Rz. 31

Der Wortlaut des § 76 AktG, wonach der Vorstand "unter eigener Verantwortung die Gesellschaft zu leiten" hat, lässt unterschiedliche Sichtweisen zum sog. "Unternehmensinteresse" im Schrifttum auftreten. Der Shareholder-Value-Ansatz als erster Extrempunkt stellt auf eine Maximierung des Marktwerts des Eigenkapitals aus Sicht der Investoren (Shareholder Value) ab.[1] Dagegen richtet sich der Stakeholder-Value-Ansatz als Konkurrenzmodell an eine Maximierung des Unternehmenswerts aus Sicht vielfältiger Anspruchsgruppen des Unternehmens (Stakeholder). Im Fachschrifttum wurden in den vergangenen Jahrzehnten unterschiedliche Sichtweisen für und gegen den Shareholder- und Stakeholder-Value-Ansatz eingenommen.[2] Durch die Finanzkrise 2007/08 ist die Attraktivität des Shareholder-Value-Ansatzes deutlich gesunken.[3] Relativ konsensfähig erscheint bislang im einschlägigen Schrifttum als enlightened shareholder value ein "moderates" Shareholder-Value-Konzept, das auch Nachhaltigkeitsbelange nicht gänzlich unberücksichtigt lässt.[4] Vorgeschlagen wird ebenfalls ein "moderater Stakeholder-Ansatz"[5]. In jüngerer Zeit wird die vorstehende Diskussion auch aus internationaler Sicht unter dem Deckmantel "Sustainable Corporate Purpose" geführt.[6]

 

Rz. 32

Sofern die Zielsetzung der Klimaneutralität bis 2050 (auf EU-Ebene) bzw. bis 2045 (auf nationaler Ebene) konsequent von den betreffenden Unternehmen verfolgt werden soll, wird nach eigener Einschätzung eine bloße Regulierung der Berichterstattungs- und Finanzierungsanforderungen nicht erfolgversprechend sein. Vielmehr müssen primär die Klimaschutzziele des Unternehmens in die Strategie verankert werden, so dass diese auch das Produkt- und Dienstleistungsangebot bei bislang nicht nachhaltigen Industrien wesentlich verändern. Eine klimaneutrale Unternehmenstransformation lässt sich wohl weder mit dem traditionellen Shareholder-Value-Konzept noch mit einem "moderaten Stakeholder-Ansatz" in dem betreffenden Zeitrahmen erzielen.

 

Rz. 33

Die von der EU-Kommission in Auftrag gegebene Studie von Ernst & Young zu möglichen Handlungsfeldern im Bereich einer potenziellen Regulierung der Sustainable Corporate Governance sieht u. a. vor, i. R. e. EU-Richtlinie die Aufgaben des Verwaltungsrats sowie das Unternehmensinteresse in Richtung eines Stakeholder-Value-Ansatzes zu konkretisieren.[7] Dieses Stakeholder-orientierte Verständnis wurde auch bereits in § 70 des österreichischen Aktiengesetzes kodifiziert: "Der Vorstand hat unter eigener Verantwortung die Gesellschaft so zu leiten, wie das Wohl des Unternehmens unter Berücksichtigung der Interessen der Aktionäre und der Arbeitnehmer sowie des öffentlichen Interesses es erfordert". Art. 1833 Abs. 2 des französischen Code Civil verpflichtet die Geschäftsleitung ebenfalls dazu, im Rahmen ihrer Geschäftstätigkeit die sozialen Auswirkungen ihrer Aktivitäten und die Konsequenzen für die Umwelt zu berücksichtigen. Ferner hatten viele US-amerikanische CEOs im Jahr 2019 in einem Business Roundtable ihre Abkehr vom Shareholder-Value-Prinzip und Hinwendung zu einem (moderaten) Stakeholder Value medienwirksam bekräftigt.[8]

 

Rz. 34

Im Jahr 2017 hatte die SPD-Fraktion bereits eine Nachhaltigkeitsverankerung in § 76 AktG in einem Gesetzentwurf zur Angemessenheit von Vorstandsvergütungen und zur Beschränkung der steuerlichen Absetzbarkeit vorgeschlagen. Hiernach sollte die Leitungspflicht des Vorstands in § 76 Abs. 1 AktG um einen Satz ergänzt werden, wonach dieser "dabei dem Wohl des Unternehmens, der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, der Aktionärinnen und Aktionäre und dem Wohl der Allgemeinheit verpflichtet"[9] ist. Ähnlich empfiehlt der Sustainable-Finance-Beirat der Bundesregierung (SFB) eine Anpassung des § 76 Abs. 1 AktG in seinem Abschlussbericht: "Leitung im langfristigen Interesse des Unternehmens unter angemessener Berücksichtigung von Nachhaltigkeitszielen."[10]

Nach der Novelle des DCGK 2022 ist in Empfehlung A.1 vorgesehen, dass der Vorstand die mit Sozial- und Umweltfaktoren verbundenen Risiken und Chancen für das Unternehmen sowie die ökologischen und sozialen Auswirkungen systematisch identifizieren und bewerten soll. Ferner sollen in der Unternehmensstrategie neben den langfristigen wirtschaftlichen Zielen auch ökologische und soziale Ziele angemessen berücksichtigt werden. Schließlich soll die Unternehmensplanung auch finanzielle und nachhaltigkeitsbezogene Ziele umfassen. In Empfehlung A.1 wird das doppelte Wesentlichkeitsverständnis aus der Präambel erneut benannt und auf die Ableitung der Unternehmensstrategie übertragen. Auf entsprechende Formeln könnte auch bei einer potenziellen aktienrechtlichen Regulierung der Sustainable Corporate Governance zurückgegriffen werden.

[1] Vgl. Fleischer, in Spindler/Stilz, Großkommentar AktG, 5. Aufl., 2022, § 76, Rn 29.
[2] Vgl. Fleischer, in Spindler/Stilz, Großkommentar AktG, 5. Aufl., 2022, § 76, Rn 30 f.
[3] Vgl. Schön, ZHR 2016, S. 280.
[4] Vgl. Fleischer, in Spindler/Stilz, Großkommentar ...

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt Haufe Finance Office Premium. Sie wollen mehr?

Anmelden und Beitrag in meinem Produkt lesen


Meistgelesene beiträge