Entscheidungsstichwort (Thema)

Rechtsschutzbedürfnis bei vorläufigem Bescheid; Umfang der Vorläufigkeitserklärung wegen des Arbeitnehmer-Pauschbetrags

 

Leitsatz (NV)

1. Wird ein Einkommensteuerbescheid von vornherein wegen des Arbeitnehmer-Pauschbetrags für vorläufig erklärt, so fehlt einer Klage, mit der die Verfassungswidrigkeit des § 9a Satz 1 Nr. 1 EStG geltend gemacht und die Aussetzung oder das Ruhen des Klageverfahrens begehrt wird, das Rechtsschutzbedürfnis.

2. Die Klage gegen den vorläufigen Bescheid ist auch dann unzulässig und das Klageverfahren ist auch dann nicht nach § 74 FGO auszusetzen, wenn beantragt wird, neben den anerkannten Werbungskosten von mehr als 2000 DM einen Arbeitnehmer-Freibetrag in Höhe von 2000 DM zu berücksichtigen.

 

Normenkette

EStG § 9a S. 1 Nr. 1; FGO § 74; AO 1977 § 165 Abs. 1

 

Verfahrensgang

FG Baden-Württemberg

 

Tatbestand

Die Kläger und Beschwerdegegner (Kläger) erzielten beide im Streitjahr 1991 Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit. Der Beklagte und Beschwerdeführer (das Finanzamt - FA -) erkannte beim Kläger die geltend gemachten Werbungskosten an und gewährte der Klägerin den Arbeitnehmerpauschbetrag in Höhe von 2000 DM. Das FA erklärte den Einkommensteuerbescheid in mehreren Punkten für teilweise vorläufig nach § 165 Abs. 1 der Abgabenordnung (AO 1977), u.a. auch hinsichtlich des Arbeitnehmerpauschbetrags (§ 9a Nr. 1 EStG).

Die Kläger legten wegen der für vorläufig erklärten Punkte gegen den Einkommensteuerbescheid Einspruch ein und erklärten sich gleichzeitig mit dem Ruhen des Verfahrens einverstanden. Das FA wies den Einspruch als unbegründet zurück. Es führte aus, dem Rechtsschutzbedürfnis der Kläger sei durch die teilweise Vorläufigkeit des Einkommensteuerbescheides in ausreichendem Umfang Genüge getan.

Mit der Klage hatten die Kläger zunächst begehrt, die Einspruchsentscheidung aufzuheben und das Ruhen des Verfahrens anzuordnen. In der mündlichen Verhandlung beantragten sie, den Arbeitnehmerpauschbetrag als Arbeitnehmerfreibetrag anzusehen und das Klageverfahren auszusetzen. Das FA wandte sich gegen die Aussetzung des Verfahrens und beantragte, die Klage abzuweisen.

Das Finanzgericht (FG) setzte das Klageverfahren bis zur Veröffentlichung einer Entscheidung des Bundeverfassungsgerichts (BVerfG) über den Vorlagebeschluß des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 19. Februar 1993 VI R 74/91 (BFHE 170, 410, BStBl II 1993, 551) zur Frage der Verfassungsmäßigkeit von § 9a Satz 1 Nr. 1 des Einkommensteuergesetzes (EStG) in der ab 1990 geltenden Fassung gemäß § 74 der Finanzgerichtsordnung (FGO) aus. Es vertrat die Ansicht, grundsätzlich bestehe für die Klage zwar kein Rechtsschutzbedürfnis, soweit das FA bereits vor Erhebung der Klage den Bescheid in mehreren Punkten für vorläufig erklärt habe (vgl. BFH-Beschluß vom 7. Februar 1992 III R 61/91, BFHE 167, 279, BStBl II 1992, 592, 595). Der Kläger habe in der mündlichen Verhandlung jedoch nicht nur die Verfassungsmäßigkeit des § 9a Satz 1 Nr. 1 EStG angefochten, sondern den Betrag von 2000 DM neben den anerkannten Werbungskosten als Arbeitnehmerfreibetrag geltend gemacht. Dieses zusätzliche Begehren werde von der Vorläufigkeitserklärung des FA hinsichtlich des Arbeitnehmerpauschbetrags nicht abgedeckt. Deshalb hätten die Kläger insoweit ein Rechtsschutzbedürfnis.

Das FA beantragt mit der Beschwerde, den Beschluß aufzuheben und das Verfahren fortzuführen. Es meint, die Aussetzung des Verfahrens sei ausgeschlossen, da die Klage wegen des fehlenden Rechtsschutzbedürfnisses der Kläger unzulässig sei. Die Vorläufigkeitserklärung hinsichtlich des Arbeitnehmerpauschbetrages umfasse alle Probleme, die mit dessen Einführung und dem gleichzeitigen Fortfall u.a. des Arbeitnehmerfreibetrags bei Einkünften aus nichtselbständiger Tätigkeit aufträten. Der BFH habe mehrfach entschieden, daß in einer möglichen künftigen gesetzlichen Regelung eine tatsächliche Ungewißheit über die Voraussetzung für die Entstehung einer Steuer i.S. des § 165 Abs. 1 AO 1977 liegen könne. Anknüpfungspunkt der Vorläufigkeitserklärung könne dabei nur die derzeitige gesetzliche Regelung sein. Dies sei nach Aufhebung des Weihnachts- und Arbeitnehmerfreibetrags und der Erhöhung des Arbeitnehmerpauschbetrags - vom Gesetzgeber als eine Gesamtmaßnahme betrachtet - durch das Steuerreformgesetz 1990 der seither gültige Arbeitnehmerpauschbetrag in Höhe von 2000 DM. Sollte die Verfassungswidrigkeit dieses Arbeitnehmerpauschbetrags festgestellt werden, so würde jede denkbare gesetzliche Neuregelung zwangsläufig wegen der Vorläufigkeitserklärung des Arbeitnehmerpauschbetrages zu einer Anwendung der Neuregelung bei den Klägern führen, da es sich um eine Änderung der Gesamtmaßnahme handeln würde. Der BFH-Beschluß vom 18. September 1992 III B 43/92 (BFHE 169, 110, BStBl II 1993, 123) stehe dieser Auffassung nicht entgegen. Dieser Beschluß betreffe ausschließlich die Frage, ob eine nach Klageerhebung erfolgte Vorläufigkeitserklärung zur Beseitigung des Rechtsschutzbedürfnisses an der Aufrechterhaltung der Klage führe.

Hilfsweise weist das FA darauf hin, daß dann, wenn der Vorläufigkeitsvermerk anders verstanden werden und deshalb ein Rechtsschutzbedürfnis der Kläger für ihre Klage bejaht würde, der Vorlagebeschluß VI R 74/91 die Aussetzung des Verfahrens gemäß § 74 FGO nicht rechtfertigen könnte. Denn der BFH habe nicht die Abschaffung des Arbeitnehmerfreibetrags, sondern die Ungleichbehandlung von Arbeitnehmern, die Werbungskosten ersetzt erhielten, und denjenigen, die sie selbst tragen müßten, für grundgesetzwidrig gehalten. Die bloße Möglichkeit, daß eine Entscheidung des BVerfG irgendwelche Auswirkungen auf ein Klageverfahren haben könnte, berechtige nicht zur Aussetzung des Verfahrens.

 

Entscheidungsgründe

Die Beschwerde des FA ist begründet. Das FG hat das Klageverfahren zu Unrecht gemäß § 74 FGO ausgesetzt. Der Aussetzungsbeschluß ist deshalb mit der Folge aufzuheben, daß das Verfahren vor dem FG fortzuführen ist.

1. Nach der Rechtsprechung des BFH ist eine Aussetzung des Klageverfahrens nach § 74 FGO geboten, wenn vor dem BVerfG ein nicht als aussichtslos erscheinendes Musterverfahren gegen eine im Streitfall anzuwendende Norm anhängig ist, den FG zahlreiche Parallelverfahren (Massenverfahren) vorliegen und keiner der Beteiligten des Klageverfahrens ein berechtigtes Interesse an einer Entscheidung des FG über die Verfassungsmäßigkeit der umstrittenen gesetzlichen Regelung trotz des beim BVerfG anhängigen Verfahrens hat (BFH-Beschlüsse vom 7. Februar 1992 III B 24, 25/91, BFHE 166, 418, BStBl II 1992, 408, und vom 27. November 1992 III B 133/91, BFHE 169, 498, BStBl II 1993, 240).

a) Trotz Vorliegens dieser Voraussetzungen ist die Aussetzung des Klageverfahrens durch das FG aber dann ermessensfehlerhaft, wenn der Klage von vornherein das Rechtsschutzbedürfnis gefehlt hat und das FA sich deswegen ausdrücklich mit der Aussetzung des Klageverfahrens nicht einverstanden erklärt und die Abweisung der Klage als unzulässig begehrt hat. Eine Klage, für deren Erhebung von vornherein kein Rechtsschutzbedürfnis bestanden hat, ist wegen Fehlens einer Sachurteilsvoraussetzung unzulässig und abzuweisen.

b) Nach dem Beschluß des X.Senats vom 10. November 1993 X B 83/93 (BFHE 172, 197) fehlt einer Klage, mit der der Steuerpflichtige erstmals die Verfassungswidrigkeit des Sonderausgabenhöchstbetrags (§ 10 Abs. 3 EStG) rügt, das Rechtsschutzinteresse, wenn das FA bereits im Einspruchsverfahren, also vor Erhebung der Klage, den angefochtenen Einkommensteuerbescheid hinsichtlich der Vorsorgeaufwendungen für vorläufig erklärt hat. In einem derartigen Falle gehe es dem Kläger ersichtlich nur darum, den Einkommensteuerbescheid nicht bestandskräftig werden zu lassen, um im Falle einer für ihn positiven Entscheidung des BVerfG und einer sich daran ggf. anschließenden Neuregelung höhere Vorsorgeaufwendungen als bisher abziehen zu können. Diesem Begehren trage aber die vorläufige Einkommensteuerfestsetzung in vollem Umfange Rechnung. Denn die Festsetzungsfrist ende nicht vor Ablauf eines Jahres, nachdem die Ungewißheit, auf der die vorläufige Festsetzung beruhe, beseitigt sei (§ 171 Abs. 8 AO 1977), d.h. nicht vor einer Entscheidung des BVerfG oder dem Inkrafttreten einer ggf. notwendig werdenden gesetzlichen Neuregelung. Dieser Auffassung schließt sich der entscheidende Senat an.

Von einer derartigen Rechtslage geht für den Fall, daß der angefochtene Bescheid von vornherein und nicht erst im Klageverfahren (vgl. dazu BFH-Beschluß in BFHE 169, 110, BStBl II 1993, 123) vorläufig ergangen ist, grundsätzlich auch die Vorinstanz aus. Denn sie hat wegen der anderen Streitpunkte, in denen der Bescheid wegen der verfassungsrechtlichen Bedenken vom FA teilweise für vorläufig erklärt worden ist, ein Rechtsschutzbedürfnis für die Klage deshalb verneint, weil der Einkommensteuerbescheid insoweit von vornherein vorläufig erlassen worden ist.

2. Soweit das FG meint, daß im Streitfall wegen des Arbeitnehmerpauschbetrags - anders als bei den anderen Punkten, deren verfassungsrechtliche Beurteilung zweifelhaft ist - trotz des Vorläufigkeitsvermerks aufgrund des in der mündlichen Verhandlung gestellten Antrags der Kläger eine Aussetzung des Klageverfahrens gemäß § 74 FGO angemessen ist, vermag der Senat dem nicht zu folgen. Er teilt vielmehr die Ansicht des FA, daß der Klage auch insoweit weiterhin, also auch aufgrund des in der mündlichen Verhandlung gestellten Antrags, ein Rechtsschutzbedürfnis fehlt.

Die von den Klägern in der mündlichen Verhandlung beantragte Bewilligung eines Arbeitnehmerfreibetrags in Höhe von 2000 DM ist nach geltendem Recht nicht möglich, da eine entsprechende gesetzliche Grundlage nicht besteht. Darüber besteht zwischen den Beteiligten auch kein Streit. Die Klage mit diesem Begehren wäre danach grundsätzlich entscheidungsreif und abzuweisen. Etwas anderes könnte sich ausschließlich daraus ergeben, daß an der gegenwärtigen gesetzlichen Regelung des Arbeitnehmerpauschbetrages in § 9a Satz 1 Nr. 1 EStG verfassungsrechtliche Zweifel bestehen. Lediglich dann, aber auch nur dann, wenn das BVerfG die Regelung des Arbeitnehmerpauschbetrags in ihrer gegenwärtigen Fassung - entsprechend dem Vorlagebeschluß des Senats in BFHE 170, 410, BStBl II 1993, 551 - für mit dem Grundgesetz (GG) unvereinbar halten sollte, besteht überhaupt die Möglichkeit, daß der in der mündlichen Verhandlung gestellte Klageantrag (teilweise) Erfolg haben kann.

Wegen der Zweifel an der Verfassungskonformität des Arbeitnehmerpauschbetrags hat das FA aber bereits von vornherein den Bescheid in diesem Punkt für vorläufig i.S. des § 165 Abs. 1 AO 1977 erklärt. Diese Vorläufigkeit umfaßt nach der vom Senat geteilten Auffassung des FA ihrem Sinn und Zweck nach alle evtl. künftigen gesetzlichen Regelungen, die für den Fall vom Gesetzgeber anstelle des bisherigen Arbeitnehmerpauschbetrags getroffen werden sollten, daß das BVerfG die Regelung des Arbeitnehmerpauschbetrags in seiner gegenwärtigen Regelung für mit dem GG unvereinbar erklärt. Sollte sich der Gesetzgeber im Falle der Verfassungswidrigkeit der bisherigen gesetzlichen Regelung des Arbeitnehmerpauschbetrags dafür entscheiden, wieder einen Arbeitnehmerfreibetrag zu gewähren, dann - und nur dann - stünde den Klägern aufgrund der Vorläufigkeit des angefochtenen Bescheides hinsichtlich des Arbeitnehmerpauschbetrags ein Anspruch auf Gewährung dieses Freibetrags in Höhe der künftigen gesetzlichen Regelung zu.

Der Auffassung des FG, das zusätzliche betragsmäßige Begehren der Kläger werde von der Vorläufigkeitserklärung des FA hinsichtlich des Arbeitnehmerpauschbetrags nicht abgedeckt, vermag sich der Senat nicht anzuschließen.

Damit hat für die Klage von vornherein kein Rechtsschutzbedürfnis bestanden. Da die Klage demzufolge wegen Fehlens einer Sachurteilsvoraussetzung keinen Erfolg haben kann, kommt eine Aussetzung des Klageverfahrens nicht in Betracht (vgl. BFH-Beschluß vom 13. Dezember 1990 III B 519/90, BFH/NV 1991, 469).

3. Eine Kostenentscheidung hat nicht zu ergehen, da es sich vorliegend nur um ein unselbständiges Zwischenverfahren handelt, das von der Kostenentscheidung im Rahmen der endgültigen Streitentscheidung mit erfaßt wird (vgl. BFH-Beschlüsse vom 4. August 1988 VIII B 83/87, BFHE 154, 15, BStBl II 1988, 947; vom 9. April 1991 VII B 217/90, BFH/NV 1992, 136, 137).

 

Fundstellen

BFH/NV 1994, 548

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