Keine (Pflicht-)Veranlagung bei Antrag auf Günstigerprüfung
Hintergrund: Festsetzungsfrist
Eine Steuerfestsetzung sowie ihre Aufhebung oder Änderung sind nach § 169 Abs. 1 Satz 1 AO nicht mehr zulässig, wenn die Festsetzungsfrist abgelaufen ist. Die Festsetzungsfrist beträgt regelmäßig 4 Jahre (§ 169 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AO). Sie beginnt grundsätzlich mit Ablauf des Kalenderjahres, in dem die Steuer entstanden ist (§ 170 Abs. 1 Alt. 1 AO). Ist eine Steuererklärung einzureichen (sog. Pflichtveranlagung), beginnt die Festsetzungsfrist abweichend mit Ablauf des Kalenderjahres, in dem die Steuererklärung eingereicht wird, spätestens jedoch mit Ablauf des dritten Kalenderjahres, das auf das Kalenderjahr folgt, in dem die Steuer entstanden ist (§ 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO).
Antrag auf Günstigerprüfung im Dezember 2020 für die Streitjahre 2014 und 2015
Fraglich war im Urteilsfall, ob die die Stellung eines Antrags auf Günstigerprüfung nach § 32d Abs. 6 EStG eine Pflichtveranlagung auslöst, mit der Folge, dass die Anlaufhemmung des § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO zur Anwendung gelangt.
- Die Klägerin reichte am 30.12.2020 Einkommensteuererklärungen für die Streitjahre (2014 und 2015) ein und erklärte jeweils Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit (Versorgungsbezüge), die dem inländischen Lohnsteuerabzug unterlegen hatten.
- Außerdem erklärte sie Kapitalerträge i. H. v. 4.543 EUR (2014) und 1.476 EUR (2015), die dem inländischen Steuerabzug unterlegen hatten, sowie für 2015 ausländische Kapitalerträge i. H. v. 2.683 EUR, die nicht dem inländischen Steuerabzug unterlegen hatten. Die Klägerin beantragte für beide Streitjahre die Günstigerprüfung nach § 32d Abs. 6 EStG für sämtliche Kapitalerträge.
- Das Finanzamt (FA) lehnte die Durchführung von Einkommensteuerveranlagungen für die Streitjahre ab, da die Festsetzungsfrist abgelaufen sei und keine Pflicht zur Abgabe von Steuererklärungen bestanden habe.
- Die nach erfolglosem Einspruchsverfahren erhobene Klage wies das FG ab.
Entscheidung: Noch keine Festsetzungsverjährung für das Streitjahr 2015
Die Vorinstanz hat nur für das Streitjahr 2014 zu Recht entschieden, dass die Kläger keinen Anspruch auf Durchführung einer Einkommensteuerveranlagung haben, für das Streitjahr 2015 hat das FG einen solchen Anspruch der Kläger zu Unrecht abgelehnt.
Keine Pflicht zur Abgabe einer Steuererklärung bei Günstigerprüfung
Die Vorschrift des § 32d Abs. 5 EStG räumt dem Steuerpflichtigen ein unbefristetes Wahlrecht ein, dessen Ausübbarkeit (nur) durch den Eintritt der Festsetzungsverjährung und den Eintritt der Bestandskraft begrenzt wird. Sie begründet indes keine Pflicht zur Abgabe einer Steuererklärung und kann damit nicht nach § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO den Beginn der Festsetzungsfrist aufschieben. Dem steht auch nicht entgegen, dass die Regelung gedanklich an die Abgabe einer Steuererklärung anknüpft bzw. diese voraussetzt, da nur insoweit die sog. Günstigerprüfung durchgeführt werden kann.
Das mit dem gesetzlichen Eintritt der Festsetzungsverjährung einhergehende Erlöschen des Steueranspruchs nach § 47 AO kann durch einen Antrag des Steuerpflichtigen nach § 32d Abs. 6 EStG daher nicht rückwirkend aufgehoben werden.
Anspruch auf Steuerfestsetzung für Streitjahr 2014 erloschen
Für das Streitjahr 2014 begann die vierjährige Festsetzungsfrist vorliegend nach § 170 Abs. 1 AO bereits mit Ablauf des Jahres 2014, dem Jahr der Entstehung des Steueranspruchs (vgl. § 38 AO i. V. m. § 36 Abs. 1 EStG), und endete dementsprechend mit Ablauf des Jahres 2018. Ein Pflichtveranlagungsfall lag insoweit nicht vor. Denn bis zum Ende der regulären Festsetzungsfrist bestand mangels Vorliegens eines der Tatbestände des § 46 Abs. 2 Nr. 1 bis 7 EStG für das Streitjahr 2014 keine Pflicht zur Abgabe von Steuererklärungen. Insbesondere war kein Fall des § 32d Abs. 3 Satz 1 i. V. m. § 46 Abs. 2 Nr. 1 Alt. 1 EStG gegeben, da die Klägerin im Streitjahr 2014 zusätzlich zu ihren Versorgungsbezügen nur Einkünfte aus Kapitalvermögen bezogen hatte, die der Kapitalertragsteuer unterlegen hatten.
Im Fall einer Antragsveranlagung nach § 46 Abs. 2 Nr. 8 EStG – wie im Streitfall – kommt die Anlaufhemmung nach § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO von vornherein nicht zur Anwendung. Die erst nach Ablauf der Festsetzungsfrist eingereichte Steuererklärung konnte auch angesichts des bei dieser Gelegenheit gestellten Antrags nach § 32d Abs. 6 EStG ebenfalls nicht mehr nachträglich eine rückwirkende Hemmung des Beginns der Festsetzungsfrist nach § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO bewirken.
Für Streitjahr 2015 Festsetzungsfrist nicht abgelaufen
Für das Streitjahr 2015 hat die Vorinstanz hingegen zu Unrecht einen Anspruch der Kläger auf Durchführung einer Einkommensteuerveranlagung zugunsten der Klägerin unter Vornahme der Günstigerprüfung nach § 32d Abs. 6 EStG abgelehnt. Für dieses Jahr begann die Festsetzungsverjährung aufgrund der Anlaufhemmung des § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO erst mit Ablauf des Jahres 2018, da eine Pflicht zur Abgabe der Einkommensteuererklärung bestand.
Eine Pflicht zur Abgabe einer Steuererklärung ergibt sich für solche Einkünfte aus Kapitalvermögen, die dem abgeltenden Steuerabzug nach § 43 Abs. 5 Satz 1 EStG nicht unterlegen haben, nach § 32d Abs. 3 Satz 1 i. V. m. § 46 Abs. 2 Nr. 1 EStG, wenn der Betrag von 410 EUR überschritten wird. Nach den bindenden Feststellungen des FG hat die Klägerin in der Einkommensteuererklärung für 2015 auch ausländische Kapitalerträge i. H. v. 2.683 EUR erklärt, die nicht dem inländischen Steuerabzug unterlegen haben, so dass nach den vorstehenden Ausführungen eine Pflicht zur Veranlagung bestand.
Die Festsetzungsfrist begann insoweit daher nach § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO erst mit Ablauf des Jahres 2018 und endete mit Ablauf des Jahres 2022. Somit erfolgte die Abgabe der Steuererklärung für das Streitjahr 2015 durch die Klägerin am 30.12.2020 rechtzeitig. Im Rahmen der vom FA durchzuführenden Pflichtveranlagung für 2015 ist die von der Klägerin beantragte Günstigerprüfung nach § 32d Abs. 6 EStG ohne weiteres möglich.
Hinweis: Antrag auf Günstigerprüfung kein rückwirkendes Ereignis
Der BFH stellte in seiner Entscheidung auch klar, dass der Antrag auf Günstigerprüfung nach § 32d Abs. 6 EStG selbst kein rückwirkendes Ereignis i. S. d. § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 ist. Gemeint ist hiermit der Fall, dass die tatbestandlichen Voraussetzungen für die Antragstellung nach § 32d Abs. 6 EStG bereits vor Eintritt der Bestandskraft der Steuerfestsetzung vorliegen, also die Hinzurechnung der Kapitalerträge zu den übrigen Einkünften aufgrund der der bestandskräftigen Steuerfestsetzung zugrundeliegenden Besteuerungsgrundlagen zu einer niedrigeren Steuerfestsetzung führt, und es allein an der notwendigen Antragstellung fehlt. Wird der Antrag in diesem Fall nach Eintritt der Bestandskraft erstmals gestellt, ist die Antragstellung nach § 32d Abs. 6 EStG kein Ereignis mit steuerlicher Rückwirkung.
Hiervon abzugrenzen ist jedoch der Fall, dass die Festsetzung der Steuer in einem Änderungsbescheid aufgrund darin berücksichtigter veränderter Besteuerungsgrundlagen dem Steuerpflichtigen nach Eintritt der Bestandskraft erstmals eine erfolgreiche Antragstellung nach § 32d Abs. 6 EStG ermöglicht. In diesem Fall ist nicht allein die Antragstellung, sondern die Steuerfestsetzung in einem Änderungsbescheid das rückwirkende Ereignis, wenn der Änderungsbescheid eine erstmalige erfolgreiche Antragstellung nach § 32d Abs. 6 EStG ermöglicht.
Im Urteilsfall wurde für das Streitjahr 2014 der Antrag auf Günstigerprüfung erstmals nach Eintritt der Bestandskraft gestellt. Die Voraussetzungen für eine Ausübung des Wahlrechts nach § 32d Abs. 6 EStG lagen hier ersichtlich bereits vor Eintritt der Bestandskraft vor. Die Antragstellung selbst ist daher kein rückwirkendes Ereignis i.S.d. § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO. Die besondere Konstellation eines Änderungsbescheids, der die wirksame Stellung eines Antrags nach § 32d Abs. 6 EStG erstmals ermöglicht und als rückwirkendes Ereignis in Betracht käme, lag im Urteilsfall nicht vor.
BFH, Urteil v. 14.5.2025, VI R 17/23; veröffentlicht am 2.10.2025
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