Entscheidungsstichwort (Thema)

Sozialhilfe. Mehrbedarf wegen erheblicher Gehbehinderung. keine rückwirkende Bewilligung trotz rückwirkender Feststellung des Merkzeichens G. Vorliegen eines Feststellungsbescheides oder eines Schwerbehindertenausweises als Anspruchsvoraussetzung. Verfassungsmäßigkeit

 

Leitsatz (amtlich)

Eine rückwirkende Zuerkennung des Merkzeichens "G" bewirkt keinen Anspruch auf ebenfalls rückwirkende Erbringung des Mehrbedarfszuschlags nach § 30 Abs 1 Nr 2 SGB 12. Der Anspruch auf den Zuschlag entsteht vielmehr erst dann, wenn die Feststellung des Merkzeichens "G" nachgewiesen ist. Die ab 7.12.2006 geltende Neufassung der Norm erweitert lediglich die Nachweismöglichkeit, indem der Nachweis nunmehr nicht nur durch den Ausweis nach § 69 Abs 5 SGB 9, sondern auch durch den (in der Regel zeitlich früher erteilten) Bescheid nach § 69 Abs 4 SGB 9 geführt werden kann; sie erlaubt hingegen (ebenso wie die zuvor geltende Normfassung) keine rückwirkende Gewährung des Zuschlages für Zeiten vor Erbringung des Nachweises.

 

Orientierungssatz

1. Nach der bis zum 6.12.2006 geltenden Fassung des § 30 Abs 1 SGB 12 war für das Entstehen des Anspruches auf Mehrbedarfszuschlag wegen Schwerbehinderung unter Rekurs auf § 40 Abs 1 SGB 1 allein auf den Zeitpunkt des Besitzes des Schwerbehindertenausweises mit dem eingetragenen Merkzeichen "G" (sowie die Vorlage dieses Ausweises bei dem zuständigen Träger der Sozialhilfe) abzustellen; es kam nicht darauf an, auf welchen ggf zurückliegenden Zeitpunkt das Vorliegen der Voraussetzungen für den Nachteilsausgleich festgelegt war.

2. Verfassungsrechtliche Bedenken gegen die oben genannte Auslegung des § 30 Abs 1 SGB 12 ergeben sich weder aus dem allgemeinen Gleichheitssatz nach Art 3 Abs 1 GG noch aus dem Gebot des effektiven Rechtsschutzes nach Art 19 Abs 4 GG. Ein individueller Mehrbedarf kann im Einzelfall durch abweichende Bedarfsbemessung nach § 27a Abs 4 S 1 SGB 12 berücksichtigt werden (vgl BSG vom 10.11.2011 - B 8 SO 12/10 R = SozR 4-3500 § 30 Nr 4).

 

Normenkette

SGB I § 40 Abs. 1; SGB IX § 69 Abs. 4-5; SGB XII § 27a Abs. 4 S. 1, § 30 Abs. 1 Nr. 2; GG Art. 3 Abs. 1, Art. 19 Abs. 4

 

Tenor

Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 17.10.2012 geändert und die Klage abgewiesen. Die Berufung der Klägerin wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind in beiden Rechtszügen nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Die Klägerin begehrt von der Beklagten die Gewährung eines Mehrbedarfszuschlages für schwerbehinderte Menschen nach § 30 Abs. 1 SGB XII für den Zeitraum vom 28.07.2008 bis zum 08.12.2008.

Die am 00.00.1944 geborene Klägerin bezieht von der Beklagten seit November 2007 laufend Leistungen nach dem SGB XII. Zunächst erhielt sie Leistungen nach dem Dritten Kapitel SGB XII, inzwischen nach dem Vierten Kapitel SGB XII.

Vom Versorgungsamt war ihr zuletzt ein Grad der Behinderung (GdB) von 50 (ohne Merkzeichen) zuerkannt worden. Mit Schreiben vom 27.07.2008 beantragte die Klägerin bei der (auch insoweit inzwischen zuständigen) Beklagten - Fachbereich für Hilfen für Menschen mit Behinderungen und Unterhaltssicherung - eine Erhöhung des GdB und die Zuerkennung des Merkzeichens "G" (Antragseingang 11.08.2008). Die Beklagte stellte zunächst einen GdB von 60 fest, lehnte aber die Zuerkennung des Merkzeichens "G" ab (Bescheid vom 15.09.2008). Im Widerspruchsverfahren erkannte sie dann rückwirkend zum 27.07.2008 auch das Vorliegen der Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens "G" an (Abhilfebescheid vom 09.12.2008).

Bereits mit Schreiben vom 28.07.2008 (Eingang bei der Beklagten am 08.08.2008) beantragte die Klägerin unter Hinweis auf ihren Änderungsantrag in der Schwerbehindertenangelegenheit die Gewährung eines Mehrbedarfszuschlages wegen Schwerbehinderung "ab dem 01.08.2008". Den Abhilfebescheid vom 09.12.2008 reichte sie beim Fachbereich für Soziales, Senioren und Wohnen der Beklagten am 01.01.2009 ein.

Den Antrag lehnte die Beklagte zunächst ab (Bescheid vom 02.01.2009). Die Voraussetzungen des § 30 Abs. 1 Nr. 2 SGB XII seien nicht erfüllt, weil die Schwerbehinderung (GdB 60) nicht mit einer vollen Erwerbsminderung nach dem SGB VI gleichzusetzen sei. Ggf. könne bei Feststellung des Merkzeichens "G" ab Vollendung des 65. Lebensjahres der Klägerin ein Mehrbedarfszuschlag nach § 30 Abs. 1 Nr. 1 SGB XII gewährt werden. Auf den Widerspruch der Klägerin hob die Beklagte den Bescheid vom 02.01.2009 auf, weil noch zu prüfen sei, ob eine volle Erwerbsminderung nach dem SGB VI vorliege (Bescheid vom 27.01.2009). Die Klägerin legte anschließend anforderungsgemäß verschiedene Befundunterlagen über ihren Gesundheitszustand bei der Beklagten vor.

Ein Antrag der Klägerin beim Sozialgericht Düsseldorf auf vorläufige Zuerkennung des Mehrbedarfszuschlages wegen Schwerbehinderung ab dem 01.08.2008 im Wege einstweiliger Anordnung blieb ohne Erfolg (SG Düsseldorf, Beschluss vom 06.05.2009 - S 17 SO 23/09 ER; nachgehend LSG NRW, ...

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