Entscheidungsstichwort (Thema)

Sozialhilfe. Eingliederungshilfe. Heimunterbringung. wesentliche Behinderung. Leistung der Eingliederungshilfe. Zuständigkeit des örtlichen Sozialhilfeträgers im Außenverhältnis gegenüber dem Leistungsberechtigten nach § 14 Abs 2 S 1 SGB 9. Nichtbestehen einer zivilrechtlichen Schuld des Leistungsberechtigten gegenüber dem Leistungserbringer. Anwendbarkeit der Regelungen der Geschäftsführung ohne Auftrag. Verjährungseinrede. Treuwidrigkeit

 

Orientierungssatz

1. Für die Wesentlichkeit einer Behinderung iS des § 53 Abs 1 S 1 SGB 12 ist nicht die Stärke der Beeinträchtigung als solche bzw der Umfang des Funktionsdefizits entscheidend, sondern die Auswirkung der Beeinträchtigung auf die Eingliederung in die Gesellschaft (vgl BSG vom 15.11.2012 - B 8 SO 10/11 R = BSGE 112, 196 = SozR 4-3500 § 54 Nr 10, RdNr 14).

2. Eine Leistung der Eingliederungshilfe liegt vor, wenn deren Ziele (vgl § 53 Abs 3 SGB 12) mit der begehrten Maßnahme erreicht werden können; dabei ist ein individueller, personenzentrierter Maßstab anzulegen.

3. Nach § 14 Abs 3 SGB 9 können die Rechtsfolgen der Absätze 1 und 2 der Regelung auch dann eintreten, wenn (ohne vorherigen Antrag) von Amts wegen über einen Anspruch auf Rehabilitationsleistungen entschieden wurde.

4. In Fällen, in denen eine wirksame zivilrechtliche Vereinbarung zwischen Leistungsberechtigtem und Leistungserbringer fehlt, sind die Regelungen der Geschäftsführung ohne Auftrag anwendbar.

5. Verlangt der Leistungsberechtigte rechtzeitig Sozialhilfe und kann er seine zivilrechtliche Verpflichtung gegenüber dem Leistungserbringer nur deshalb nicht erfüllen, weil der Leistungsträger die Hilfeleistung rechtswidrig verweigert, verbietet es die Rechtzeitigkeit der Klage auf Schuldbeitritt dem Sozialhilfeträger, sich selbst auf Verjährung zu berufen bzw dies vom Leistungsberechtigten als zumutbare Selbsthilfe zu verlangen.

 

Normenkette

SGB XII § 13 Abs. 2, § 19 Abs. 3, § 53 Abs. 1 Sätze 1-2, Abs. 3 Sätze 1-2, § 54 Abs. 1 S. 1, §§ 75, 82, 90, 97 Abs. 1, 2 S. 1; SGB IX § 2 Abs. 1 S. 1, § 14 Abs. 1 Sätze 1-2, Abs. 2 S. 1, Abs. 3 S. 1, § 55 Abs. 1-2; BGB § 104 Nr. 2, § 105 Abs. 1, §§ 195, 242, 677, 683; BSHG § 3 Nr. 3; SGB XII AGAV NW § 2 Abs. 1 Nr. 1b; SGG §§ 54, 56, 71 Abs. 1, § 72 Abs. 1, § 75 Abs. 5, §§ 95, 99, 106 Abs. 3, § 110 Abs. 1, §§ 126, 130, 159 Abs. 1

 

Nachgehend

BSG (Urteil vom 13.07.2017; Aktenzeichen B 8 SO 1/16 R)

 

Tenor

Auf die Berufung des Beigeladenen zu 1 wird das Urteil des Sozialgerichts Münster vom 07.03.2012 geändert. Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 08.06.2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 08.11.2005 verurteilt, dem Kläger Eingliederungshilfe für den Monat November 2005 in Höhe von 902,95 EUR und für den Monat Januar 2006 in Höhe von 934,95 EUR zu leisten.

Die Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers für beide Rechtszüge. Im Übrigen findet eine Kostenerstattung nicht statt.

Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand

Der Kläger begehrt die Übernahme der Kosten für seine Unterbringung in einer vom Beigeladenen zu 2 getragenen Einrichtung der Nichtsesshaftenhilfe. Im Anschluss an einen Teilunterwerfungsvergleich im Berufungsverfahren stehen noch Leistungen für die Monate November 2005 und Januar 2006 im Streit.

Der Kläger wurde am 00.00.1933 in F geboren. Er ist alleinstehend. Jedenfalls seit Juli 2005 und auch zuvor schon seit langem besteht bei ihm eine psychische Störung mit Verhaltensstörung durch ständigen Gebrauch von Alkohol sowie Tabakabhängigkeit, ein leichtes amnestisches Syndrom aufgrund langjähriger Alkoholeinwirkung, ferner eine kombinierte Persönlichkeitsstörung. Daneben leidet er an beidseitiger Unterschenkelvarikosis, wiederkehrenden Lendenwirbelsäulenbeschwerden bei massiver Kyphoskoliose, allergischem Ekzem, Polyarthritis und einer Leistenhernie rechts. Eine gesetzliche Betreuung wurde bisher nie eingerichtet.

Seit September 2002 bezieht der Kläger von der Deutschen Rentenversicherung (DRV) Westfalen (vormals Landesversicherungsanstalt (LVA) Westfalen) eine Regelaltersrente (Stand November 2005 und Januar 2006 - ebenso wie im Dezember 2004 - 98,97 EUR netto). Die Rente wurde von Beginn an auf ein Konto des Beigeladenen zu 2 gezahlt; der Kläger selbst besitzt kein Bankkonto.

Der Kläger wuchs bei seiner Großmutter bzw. in einem Kinderheim auf und besuchte von 1940 bis 1948 die Volksschule in F. Nach Abbruch einer Ausbildung zum Dreher übte er zwischen 1951 und 1965 verschiedene Aushilfstätigkeiten aus. Infolge psycho-sozialer Schwierigkeiten und eines bereits damals exzessiven Alkoholkonsums wurde er 1965 erstmals wohnungslos. Bis 1982 war er Gelegenheitsarbeiter und lebte in Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe. Von 1982 bis 1992 lebte er in Mietwohnungen in F, wo er auch gemeldet war.

Am 01.04.1992 wurde der Kläger in das "Haus N W" in S (Kreis C) - im Folgenden "N W" - aufgenommen. Dessen Träger ist der Beigeladene zu 2. Der Einrichtung ist - organisatorisch und juristisch g...

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