Leitsatz

1. Die Ausübung von Antrags- oder Wahlrechten, die dem Grunde nach keiner zeitlichen Begrenzung unterliegen, kann geändert werden, solange der entsprechende Steuerbescheid nicht formell und materiell bestandskräftig ist.

2. Die Änderung des Wahlrechts auf Inanspruchnahme der ermäßigten Besteuerung nach § 34 Abs. 3 EStG kommt im Falle einer partiellen Durchbrechung der Bestandskraft nur in Betracht, wenn die damit verbundenen steuerlichen Folgen nicht über den durch § 351 Abs. 1 AO und § 177 AO gesetzten Rahmen hinausgehen. Dies gilt auch dann, wenn die partielle Durchbrechung der Bestandskraft des Folgebescheids durch einen den Veräußerungsgewinn ändernden Grundlagenbescheid ausgelöst wird.

3. Die Änderungsvorschrift des § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO durchbricht die Bestandskraft nur insoweit, als ein Folgebescheid an den Grundlagenbescheid anzupassen ist.

 

Normenkette

§ 34 Abs. 3 EStG, § 175 Abs. 1 Satz 1 Nrn. 1 und 2, § 177, § 351 Abs. 1 AO

 

Sachverhalt

Die zusammenveranlagten Kläger beantragten im Rahmen der ESt 2007 für einen Veräußerungsgewinn des Klägers aus der Beteiligung an der X-KG die Gewährung des ermäßigten Steuersatzes nach § 34 Abs. 3 EStG, den das FA antragsgemäß gewährte. Der Veräußerungsgewinn wurde später aufgrund einer Außenprüfung reduziert, weshalb ein geänderter Feststellungsbescheid und ein entsprechend geänderter ESt-Bescheid 2007 ergingen. Innerhalb der Einspruchsfrist des Änderungsbescheids teilten die Kläger mit, dass der Antrag nach § 34 Abs. 3 EStG zurückgenommen werde. Das FA lehnte eine Änderung ab. Die anschließend erhobene Klage hatte nur mit dem Hilfsantrag auf getrennte Veranlagung Erfolg (FG Köln, Urteil vom 9.3.2022, 15 K 1055/20, Haufe-Index 15467262, EFG 2023, 95).

 

Entscheidung

Der BFH wies die Revision der Kläger als unbegründet zurück. Der Widerruf des Antrags auf ermäßigte Besteuerung liege außerhalb des durch die Änderung des Grundlagenbescheids gezogenen Änderungsrahmens. Auch der durch § 34 Abs. 3 EStG verfolgte Zweck, zur Sicherung der Altersvorsorge von aus dem Berufsleben ausscheidenden Unternehmern beizutragen, erfordere nicht, dass das Antragsrecht dem Steuerpflichtigen eine veranlagungszeitraumübergreifende Optimierung seiner Steuerlast außerhalb der maßgeblichen Korrekturvorschriften ermöglichen müsse.

 

Hinweis

1. Veräußerungsgewinne i.S.d. §§ 14, 14a Abs. 1, 16 und 18 Abs. 3 gehören nach § 34 Abs. 2 Nr. 1 EStG zu den außerordentlichen Einkünften. Für sie ist ein ermäßigter Steuersatz vorgesehen, weil sie oft das Ergebnis von über viele Jahre angesammelten stillen Reserven darstellen, die dann in einem Jahr geballt aufgedeckt werden. Um den durch die zusammengeballte Gewinnrealisierung erzeugten Progressionseffekt abzumildern, enthält § 34 Abs. 1 EStG die sog. "Fünftelregelung", mit der der Steuersatz so ermittelt wird, als wäre der Veräußerungsgewinn auf fünf Jahre verteilt worden. Alternativ kommt für Veräußerungsgewinne – anders als für andere außerordentliche Einkünfte – unter bestimmten einschränkenden Voraussetzungen ein ermäßigter Steuersatz von 56 % des durchschnittlichen Steuersatzes in Betracht. Die Gewährung dieses ermäßigten Steuersatzes kann zum einen nur auf Antrag des Steuerpflichtigen erfolgen (§ 34 Abs. 3 Satz 1 EStG) und zum anderen nur einmal im Leben des Steuerpflichtigen in Anspruch genommen werden (§ 34 Abs. 3 Satz 4 EStG).

2. Der Antrag auf Gewährung des ermäßigten Steuersatzes kann grundsätzlich frei widerrufen werden. Es besteht keine gesetzliche Frist für den Widerruf (BFH, Urteil vom 9.12.2015, X R 56/13, BFH/NV 2016, 618, Haufe-Index 9124090, Rz. 14 ff.). Die Ausübung des Widerrufsrechts wird aber durch die Bestandskraft des ESt-Bescheids beschränkt. Eine Wahlrechtsänderung ist ohne Weiteres möglich, wenn der Bescheid noch mit dem Einspruch oder der Klage anfechtbar, also noch nicht formell bestandskräftig ist. Gleiches gilt, sofern der Bescheid z.B. noch unter dem Vorbehalt der Nachprüfung steht und damit noch nicht materiell bestandskräftig wurde. Ist der Bescheid dagegen formell und materiell bestandskräftig, scheidet ein Widerruf der Wahlrechtsausübung aus. Ist der Bescheid partiell (noch) nicht formell und materiell bestandskräftig, kann eine Änderung des Wahlrechts in Betracht kommen. Allerdings sind dann die durch die Teilbestandskraft gezogenen Grenzen zu beachten.

3. Sind im ESt-Bescheid Einkünfte enthalten, die auf Grundlagenbescheiden (§ 171 Abs. 10 AO) beruhen, ermöglicht auch § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO eine teilweise Durchbrechung der materiellen Bestandskraft, da der Steuerbescheid zu ändern ist, soweit ein Grundlagenbescheid, dem Bindungswirkung für diesen Steuerbescheid zukommt, erlassen, aufgehoben oder geändert wird.

4. In einem solchen Fall sehen § 351 Abs. 1 AO für den Fall der Anfechtung des aufgrund des Grundlagenbescheids geänderten Steuerbescheids und § 177 AO für die im Zuge der Änderung vorzunehmende Berichtigung von materiellen Fehlern vor, dass die Grenzen der materiellen Bestandskraft beachtet werden m...

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