Rz. 396

Die Rechtfertigung zur Übernahme von Schulden ergibt sich abstrakt aus der Rettung der Unterkunft für den Leistungsberechtigten. Die Rechtfertigung muss als Tatbestandsmerkmal erfüllt sein, bevor das Jobcenter über die Erbringung von Leistungen nach Abs. 8 entscheidet. Bei der Rechtfertigung handelt es sich um einen gerichtlich voll überprüfbaren unbestimmten Rechtsbegriff. Zu beachten sind aber 2 Perspektiven. Die Schuldenübernahme muss zur Sicherung der Unterkunft geeignet sein, das ist nicht der Fall, wenn wiederholt absichtlich keine Miete gezahlt wird. Einerseits ist die Schuldenübernahme nur gerechtfertigt, wenn der Schuldner geeignete Maßnahmen ergreift, um eine zukünftige erneute Notlage zu vermeiden (Wahrnehmung von gegebenen Selbsthilfemöglichkeiten). Das kann z. B. durch Inanspruchnahme von Beratung und Betreuung, aber auch Hilfestellung bei finanziell wirksamen Transaktionen geschehen, soweit nicht ohnehin die Überweisung von Leistungen unmittelbar an den Gläubiger realisiert wird. Der Rechtfertigung einer darlehensweisen Übernahme von Mietschulden steht nicht stets entgegen, dass erbrachte Leistungen zweckwidrig verwendet worden sind und es dadurch zu den Schulden gekommen ist. Die Mietschulden eines Leistungsberechtigten nach dem SGB II sind bei der Gefahr eines Wohnungsverlustes auch dann darlehensweise zu übernehmen, wenn der Leistungsberechtigte das Entstehen der Schulden verschuldet hat (LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss v. 3.12.2014, L 19 AS 1909/14 B), etwa durch eine längere Zeit unterbliebene Antragstellung auf Leistungen zum Lebensunterhalt. Bei der Rechtfertigung handele es sich um einen unbestimmten Rechtsbegriff, der wertend unter Berücksichtigung der besonderen Umstände des Einzelfalls auszulegen sei. Eine Rechtfertigung könne z. B. vorliegen, wenn eine krankheitsbedingt notfallähnliche Konfliktsituation vorgelegen hat, und in dieser Situation Leistungen für Unterkunft und Heizung zum Kauf von Medikamenten verwendet wurden (LSG Hessen, Beschluss v. 17.5.2013, L 9 AS 247/13 B ER, unter Hinweis auf den Beschluss des BVerfG v. 6.12.2006, 1 BvL 347/98). Das ergebe sich u. a. aus dem Sozialstaatsprinzip (anders LSG Baden-Württemberg zu Mietschulden über mehr als 20.000,00 EUR, Beschluss v. 13.3.2013, L 2 AS 842/13 ER-B). Begrifflich setze Missbrauch neben dem objektiv fehlenden Rechtsgrund subjektiv das Wissen und Wollen dieser fehlenden Berechtigung zumindest in Form des billigenden Inkaufnehmens voraus. Leistungsmissbrauch grenze sich durch das Bewusstsein, Leistungen zumindest teilweise zu Unrecht zu beziehen, von bloßen Überzahlungen ab, die nur durch fahrlässiges Verhalten verursacht worden seien. Ein nicht gerechtfertigtes Verhalten i. S. d. Vorschrift könne nur anerkannt werden, wenn es der betroffenen Person zumutbar gewesen sei, sich anders zu verhalten. Bei der Bewilligung eines Darlehens zur Deckung aufgelaufener Mietschulden tritt auch ein wirtschaftlich unvernünftiges und vorwerfbares Verhalten des Hilfebedürftigen regelmäßig zurück. Etwas anderes gilt jedoch in Missbrauchsfällen. Hiervon kann bei zumindest bedingt vorsätzlicher Herbeiführung von Rückständen für Unterkunftskosten auszugehen sein, insbesondere wenn es trotz entsprechender Unterstützung in der Vergangenheit wiederholt zu Rückständen gekommen und kein Selbsthilfewillen zu erkennen ist (LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss v. 21.3.2023, L 6 AS 90/23 B ER).

 

Rz. 396a

Gleichwohl müssten dem LSG Hessen zufolge die materiellen Voraussetzungen für eine fristlose Kündigung des Mietvertrages vorliegen. Für das LSG Berlin-Brandenburg kommt es bei der Prüfung des Tatbestandes des Abs. 8 nicht darauf an, ob der Leistungsberechtigte wirtschaftlich unvernünftig gehandelt hat (LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss v. 29.11.2016, L 9 AS 2282/16 B ER). Andererseits hat der kommunale Träger bzw. die gemeinsame Einrichtung stets auch die fiskalische Komponente zu bedenken. Es kann sich für ihn/sie durchaus als effizienter darstellen, lediglich eine Wohnung zu sichern als unter Umständen kurze Zeit später den gesamten Lebensbedarf einer Bedarfsgemeinschaft. Insoweit ist auch die objektive Eignung der Schuldenübernahme relevant. Ein gewährtes Mietschuldendarlehen darf nur von dem Leistungsträger (auch aus solchen Erwägungen heraus) erlassen werden, der Inhaber des Rückzahlungsanspruches ist, nicht ein nach einem Umzug zuständig gewordener Leistungsträger (vgl. LSG Baden-Württemberg, Urteil v. 21.5.2014, L 3 AS 2383/13).

Folgekosten für Obdachlosigkeit lassen die Übernahme von Mietschulden nicht als gerechtfertigt erscheinen, da die Rechtmäßigkeit eines Bescheides von der Erfüllung der Tatbestandsvoraussetzungen der Norm abhängt und nicht davon, ob der Bescheid sich für die Staatskasse als wirtschaftlich sinnvoll erweist (LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss v. 23.8.2023, L 31 AS 627/23 B ER).

2.11.6.1 Selbsthilfe

 

Rz. 397

Voraussetzung für Leistungen nach Abs. 8 ist ferner, dass der Leistungsberechtigte nach dem Nachranggrundsatz die Notlage nicht selbst...

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