Rz. 5

Mit Satz 1 werden soziale Gerechtigkeit und soziale Sicherheit, als verbindliche Grundlagen des Sozialrechts hervorgehoben, zu dessen Verwirklichung das SGB Sozialleistungen einschließlich sozialer und erzieherischer Hilfen gestalten soll. Die Formulierung "gestalten" soll wohl verdeutlichen, dass der Gesetzgeber die Sozialrechtsordnung nicht als zufälliges Ergebnis heterogener Regelungen, sondern als Verwirklichung bestimmter sozialpolitischer Vorstellungen versteht und verstanden wissen will (BT-Drs. 7/868 S. 21). Im Streben nach einer gerechten Gesellschaftsordnung (so BT-Drs. 7/868 S. 22) und zusammen mit den in der Überschrift genannten "Aufgaben des SGB" wird hervorgehoben, dass dieses Ziel des SGB kein abgeschlossener Prozess, sondern auch die Leitidee für künftige Rechtsänderungen sein soll. Dem entspricht, dass das Sozialstaatsprinzip des Grundgesetzes (Art. 20 Abs. 1, Art. 28 Abs. 1 GG) selbst keine konkrete Verpflichtung für die Umsetzung dieses Gebotes enthält, wohl aber im Falle der Umsetzung in einem Gesetz erfordern kann, dass die Ausgestaltung schlüssig und nachvollziehbar ist (vgl. z. B. BVerfG, Urteil v. 9.2.2010, 1 BvL 1/09 u. a. zu den Regelsätzen des SGB II).

 

Rz. 6

Die Begriffe "soziale Gerechtigkeit" und "soziale Sicherheit" sind in ihren Konturen unscharf. Im Bereich des Sozialrechts hat die Verwirklichung und Konkretisierung sowohl der sozialen Gerechtigkeit als auch der sozialen Sicherheit durch die Sozialgesetzbücher zu erfolgen. Eine Definition des Sozialrechts enthält das Gesetz nicht, so dass durchaus streitig sein kann, ob ein Gesetz dem Sozialgesetzbuch unmittelbar zuzurechnen ist oder diesem (über § 68) nur zugeordnet wird. Auch der Begriff des "Sozialrechts" wird in der Vorschrift nicht konkretisiert.

 

Rz. 7

Soziale Gerechtigkeit verlangt als Ziel zwar nicht die größtmögliche Gleichheit oder die gleichen Verhältnisse aller in der Gesellschaft, aber doch das Bestreben, übermäßig große soziale Unterschiede untereinander zu vermeiden. Dazu zählt auch, den Einzelnen nicht übermäßig zu belasten, denn soziale Gerechtigkeit ist nur über den Weg der Umverteilung zu erreichen, so dass Solidarität ein soziale Gerechtigkeit prägender Begriff ist. Der sozialen Gerechtigkeit kann man auch das Ziel der Vermeidung von Ungleichbehandlung bei der Schaffung sozialrechtlicher Regelungen zuordnen. Es ist allerdings dem Gesetzgeber überlassen, in welcher zeitlichen Reihenfolge er gleichen oder ähnlichen Zielen und Zwecken dienende soziale Leistungen vereinheitlicht und/oder verbessert (vgl. BVerfG, Beschluss v. 18.6.1975, 1 BvL 4/74).

 

Rz. 8

Unter sozialer Sicherheit ist in erster Linie der Bereich des Sozialversicherungsrechts zu verstehen, der den Einzelnen gegen die Wechselfälle des Lebens durch die Absicherung bestimmter Risiken schützt, indem die entstehenden Kosten und/oder finanzielle Ausgleichsleistungen durch einen Sozialleistungsträger erbracht werden, der die erforderlichen Mittel durch umlagefinanzierte zweckgebundene Beiträge erhält. Dazu gehören die Kranken-, Pflege-, Unfall- und Rentenversicherung (vgl. § 4 und Komm. dort) sowie die Arbeitslosenversicherung. Der sozialen Sicherheit dient aber auch das Sozialhilferecht, dessen Aufgabe es ist, den Leistungsberechtigten die Führung eines Lebens zu ermöglichen, das der Würde des Menschen entspricht (so § 1 SGB XII). Auch die Grundsicherung für Arbeitslose, die die gleiche Aufgabe hat, gehört zum Bereich der sozialen Sicherheit, auch wenn die Grundsicherung für Arbeitsuchende das Ziel hat, die Eigenverantwortung von erwerbsfähigen Hilfebedürftigen und Personen, die mit ihnen in einer Bedarfsgemeinschaft leben, zu stärken und dazu beizutragen, dass sie ihren Lebensunterhalt unabhängig von der Grundsicherung aus eigenen Mitteln und Kräften bestreiten können (§ 1 Abs. 1 Satz 1 SGB II). Zur sozialen Sicherheit gehört sicherlich auch der Aspekt des Bestandes und Fortbestandes des geltenden Sozialrechts. Dies bedeutet allerdings nicht, dass nicht auch einschränkende Änderungen insgesamt oder in den bestehenden Sozialleistungen möglich wären (z. B. die Ersetzung der Arbeitslosenhilfe durch die Grundsicherung nach dem SGB II; vgl. BSG, Urteil v. 23.11.2006, B 11b AS 1/06 R), weil sonst das Sozialrecht erstarren und an Grenzen der Finanzierbarkeit stoßen würde.

 

Rz. 9

Soziale Gerechtigkeit und soziale Sicherheit sind ansonsten keine getrennt nebeneinander stehenden Begriffe, sondern stehen in Wechselbeziehung und sollen sich im Recht des Sozialgesetzbuches auch bei den Sozialleistungen ergänzen. Daher beinhaltet das Recht des Sozialgesetzbuches auch die Einführung neuer Sozialleistungen und deren Finanzierung durch Beiträge und kann insoweit auch die Handlungsfreiheit des Einzelnen einschränken; auch z. B. durch die sozialgesetzlich geregelte Verpflichtung zum Abschluss von privatrechtlichen Verträgen (vgl. BVerfG, Urteil v. 3.4.2001, 1 BvR 81/98 zur Pflegeversicherungspflicht bei privater Krankenversicherung) oder in anderen Gesetzen (z. B. § 193 ...

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