Entscheidungsstichwort (Thema)

Eingliederungshilfe. Menschen mit Behinderungen und Pflegebedarf. häusliche Pflege. Pflegegeld. eigene Sicherstellung der erforderlichen Pflege. zusätzlicher Pflegebedarf bei bereits gewährter 24-Stunden-Pflege

 

Leitsatz (amtlich)

Zu den Voraussetzungen für die Gewährung eines anteiligen (gekürzten) Pflegegeldes nach §§ 99, 103 Abs 2 SGB IX iVm §§ 64a Abs 1, 63b Abs 5 SGB XII bei einer bereits gewährten "24-Stunden-Pflege" bzw "24-Stunden-Assistenz".

 

Orientierungssatz

Bei den in § 103 Abs 2 SGB 9 2018 genannten und als Eingliederungshilfeleistung zu erbringenden Leistungen der häuslichen Pflege entfällt die Bedürftigkeitsprüfung nach dem SGB 12.

 

Tenor

Auf die Berufung der Klägerin werden das Urteil des Sozialgerichts Mannheim vom 17. November 2020 und der Bescheid der Beklagten vom 11. Februar 2020 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 1. April 2020 aufgehoben. Die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin ab 1. Januar 2020 ein anteiliges Pflegegeld in Höhe von 243,00 € monatlich zu gewähren.

Die Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten der Klägerin in beiden Rechtszügen zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Streitig ist die Gewährung anteiligen (gekürzten) Pflegegeldes ab 1. Januar 2020.

Die 1982 geborene Klägerin ist schwerbehindert und als Sozialarbeiterin berufstätig. 2019 ohne den Monat Mai erzielte die Klägerin aus ihrer Beschäftigung ein Nettoeinkommen in Höhe von 21.055,86 €, 2020 in Höhe von 24.891,80 €, 2021 in Höhe von 26.229,21 € und 2022 in Höhe von 29.179,82 €. Bei ihr liegt eine beinbetonte spastische tetraplegische Cerebralparese, eine ausgeprägte Gang- und Standstörung, eine psychophysische Belastbarkeitsminderung und eine Inaktivitätsosteoporose vor. Bei insuffizienter Atemhilfsmuskulatur erfolgt seit April 2018 eine nächtliche CPAP-Beatmung. Dabei ist die Klägerin aufgrund der motorischen Einschränkungen nicht bzw. nur eingeschränkt in der Lage, das Beatmungsgerät zu bedienen. Zur Sicherung der Vitalfunktion Atmung benötigt sie Behandlungspflege in Interventionsbereitschaft. Sie erhält schon seit längerem zur ambulanten Pflege (Pflegegrad 4) Leistungen der sozialen Pflegeversicherung nach dem Elften Sozialgesetzbuch (SGB XI). Zur Sicherstellung einer Rund-um-die-Uhr-Assistenz werden diese von der Beklagten (im Rahmen der Eingliederungshilfe für behinderte Menschen) ergänzt.

Den Antrag der Klägerin vom 13. Oktober 2018 auf Gewährung eines anteiligen Pflegegeldes gemäß § 63b Abs. 5 Zwölftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) für die Zeit ab dem 1. Januar 2019 lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 16. September 2019 ab. Da die Klägerin (nur) Leistungen der Eingliederungshilfe erhalte, bestehe kein Anspruch auf Hilfe zur Pflege nach § 64a SGB XII. Somit komme auch die Zahlung eines (gekürzten) Pflegegeldes nach § 63b SGB XII nicht in Betracht, da keine Leistungskonkurrenz im Rahmen der Hilfe zur Pflege vorliege. Schließlich sei der Klägerin im Rahmen einer Einzelfallentscheidung für die Zeit vom 1. April 2013 bis 31. Dezember 2018 ein persönliches Budget zum Ausgleich gewährt worden (zuletzt monatlich 243,00 €). Damit der Klägerin im Vergleich zum pauschalierten Pflegegeld kein erhöhter Verwaltungsaufwand entstehe, sei davon abgesehen worden, für das persönliche Budget Verwendungsnachweise zu fordern. Damit bestehe kein zusätzlicher Anspruch auf Zahlung eines (gekürzten) Pflegegeldes.

Hiergegen erhob die Klägerin am 7. Oktober 2019 Widerspruch. Aufgrund ihrer Behinderung benötige sie zur selbstständigen Lebensführung rund um die Uhr eine professionelle pflegerische Betreuung. Da die hiermit verbundenen Kosten über die Sachleistungen der gesetzlichen Pflegeversicherung hinausgingen und sie nicht in der Lage sei, die Differenz aus eigenen Mitteln aufzubringen, habe sie Anspruch auf Leistungen der Hilfe zur Pflege nach dem Siebten Kapitel des SGB XII und zugleich auch auf Leistungen der Eingliederungshilfe nach dem Sechsten Kapitel des SGB XII. Vor diesem Hintergrund sei es nicht nachvollziehbar, dass die Beklagte davon ausgehe, dass keine Anspruchskonkurrenz zwischen den Leistungen der Eingliederungshilfe und der Hilfe zur Pflege vorliege. Deshalb beanspruche sie im Rahmen einer gebundenen Entscheidung ein (gekürztes) Pflegegeld in Höhe von mindestens einem Drittel des Pflegegeldes der gesetzlichen Pflegeversicherung. Dies ergäbe sich aus § 64a i.V.m. § 63b Abs. 5 SGB XII. Die Beklagte könne nicht frei wählen, ob sie Eingliederungshilfe oder Hilfe zur Pflege erhalte. Im Übrigen erkenne die Beklagte den pflegerischen Hilfebedarf im Grunde genommen auch an, wenn sie die von ihr als „Eingliederungshilfe“ bezeichnete Leistung nur erbringe, soweit diese nicht durch Sachleistungen der gesetzlichen Pflegeversicherung gedeckt werde. Nach einhelliger, seit beinahe zwei Jahrzehnten gefestigter Rechtsprechung zur Vorgängerregelung und der §§ 64a und 63b Abs. 5 SGB XII, welche ohne Weiteres auf die aktuelle Rechtslage zu übertragen sei, bestehe der Anspruch auf (...

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