Entscheidungsstichwort (Thema)

Zulassungsfreie Revision

 

Leitsatz (NV)

Zur Frage der zulassungsfreien Revision wegen nicht vorschriftsmäßiger Besetzung des erkennenden Gerichts.

 

Normenkette

FGO § 116 Abs. 1 Nr. 1

 

Tatbestand

Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt - FA -) nahm den Kläger und Revisionskläger (Kläger) als ehemaligen Geschäftsführer einer GmbH wegen rückständiger Lohnsteuer und Ergänzungsabgabe zur Lohnsteuer im Gesamtbetrag von 9 600 DM als Haftungsschuldner in Anspruch. Den Einspruch gegen den Haftungsbescheid wies das FA durch Einspruchsentscheidung vom 1. Juli 1974 zurück. Am 14. August 1981 erhob der Kläger gegen den Haftungsbescheid Klage und trug zur Begründung vor, er habe die Einspruchsentscheidung nicht erhalten.

Das Finanzgericht (FG) wies die Klage wegen Versäumung der Klagefrist als unzulässig ab. Es ging davon aus, daß dem Kläger die Einspruchsentscheidung - wie in der Postzustellungsurkunde (PZU) beurkundet - am 8. Juli 1974 wirksam zugestellt worden sei. Die PZU begründe gemäß § 418 Abs. 1 der Zivilprozeßordnung (ZPO) den vollen Beweis der darin bezeugten Tatsachen. Den nach § 418 Abs. 2 ZPO zulässigen Gegenbeweis habe der Kläger, wie sich aufgrund der Beweisaufnahme zur Überzeugung des Gerichts ergeben habe, nicht geführt.

Der Kläger hat gegen das Urteil des FG Nichtzulassungsbeschwerde und gleichzeitig Revision eingelegt. Die Zulässigkeit der Revision begründet er damit, daß das angefochtene Urteil mit einem Verfahrensmangel gemäß § 116 Abs. 1 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) behaftet sei. Das Urteil sei unwirksam, weil das ihm zugrunde liegende Verfahren nach wie vor unter dem Aktenzeichen I . . . beim FG anhängig sei. Das Aktenzeichen II . . ., unter dem das Urteil des FG ergangen sei, betreffe, wie sich aus der Übernahmemitteilung des II. Senats des FG ergebe, das ursprüngliche Verfahren I . . ., das zuständigkeitshalber an diesen Senat abgegeben worden sei. Dieses Verfahren sei aber bereits durch Beschluß vom Oktober 1981 unter dem Aktenzeichen I . . . abgeschlossen worden. Das Urteil habe somit in einer rechtskräftig abgeschlossenen Streitsache nochmals entschieden, während das hier maßgebliche Verfahren I . . . beim I. Senat des FG anhängig geblieben sei.

Im übrigen rügt der Kläger Verfahrensmängel, die er auch mit der Nichtzulassungsbeschwerde geltend gemacht hat (Verkennung der Beweislast, überflüssige Beweisaufnahme), und fehlerhafte Rechtsanwendung durch das FG, indem dieses angenommen habe, durch die PZU vom 8. Juli 1974 sei der Beweis dafür erbracht worden, daß ihm die Einspruchsentscheidung zugestellt worden sei. Der Kläger beantragt sinngemäß, unter Aufhebung des Urteils der Vorinstanz die Sache an das FG zurückzuverweisen.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist unzulässig.

Gegen das Urteil eines FG steht den Beteiligten die Revision an den Bundesfinanzhof (BFH) zu, wenn der Wert des Streitgegenstandes 10 000 DM übersteigt (§ 115 Abs. 1 FGO i. V. m. Art. 1 Nr. 5 des Gesetzes zur Entlastung des Bundesfinanzhofs - in der bis zum 16. Juli 1985 geltenden Fassung -), das FG oder auf die Nichtzulassungsbeschwerde der BFH die Revision zugelassen haben (§ 115 Abs. 1, 2, 3 und 5 FGO) oder wenn es sich um eine nichtzulassungsbedürftige Verfahrensrevision nach § 116 Abs. 1 FGO oder (hier nicht einschlägig) um eine Revision gegen Urteile in Zolltarifsachen (§ 116 Abs. 2 FGO) handelt. Im Streitfall ist die Revision nach keiner dieser Vorschriften statthaft.

1. Der Streitwert für die Entscheidung über die Zulässigkeit der Revision ist nicht nach den Vorschriften des Gerichtskostengesetzes (GKG), sondern nach § 155 FGO i. V. m. §§ 3 bis 9 ZPO festzusetzen (Urteil des erkennenden Senats vom 8. März 1977 VII R 3/76, BFHE 122, 8, BStBl II 1977, 614). Nach § 3 ZPO ist der Wert des Streitgegenstandes vom Gericht nach freiem Ermessen zu bestimmen. Er bemißt sich im Regelfall nach dem finanziellen Interesse, das der Kläger mit dem von ihm gestellten Antrag verfolgt. Dieses übersteigt im Streitfall nicht die für die Streitwertrevision maßgebliche Grenze von 10 000 DM, weil mit dem Haftungsbescheid des FA, gegen den der Kläger sich wendet, nur ein Haftungsbetrag von insgesamt 9 600,- DM festgesetzt worden ist.

2. Das FG hat die Revision gegen das angefochtene Urteil nicht zugelassen, und der Senat hat die auf grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache und Verfahrensmängel gestützte Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers durch Beschluß vom heutigen Tage als unbegründet zurückgewiesen.

3. Die Revision des Klägers ist auch nicht als zulassungsfreie Verfahrensrevision nach § 116 Abs. 1 FGO statthaft. In diesem Zusammenhang rügt der Kläger, daß das erkennende Gericht nicht vorschriftsmäßig besetzt gewesen sei (§ 116 Abs. 1 Nr. 1 FGO), weil der II. Senat des FG durch das angefochtene Urteil II 87/82 nochmals in der bereits vom I. Senat unter dem Aktenzeichen I . . . rechtskräftig entschiedenen Streitsache entschieden habe, während das dem Urteil zugrunde liegende Verfahren nach wie vor mit dem Aktenzeichen I . . . beim I. Senat des FG anhängig sei. Soweit darin die Rüge erblickt werden könnte, daß unter Abweichung vom Geschäftsverteilungsplan des FG nicht die gesetzlichen Richter i. S. des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 des Grundgesetzes (GG) entschieden hätten, könnte darin ein wesentlicher Verfahrensmangel i. S. des § 116 Abs. 1 Nr. 1 FGO liegen (vgl. Gräber, Finanzgerichtsordnung, § 119 Anm. 3; Tipke / Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 11. Aufl., § 116 FGO Tz. 12). Die Rüge ist aber nicht begründet, weil nach den Akten des FG und den mit der Revisionsbegründung vorgelegten Ablichtungen das klägerische Vorbringen nicht zutrifft.

Die Klage wegen Lohnsteuerhaftung, über die das FG im angefochtenen Urteil entschieden hat, hat beim FG zunächst das Aktenzeichen I . . . erhalten. Später ist sie zuständigkeitshalber vom II. Senat des FG übernommen worden und hat dort das Aktenzeichen II . . . erhalten, unter dem auch das angefochtene Urteil ergangen ist. Dabei ist in der Übernahmemitteilung des II. Senats an den Prozeßbevollmächtigten des Klägers das alte Aktenzeichen irrtümlich mit I . . . angegeben worden. In dem Schreiben des FG wird aber ausdrücklich darauf hingewiesen, daß Gegenstand des übernommenen Verfahrens auch die Haftung wegen Lohnkirchensteuer sei, für die der Rechtsweg zu den Verwaltungsgerichten gegeben sei. Daraus ergibt sich zweifelsfrei, daß der II. Senat des FG die Klage gegen den Kläger ergangenen Lohnsteuerhaftungsbescheid zuständigkeitshalber übernommen und in dem angefochtenen Urteil über diesen Streitgegenstand auch entschieden hat. Das in dem Übernahmeschreiben irrtümlich angeführte Aktenzeichen I . . . betraf den Antrag des Klägers auf Aussetzung der Vollziehung des Lohnsteuerhaftungsbescheids, über den der I. Senat des FG bereits rechtskräftig entschieden hatte. Dieses Aktenzeichen war dem Kläger nach Eingang seines Aussetzungsantrags für diesen Rechtsstreit mitgeteilt worden, so daß für ihn die Verwechslung der Aktenzeichen im Übernahmeschreiben erkennbar war. Die Rüge der nicht vorschriftsmäßigen Besetzung des erkennenden Gerichts greift somit nicht durch. Die irrtümlich fehlerhafte Angabe des früheren Aktenzeichens bei der Mitteilung, daß die Rechtssache von einem anderen Senat des FG übernommen worden ist, kann einen wesentlichen Verfahrensmangel i. S. des § 116 Abs. 1 Nr. 1 FGO, der die Einlegung der Revision ohne ihre Zulassung rechtfertigt, nicht begründen.

 

Fundstellen

BFH/NV 1986, 612

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