbildung für alle Gesellschaften und Nebenordnung der Gesellschaften -, nämlich die beiden zuletzt genannten, nicht vorlagen. Diese Tatsache war aber dem FA, wie die Vorinstanz ohne Rechtsirrtum festgestellt hat und vom FA im Revisionsverfahren ausdrücklich eingeräumt wird, bei den ursprünglichen Umsatzsteuerveranlagungen der vier A-Firmen für 1956 und 1957 bekannt.

Es fragt sich daher nur, ob die Tatsache der Nichtversteuerung verschiedener Außenumsätze der GmbH H das FA zu einer Berichtigung der ursprünglichen Umsatzsteuerveranlagungen der vier A-Firmen berechtigt. Diese bei der GmbH H anläßlich der Betriebsprüfung 1959 festgestellte Tatsache war dem FA bei den ursprünglichen Veranlagungen 1956 und 1957 unstreitig noch nicht bekannt.

Alle Senate des BFH haben bis in die neueste Zeit hinein (vgl. z. B. das zusammenfassende Urteil V 149/64 vom 30. Januar 1969, BFH 95, 236, BStBl II 1969, 409) in ständiger Rechtsprechung entschieden, daß die FÄ im Rahmen von Berichtigungsveranlagungen nach § 222 Abs. 1 Nr. 1 oder 2 AO berechtigt und verpflichtet sind, den gesamten Steuerfall in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht erneut zu prüfen. Voraussetzung für die Wiederaufrollung des gesamten Steuerfalls ist aber, daß die neuen Tatsachen, die den Anlaß zur Wiederaufrollung bilden, das Unternehmen des Steuerpflichtigen betreffen. Neue Tatsachen, die bei einer fremden Firma (hier: GmbH H) festgestellt worden sind, können nur dann zu einer Änderung des gegen den Steuerpflichtigen ergangenen Steuerbescheides führen, wenn diese Firma umsatzsteuerrechtlich dem Steuerpflichtigen zuzurechnen ist, mit anderen Worten, von seinem Unternehmen miterfaßt wird.

Die Steuerpflichtige und die GmbH H stehen, was im Revisionsverfahren nicht mehr streitig ist, in einem Organschaftsverhältnis zueinander. Grundsätzlich ist in einem solchen Falle die Tochtergesellschaft (hier: GmbH H) in das Unternehmen der Muttergesellschaft (hier: Steuerpflichtige) eingegliedert, mit der Folge, daß nur ein Unternehmen und nur ein Unternehmer vorhanden sind. Dies gilt jedoch nicht für die Zeit, in der Art. II KRG Nr. 15 in Kraft war. Der anfangs vom BdF vertretenen Auffassung, durch diese Vorschrift sei die Organschaft umsatzsteuerrechtlich nicht aufgehoben, sondern im Rahmen der Organschaft lediglich die Besteuerung der Innenansätze eingeführt worden, ist der Senat in seinem Urteil V 17/52 S vom 17. Juli 1952 (BFH 56, 604, BStBl III 1952, 234) entgegengetreten. Nach dieser Entscheidung bestand umsatzsteuerrechtlich die Organschaft während der Geltungsdauer der genannten KRG-Vorschrift nicht. Danach sind für die fragliche Zeit, mithin auch für die in Streit befangenen Veranlagungszeiträume 1956 und 1957, Mutter- und Tochtergesellschaft (hier: Steuerpflichtige und GmbH H) als getrennte Unternehmen und infolgedessen gemäß § 9 UStG 1951 als getrennte Steuerschuldner anzusehen. Die bei der GmbH H neu festgestellte Tatsache (Nichtversteuerung von Außenumsätzen) konnte daher nicht zu einer Berichtigung der ursprünglichen Umsatzsteuerveranlagungen 1956 und 1957 der Steuerpflichtigen und infolgedessen auch nicht zu einer erneuten Gesamtüberprüfung (Wiederaufrollung) ihres Steuerfalles führen.

Die Besteuerung der Innenumsätze der Steuerpflichtigen mit der GmbH für 1956 und 1957 im Wege der Berichtigungsveranlagung gemäß § 222 Abs. 1 Nr. 1 AO ist danach zu Unrecht erfolgt.

 

Fundstellen

BStBl II 1970, 589

BFHE 1970, 160

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