Rz. 45

Absatz 5 regelt einen Aufwendungsersatz für den Fall, in dem Sozialhilfe geleistet worden ist, obwohl die Deckung des Bedarfs aus eigenem Einkommen und Vermögen möglich bzw. zumutbar war. Die Hilfe wird als erweiterte Hilfe bezeichnet. Die Vorschrift betrifft sowohl die Hilfe zum Lebensunterhalt (Abs. 1) als auch die Grundsicherung (Abs. 2) und die besonderen Hilfen des Abs. 3. Insofern fasst sie die früher getrennten Vorschriften in § 11 Abs. 2 und § 29 BSHG zusammen.

 

Rz. 46

Nach früherem Recht war ausdrücklich geregelt, dass über die von § 11 Abs. 1 und § 28 BSHG (heute: Abs. 1 bis 3) erfassten Fälle hinaus in begründeten Fällen auch insoweit Sozialhilfe gewährt werden konnte, als den jeweils genannten Personen die Aufbringung der Mittel aus dem Einkommen oder Vermögen möglich bzw. zumutbar war (Anspruch auf sog. Mehrbedarf). An einer solchen ausdrücklichen Bestimmung bzw. an der Erwähnung von "begründeten Fällen" fehlt es bei § 19. Sie wird jedoch überwiegend vorausgesetzt, weil die Regelung des Abs. 5 andernfalls keinen Sinn ergäbe.

 

Rz. 47

Dass der Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung über die Leistung von Sozialhilfe nicht mehr eindeutig im Gesetz geregelt ist, bedeutet nicht, dass ein solcher Anspruch vom Gesetzgeber nicht mehr gewollt ist. Vielmehr gebieten es schon die an der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) und dem Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1 GG) orientierten Grundlagen der Sozialhilfe, den notwendigen Lebensbedarf des Hilfesuchenden auch in solchen Fällen zu decken und erst im Nachhinein Ersatz zu suchen. Dass der Gesetzgeber eine gesonderte Regelung nicht mehr für erforderlich hielt, mag auch dem Umstand zu verdanken sein, dass die Sozialhilfeträger von der Möglichkeit der Mehrleistung aus Praktikabilitätserwägungen in weitem Umfang Gebrauch gemacht haben, ohne jeweils detaillierte, einzelfallbezogene Ermessenserwägungen anzustellen und insbesondere die Einwilligung des Leistungsempfängers einzuholen (vgl. zur Kritik daran aus rechtssystematischen Gründen und wegen der damit verbundenen Entmündigung des Leistungsberechtigten das Gutachten des Deutschen Vereins, NDV 1994, 36).

 

Rz. 48

Da sich kein Hilfebedürftiger Sozialhilfe gegen seinen Willen aufdrängen zu lassen braucht (vgl. Komm. zu § 18), ist die Leistung über den nach Abs. 1 bis 3 anzuerkennenden Bedarf hinaus immer von seinem Einverständnis abhängig, das allerdings – vor allem im Notfall – auch konkludent oder in Gestalt einer mutmaßlichen Einwilligung vorliegen kann.

 

Rz. 49

Eine zulässige erweiterte Hilfe nach Abs. 5 setzt einen sachlichen Grund voraus, der i. d. R. darin bestehen wird, dass ein Bedarf besteht, der nach den Umständen des Einzelfalles dringend gedeckt werden muss. Die Vorschrift erlangt vor diesem Hintergrund praktische Bedeutung vor allem in folgenden Fallgruppen:

  • Die praktisch wichtigste ist diejenige, dass der Hilfebedürftige auf die Leistung eines Dritten (z. B. die Aufnahme in einem Altenwohnheim oder die Gewährung von Krankenhilfe) angewiesen ist, der Dritte (Heim- oder Krankenhausträger) zu dieser Leistung jedoch nur dann bereit ist, wenn der Sozialhilfeträger die vollen Kosten hierfür übernimmt (vgl. SG Hamburg, Urteil v. 29.8.2008, S 56 SO 339/06).
  • Eine gleiche Problematik liegt vor, wenn ein akuter Leistungsbedarf gedeckt werden muss (insbesondere im Notfall, wenn die Kenntnis des Sozialhilfeträgers besteht und daher kein Fall des § 25 mehr vorliegt) und das einzusetzende Einkommen bzw. Vermögen nicht in der erforderlichen Geschwindigkeit ermittelt werden kann.
  • Ein dringend zu deckender Bedarf liegt auch dann vor, wenn ein einstandspflichtiges Mitglied der Einstandsgemeinschaft seiner Verpflichtung zur (teilweisen) Deckung des Bedarfs des Hilfebedürftigen nicht nachkommt, z. B. sich weigert zu leisten. Betroffen ist auch der Fall, dass unklare Einkommens- und Vermögensverhältnisse vorherrschen (BSG, Urteil v. 6.12.2018, B 8 SO 2/17 R Rz. 18).
  • Ferner hat das BSG einen Anwendungsfall des Abs. 5 im Falle eines unter Betreuung stehenden Leistungsberechtigten angenommen, wenn die fehlende Bereitschaft, vertrauensvoll mit dem Betreuer zusammenzuarbeiten, Ausdruck der Erkrankung des Betroffenen ist (BSG, Beschluss v. 27.7.2021, B 8 SO 10/19 R Rz. 11).
 

Rz. 49a

In allen diesen Fällen leistet der Sozialhilfeträger nach dem sogenannten Bruttoprinzip, obwohl die Sozialhilfe an und für sich vom Nettoprinzip (Sozialhilfe gleich Bedarf minus Einkommen/Vermögen) beherrscht wird.

 

Rz. 50

Nur wenn sich die Leistung nach Maßgabe dieser Grundsätze als rechtmäßig erweist, liegt ein Anwendungsfall des Abs. 5 vor. Erbringt der Sozialhilfeträger dagegen eine Leistung, obwohl weder die Voraussetzungen nach Abs. 1 bis 3 noch diejenigen der Mehrleistung vorliegen, so kann er sich zur Begründung eines etwaigen Erstattungsanspruchs nicht auf Abs. 5 berufen. Vielmehr liegt in diesem Fall eine rechtswidrige Bewilligung vor, von der er sich nur nach Maßgabe des § 45 SGB X (ggf. mit der Folge des Erstattungsanspruchs nach § 50 Ab...

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