Rz. 34

Seit einigen Jahren wird verstärkt die strafrechtliche Verantwortlichkeit von Jugendamtsmitarbeitern diskutiert. Dies geschieht in erster Linie mit Blick auf die immer wieder auftretenden Fälle von Kindesmissbrauch, Kindesmisshandlungen und der Vernachlässigung von Kindern. Wie anschließend aufgezeigt wird, kommt eine Strafbarkeit wegen unterlassener Hilfeleistung oder letztlich auch wegen Tötung durch Unterlassen in Betracht. Daraus folgt also – bei Vorliegen bestimmter Voraussetzungen – die strafrechtlich bewehrte Pflicht der Mitarbeiter des Jugendamtes zum Tätigwerden. Wie oben (Rz. 6b) dargestellt, hat der Gesetzgeber ihnen jedoch andererseits eine Schweigepflicht und eine Pflicht zur Geheimhaltung persönlicher Daten auferlegt. Derselbe Gesetzgeber, der angesichts spektakulärer Straftaten ein entschlossenes Handeln der Jugendamtsmitarbeiter postuliert, hat in § 203 Abs. 1 Nr. 4 StGB einen spezifischen Straftatbestand geschaffen, der sie zum Schweigen verpflichtet. Zu allem Überfluss wird in den Gesetzesmaterialien klargestellt, dass nicht einmal gegenüber dem Familiengericht eine umfassende Befugnis zur Datenweitergabe besteht. Dies hat zur Folge, dass vielfach nur unter den engen und für die betroffenen Mitarbeiter schwer abzuschätzenden Voraussetzungen des rechtfertigenden Notstandes gemäß § 34 StGB eine Offenbarungsbefugnis besteht.

 

Rz. 35

Die überwiegend in der Literatur (Bringewat, LPK-SGB VIII, § 8a Rz. 68 ff.; Beulke/Swoboda, Festschrift für Gössel S. 73 ff. und 90 ff.), vereinzelt auch in der Judikatur (OLG Stuttgart, NJW 1998 S. 3132 = ZfJ 1998 S. 382; OLG Oldenburg, ZfJ 1997 S. 56; LG Osnabrück, NStZ 1996 S. 437 mit Anm. Bringewat; AG Medebach, Urteil v. 4.5.2017, 6 Ds, 411 Js 274/16-213/16) zu beobachtende Diskussion zu Umfang und Voraussetzungen einer strafrechtlichen Garantenstellung und Garantenpflicht von Jugendamtsmitarbeitern ist schon vor Inkrafttreten des § 8a aufgekommen. Da das Bestehen einer Garantenstellung die strafrechtliche Verantwortlichkeit für Delikte (unechte Unterlassungsdelikte) eröffnet, die hohe Strafen vorsehen (Totschlag nach § 212 StGB, qualifizierte Körperverletzung nach §§ 223 ff. StGB), bedarf es einer sorgfältigen Herleitung und Begründung für das Bestehen der Garantenstellung. Gemäß § 13 Abs. 1 StGB ist derjenige, der es unterlässt, einen Erfolg abzuwenden, der zum Tatbestand eines Strafgesetzes gehört, nur dann strafbar, wenn er rechtlich dafür einzustehen hat, dass der Erfolg nicht eintritt, und wenn das Unterlassen der Verwirklichung des gesetzlichen Tatbestandes durch ein Tun entspricht. Damit sind die Voraussetzungen im Gesetz nur schemenhaft umschrieben. Die rechtliche Einstandspflicht, die es gebietet, zur Abwendung einer Rechtsgutsgefährdung einzuschreiten, wird als Garantenpflicht bezeichnet. In der Strafrechtswissenschaft werden die Systematik und die Differenzierung der Entstehungsgründe für die Garantenpflicht unterschiedlich dargestellt. Es besteht jedoch Einigkeit darin, dass die Garantenstellung an eine besondere Pflichtenstellung anknüpfen kann.

 

Rz. 36

Für einen Amtsträger kann sich die Handlungspflicht und damit die Garantenstellung aus den Regelungen zu seinem Aufgabenbereich ergeben. Soweit diese ihm Schutz- und Betreuungsaufgaben zuweisen wird er zum Beschützergaranten (Stree, in: Schönke/Schröder, StGB, § 13 Rz. 31 m. w. N.; Wiesner, SGB VIII, § 8a Rz. 58). Ausgehend von der hergebrachten Systematik besteht die Garantenstellung insofern "aus Gesetz", da sie sich aus dem gesetzlich definierten Aufgabenbereich des Jugendamtsmitarbeiters ergibt. Die auf das staatliche Wächteramt gründenden und in § 8a konkretisierten Schutzpflichten definieren die Garantenpflicht. Auch in dieser Konstellation zeigt sich indes, dass die hergebrachte Systematik nicht zielführend ist; denn Auslöser der Garantenpflicht ist im Einzelfall die Einweisung in die Zuständigkeit und die Übernahme der Betreuung der Familie bzw. des gefährdeten Kindes. Daher ist in der Literatur zu Recht auch von der Garantenstellung des fallzuständigen Mitarbeiters kraft Übernahme die Rede. Die Differenzierung zwischen der Garantenstellung kraft Gesetzes und der Garantenstellung kraft Übernahme ist daher zumeist artifiziell.

 

Rz. 37

Die Garantenpflicht setzt ein mit der Zuweisung der gesetzlichen Aufgabe an den betreffenden Jugendamtsmitarbeiter. Das bedeutet, dass der Mitarbeiter von dem Augenblick an, in dem ihm in seinem Zuständigkeitsbereich ein Gefahrenverdacht bekannt wird, der Veranlassung zu Ermittlungen oder zu einem Eingreifen nach Maßgabe von § 8a gibt, aus strafrechtlicher Sicht in die Garantenstellung einrückt. Teilweise wird als weitere Voraussetzung ein Vertrauen des schutzbedürftigen Rechtsgutträgers in die tätige Schutzverwirklichung genannt. Hergeleitet wird diese weitere Voraussetzung nicht. Die Garantenstellung besteht so lange, wie die Gefährdungslage fortbesteht und der Jugendamtsmitarbeiter in dem Pflichtenkreis tätig ist.

 

Rz. 38

Für die Mitarbeiter freier Träger de...

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