Shifting Minds

Alle warten auf Brüssel. Nur die Zukunft nicht


Shifting Minds:Alle warten auf Brüssel nur die Zukunft nicht

Die Nachhaltigkeitsbranche scheint aktuell wie eingefroren: Unternehmen und Beratungen warten auf Entscheidungen aus Brüssel, während Projekte pausieren und Unsicherheit wächst. Doch vielleicht ist genau jetzt der Moment, um den Taktstock selbst in die Hand zu nehmen und den Aufbruch zu wagen – bevor Brüssel den Startschuss gibt. Meint unser Kolumnist Alexander Kraemer.

Nachhaltigkeit: Erst mal abwarten?

Ich weiß nicht, wie oft ich in den letzten Wochen denselben Satz gehört habe: „Wir warten erst mal ab, was die EU entscheidet.“ Wenn ich für jedes Mal einen Euro bekäme, hätte ich längst meine eigene Richtlinie geschrieben, mit einer Feder, auf Papyrus, bei Kerzenlicht.

Es gibt diese Momente im Nachhaltigkeitsmanagement, in denen sich alles anfühlt wie eine Warteschleife mit klassischer Musik. Man klickt sich durch Entwürfe, folgt Verhandlungen, scrollt durch LinkedIn-Debatten und hofft auf ein Signal. Nur, dass das Signal aus Brüssel kommt. Spannend sind immer die Leaks, die dann blitzschnell kursieren.

Früher haben wir auf das neue iPhone gewartet, jetzt sind Details aus Brüssel.

Der Tanz auf der Stelle

Der aktuelle Sustainability People Pulse zeigt, wie die Szene sanft im Takt wippt, sich aber gefühlt nicht bewegt.

Bei den Nachhaltigkeitsmanager:innen in Unternehmen liegt die Stimmungslage im November bei 55,9 Punkten, leicht rückläufig. Die Erwartungen bleiben mit 49,8 Punkten im grauen Mittel. Der Pulse-Wert: 52,7. Solide, aber Mittelmaß. Der Motor läuft, aber keiner weiß, wohin. Wir warten mal, bis einer eine Ansage macht, wohin wir fahren.

SPP Stimmungslage

In den Nachhaltigkeitsberatungen sieht es kaum besser aus. Die aktuelle Geschäftslage liegt bei 38 Punkten, der Pulse stagniert bei 46,5. Klingt harmlos, ist aber ein Warnsignal. Viele Beratungen stehen am Rand: Einige in Kurzarbeit, andere werden aufgekauft, manche schlicht abgewickelt.

SPP Geschäftslage

Und auch in Unternehmen ist die Unsicherheit greifbar. Nachhaltigkeitsabteilungen werden „restrukturiert“, Projekte „pausiert“. Vielen wackelt der Stuhl, anderen wurde er schon weggezogen. Das spüren wir ganz direkt: Zu unserem Webinar „Jobs im Nachhaltigkeitsmanagement“ haben sich im November fast 300 Menschen angemeldet. Das ist mehr als je zuvor.

Das Bild ist eindeutig: Die Branche tanzt. Aber sie tanzt auf der Stelle. Man könnte meinen, nach all den Panels, Positionspapieren und Pilotprojekten käme jetzt Bewegung. Stattdessen gleicht die Szene einem Gleichschritt.

Der Fortschritt ist da, aber ohne Zugkraft. Mehr Unternehmen professionalisieren Strukturen, mehr Beratungen überdenken ihr Geschäftsmodell. Doch der Pulsschlag der Szene ist kein Aufbruch. Es ist Durchhalten und abwarten auf irgend eine Entscheidung. Gefühlt ist es fast egal welche.

Der perfekte Cliffhanger

Wir erleben das wahrscheinlich spannendste Regulierungsdrama, es ist wie Netflix, nur mit Fußnoten.

In der letzten Folge: Hunderte Wissenschaftler:innen unterschreiben die Kopenhagener Erklärung, dann melden sich die Jurist:innen, dann die Kommission, dann die nächsten Lobbyverbände. Alle haben etwas zu sagen.

Eine Szene wie aus House of Brussels: Politiker:innen in endlosen Verhandlungsräumen, während draußen tausende Nachhaltigkeitsmanager:innen versuchen, die Transformation der Wirtschaft voran zu treiben, die von relevanten Stakeholdern wieder hinterfragt wird.

Und während wir versuchen, compliant, effizient und klimawirksam zu bleiben oder zu werden, schreibt jemand im Pulse: „Low Hanging Fruits sind abgeerntet, jetzt bräuchte es Investments . Aber Kunden zahlen ja nicht dafür.“

Ich kenne die Argumente, dennoch glaube ich, dass sich genau diese bald dreht. Die großen Konzerne, der Lebensmitteleinzelhandel, wollen eine nachhaltige Lieferkette.

Ist es der Moment vor dem Aufbruch?

Geht es Euch auch so? Ich spüre etwas. Ihr vielleicht auch. Etwas, das sich anfühlt wie der Moment kurz bevor ein Orchester einsetzt. Man hört die Geigen warmspielen, die Oboe ist auch schon auf Temperatur. Die Leute sind bereit. Die Systeme stehen. Die Köpfe sind da. Nur das Signal fehlt.

Irgendwer muss sich den Taktstock nehmen und aufs Pult klopfen.

Vielleicht sind wir vor dem Aufbruch. Vielleicht müssen wir einmal kollektiv durchatmen, um dann loszulaufen. Vielleicht schnappt sich jemand den Taktstock und startet eine ganze Welle.

Ich sprach neulich mit einer Wirtschaftsprüferin dazu. Sie sagte mir: „Alex, im Februar oder März ist es soweit. Dann ist alles entschieden, dann geht’s richtig los.“ Ich musste lachen und antwortete: „Letztes Mal hast Du ‘Herbst’ gesagt.“ Ich hoffe sehr, dass sie recht hat.

Worauf warten wir eigentlich?

Lass uns aufhören, auf Brüssel zu warten. Echtes Leadership entsteht, wenn jemand sich trotzdem traut. Die Herausforderungen sind nicht die Entscheidung in Brüssel.

Und genau darüber spreche ich kommende Woche im Podcast mit Professor Andreas Rasche von der Copenhagen Business School. Aus meiner Sicht einer der klügsten Stimmen, wenn es um den regulatorischen Wandel im Nachhaltigkeitsmanagement geht.

Bis dahin: Bereitet das Durchstarten vor. Es könnte der entscheidende Vorteil sein, bevor Brüssel merkt, dass wir gar nicht mehr warten.


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