BFH

Anlaufhemmung bei der Festsetzungsfrist für Haftungsbescheide


Anlaufhemmung bei Geschäftsführerhaftung

Aus der Verweisung in § 191 Abs. 3 Satz 1 AO folgt, dass die Anlaufhemmung des § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO auch bei der Inanspruchnahme von Haftungsschuldnern anzuwenden ist, wenn der Haftungsschuldner aufgrund gesetzlicher Pflichten (§§ 34, 35 AO) Steuererklärungen oder Steueranmeldungen für einen Vertretenen abzugeben hat.

Hintergrund: Gesetzliche Regelung

Nach § 191 Abs. 3 Satz 1 AO sind die Vorschriften über die Festsetzungsfrist auf den Erlass von Haftungsbescheiden entsprechend anzuwenden. Die Festsetzungsfrist beträgt nach § 191 Abs. 3 Satz 2 AO bei Steuerhinterziehung 10 Jahre. Sie beginnt grundsätzlich mit Ablauf des Kalenderjahres, in dem der Tatbestand verwirklicht worden ist, an den das Gesetz die Haftungsfolge knüpft. Ist die Steuer, für die gehaftet wird, noch nicht festgesetzt worden, so endet die Festsetzungsfrist für den Haftungsbescheid nicht vor Ablauf der für die Steuerfestsetzung geltenden Festsetzungsfrist; andernfalls gilt § 171 Abs. 10 AO sinngemäß.

Nach § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO beginnt die Festsetzungsfrist, wenn eine Steuererklärung oder eine Steueranmeldung einzureichen oder eine Anzeige zu erstatten ist, mit Ablauf des Kalenderjahres, in dem die Steuererklärung, die Steueranmeldung oder die Anzeige eingereicht wird, spätestens jedoch mit Ablauf des dritten Kalenderjahres, das auf das Kalenderjahr folgt, in dem die Steuer entstanden ist, es sei denn, dass die Festsetzungsfrist nach § 170 Abs. 1 AO später beginnt.

Rechtsfragen

Findet die Anlaufhemmung nach § 191 Abs. 3 Satz 1 i. V. m. § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO auch in solchen Fällen Anwendung, in denen originär der Steuerschuldner (und nicht der Haftungsschuldner) gesetzlich zur Abgabe einer Steuererklärung oder -anmeldung verpflichtet ist und der Haftungsschuldner gemäß seiner Stellung als Vertreter i. S. des § 34 AO dessen steuerliche Pflichten zu erfüllen hat?

Sachverhalt: Haftungsbescheid gegen GmbH-Geschäftsführer wegen vorsätzlich verspäteter Abgabe von Umsatzsteuererklärungen

  • Der Kläger war in den Jahren 2006 bis 2011 Geschäftsführer der X GmbH i. L. Da die X GmbH für diese Jahre keine Steuererklärungen abgegeben hatte, nahm das Finanzamt (FA) Vollschätzungen der Besteuerungsgrundlagen vor.
  • Nach Durchführung einer Betriebsprüfung, die am 30.10.2014 angeordnet worden war und in deren Verlauf die X GmbH Steuererklärungen abgegeben hatte, erließ das FA gegenüber der X GmbH Änderungsbescheide zur Umsatzsteuer für 2006 bis 2011 und zur Körperschaftsteuer für 2010. Zuzüglich einer Umsatzsteuersondervorauszahlung für 2015 ergaben sich erhebliche Abgabenrückstände. Im Jahr 2015 eröffnete das Amtsgericht Z (AG) über das Vermögen der X GmbH das Insolvenzverfahren.
  • Wegen der nicht rechtzeitigen Abgabe der Steuererklärungen nahm das FA den Kläger mit Bescheid vom 13.4.2016 nach § 69 AO für die Abgabenrückstände der X GmbH in Haftung. Haftungszeitraum war die Zeit vom 31.1.2008 bis zum 9.4.2015. Im Verlauf des dagegen geführten Einspruchsverfahrens nahm das FA am 30.10.2017 den Bescheid vom 13.4.2016 nach § 130 Abs. 1 AO zurück. Im Rücknahmebescheid war ausgeführt, dass sich hiermit sich der Einspruch vom 17.5.2016 erledige.
  • Gegen den Kläger wurde am 9.1.2017 ein Strafbefehl erlassen. Nach den Feststellungen im Strafbefehl machte sich der Kläger durch die vorsätzlich verspätete Abgabe von Umsatzsteuererklärungen für die Jahre 2007 bis 2012 der Steuerhinterziehung schuldig.

Mit Bescheid vom 7.5.2018 nahm das FA den Kläger daher erneut für die Steuerrückstände der X GmbH in Haftung, beschränkt auf die Umsatzsteuer 2006 bis 2011 und die Körperschaftsteuer 2010 nebst Solidaritätszuschlag sowie Zinsen nach § 235 AO zur Umsatzsteuer 2011. Der Bescheid war nunmehr auf § 71 AO gestützt. Den dagegen eingelegten Einspruch wies das FA als unbegründet zurück.

FG gibt der Klage teilweise statt

Das FG hob den angefochtenen Haftungsbescheid bzgl. der Umsatzsteuer 2006 auf und wies im Übrigen die Klage ab. Zur Begründung führte das FG aus, grundsätzlich habe der Kläger für die Steuerschulden der X GmbH nach § 191 Abs. 1 Satz 1 i. V. m. § 71 AO in Haftung genommen können. Jedoch sei hinsichtlich der Haftung für die Umsatzsteuer 2006 bei Erlass des Haftungsbescheids vom 7.5.2018 bereits die 10-jährige Festsetzungsfrist abgelaufen gewesen. Trotz fehlender Abgabe von Steuererklärungen sei der Beginn der Festsetzungsfrist nicht nach § 191 Abs. 3 Satz 1 i. V. m. § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO gehemmt gewesen. Der Anlauf der Festsetzungsfrist sei nur gegenüber demjenigen Steuerpflichtigen gehemmt, der gesetzlich verpflichtet sei, eine Steuererklärung abzugeben. Infolgedessen sei die Festsetzungsfrist nicht gegenüber dem Haftungsschuldner gehemmt, wenn der Steuerschuldner nicht die gesetzlich vorgeschriebene Steuererklärung abgebe.

Entscheidung: Kläger haftet auch für die Umsatzsteuer 2016

Der BFH entscheidet, dass die Revision des Finanzamts bezüglich der Haftung für die Umsatzsteuer des Jahres 2006 begründet ist. Der angefochtene Haftungsbescheid vom 7.5.2018 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 6.12.2018 ist insoweit rechtmäßig.

Tatbestand des § 71 AO verwirklicht

Wer eine Steuerhinterziehung oder eine Steuerhehlerei begeht oder an einer solchen Tat teilnimmt, haftet nach § 71 AO für die verkürzten Steuern und die zu Unrecht gewährten Steuervorteile sowie für die Zinsen nach § 235 AO und die Zinsen nach § 233a AO, soweit diese nach § 235 Abs. 4 AO auf die Hinterziehungszinsen angerechnet werden. Der Kläger gehörte zu dem von der Haftungsnorm des § 71 AO erfassten Personenkreis. Er hatte eine Steuerhinterziehung begangen.

Rechtsprechung zur Anlaufhemmung für Haftungsschuldner entsprechend anwendbar

Nach der Rechtsprechung beginnt die Festsetzungsfrist für eine Haftung eines Entrichtungsschuldners, wenn der haftungsbegründende Pflichtenverstoß darin begründet ist, dass eine Steueranmeldung (Entrichtungssteuer) nicht abgegeben wurde, mit Ablauf des Kalenderjahres, in dem die Steueranmeldung eingereicht wird, spätestens jedoch mit Ablauf des dritten Kalenderjahres, das auf das Kalenderjahr folgt, in dem die Steuer entstanden ist (§ 191 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO)

Bislang nicht vollständig geklärt war die Frage, ob die von der Rechtsprechung zur Anlaufhemmung der Festsetzungsfrist für die Haftung von Entrichtungsschuldnern entwickelte Rechtsprechung auch allgemein für Haftungsschuldner i. S. des § 191 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 AO gilt, wenn der Haftungsschuldner aufgrund gesetzlicher Pflichten (§§ 34, 35 AO) Steuererklärungen oder Steueranmeldungen für einen Vertretenen abzugeben hat.

Der erkennende Senat hat in einem Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes ausgeführt, die Rechtsprechung zur Anlaufhemmung der Festsetzungsfrist für die Haftung von Entrichtungsschuldnern sei für Haftungsschuldner entsprechend anwendbar. Der Senat hat erklärt, die Anlaufhemmung nach § 191 Abs. 3 Satz 1 i. V. m. § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO sei trotz der Bestimmung des § 191 Abs. 3 Satz 3 AO zu beachten, wonach die Festsetzungsfrist mit Ablauf des Kalenderjahres beginnt, in dem der Tatbestand verwirklicht worden ist, an den das Gesetz die Haftungsfolge knüpft. Denn die Haftung des GmbH-Geschäftsführers knüpfe an die Nichtabgabe der Steuererklärung für die GmbH an. Die betreffende Pflicht begründe § 34 AO, und zwar im Rahmen eines eigenen Pflichtverhältnisses zur Finanzverwaltung. Die gesetzlichen Vertreter und Geschäftsführer seien Steuerpflichtige i. S. des § 33 Abs. 1 AO kraft eigener steuerrechtlicher Pflichten und nicht kraft abgeleiteter Pflichten.

Der erkennende Senat hält nach erneuter Überprüfung an seiner in dem vorläufigen Rechtsschutzverfahren wegen der Aussetzung der Vollziehung geäußerten Rechtsauffassung fest.

Keine Festsetzungsverjährung eingetreten

Im Streitfall war für die Umsatzsteuer 2006 damit keine Festsetzungsverjährung eingetreten. Da der Kläger als Geschäftsführer erst im Verlauf der am 30.10.2014 angeordneten Betriebsprüfung die Steuererklärungen für die X GmbH für das Jahr 2006 abgegeben hatte, begann die Festsetzungsfrist – unter Berücksichtigung der Anlaufhemmung nach § 191 Abs. 3 Satz 1 i. V. m. § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO – mit Ablauf des Kalenderjahres 2009 und endete nach § 191 Abs. 3 Satz 2 AO mit Ablauf des 31.12.2019, da es sich um einen Fall des § 71 AO handelte. Der Haftungsbescheid vom 7.5.2018 erging damit innerhalb der Verjährungsfrist.

Hinweis: Keine Rechtswidrigkeit des Haftungsbescheids wegen Vertrauensschutz

Der streitgegenständliche Haftungsbescheid war wegen der Haftung für die Umsatzsteuer 2006 nicht wegen eines entgegenstehenden Vertrauensschutzes des Klägers rechtswidrig. Aus dem Rücknahmebescheid vom 30.10.2017, der das Einspruchsverfahren gegen den Haftungsbescheid vom 13.4.2016 beendete, ist im Urteilsfall kein Vertrauensschutz hinsichtlich des angefochtenen Haftungsbescheids vom 7.5.2018 abzuleiten. Nach Aufhebung eines vorangegangenen Haftungsbescheids bestehen Einschränkungen für den Neuerlass eines Haftungsbescheids nach § 130 Abs. 2 AO beziehungsweise nach den Grundsätzen von Treu und Glauben insoweit nicht, als der aufgehobene und der erneute Haftungsbescheid nicht denselben Sachverhalt betreffen. Das ist insbesondere der Fall, wenn die Inanspruchnahme auf einer anderen Haftungsnorm beruht.

BFH, Urteil v. 18.3.2025, VII R 20/23; veröffentlicht am 7.8.2025

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