Rz. 61

Abs. 4 regelte bis zum 31.12.2016 drei Ausnahmen von der Zahlung von Regelsätzen. Satz 1 enthielt eine Bestimmung über die individuelle Bedarfsfestsetzung bei "nach oben oder unten" abweichendem Bedarf. Satz 2 regelte die Zahlung für Fälle, in denen die Leistungsberechtigung nur für weniger als einen Monat besteht. Satz 3 den Sonderfall der Leistungsberechtigung in einer anderen Familie. Die bisherigen Sätze 2 und 3 haben zum 1.1.2017 Aufnahme in Abs. 3 Satz 3 und Abs. 5 gefunden (Rz. 56, 79). Satz 1 hat eine Neufassung in begrifflicher und inhaltlicher Hinsicht sowie eine Ergänzung durch die Sätze 2 und 3 erfahren.

 

Rz. 62

Die Vorschrift war in der bis zum 31.12.2016 geltenden Fassung im Wortlaut nur leicht verändert inhaltlich identisch mit § 28 Abs. 1 Satz 2 in der bis zum 31.12.2010 geltenden Fassung, die wiederum im Wesentlichen § 22 Abs. 1 Satz 2 BSHG entsprach. Die Regelung ermöglichte auch ab dem 1.1.2017 weiterhin die Berücksichtigung vom "Normalfall" abweichender Bedarfe bei der Leistungsgewährung, was verfassungsrechtlich zwingend geboten ist (vgl. BVerfG, Urteil v. 9.2.2010, 1 BvL 1/09, 1 BvL 3/09, 1 BvL 4/09, Leitsatz 4). Da die Vorschrift schon vor der zur Rechtslage der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem SGB II ergangenen vorgenannten Leitentscheidung des BVerfG existierte, bestand insoweit ein gesetzgeberischer Handlungsbedarf – anders als im SGB II (vgl. jetzt § 21 Abs. 6 SGB II) – nicht.

 

Rz. 63

Zweck der Regelung ist es nach wie vor, das Spannungsverhältnis zwischen (pauschalierter) Regelsatzleistung und Individualisierungsgrundsatz (§ 9) im Einzelfall aufzulösen (vgl. Wahrendorf, in: Grube/Wahrendorf, SGB XII, 6 Aufl. 20184, § 27a Rz. 42; Roscher, in: LPK-SGB XII, 11. Aufl. 2018, § 27a Rz. 20). Sofern über Satz 1 (1. oder 2. Var.) eine Reduzierung des Regelsatzes in Betracht kommt, trägt die Vorschrift dem Nachranggrundsatz (§ 2 Abs. 1) Rechnung. Ihre Anwendung war schon immer problematisch (vgl. z. B. Rothkegel, ZfSH/SGB 2004 S. 396, 406). Dies hat sich seit Einführung weitgehend pauschalierter Regelsätze zum 1.1.2005 noch verschärft, weil die Herauslösung eines einzelnen Bedarfs aus den als Pauschalen konzipierten Regelsätzen, die der Leistungsberechtigte gerade eigenverantwortlich und auch durch Verschiebungen zwischen den einzelnen Bedarfen nutzen soll, schwierig ist (vgl. Gutzler, in: jurisPK-SGB XII, 3. Aufl. 2020, Stand: 1.2.20206, § 27a Rz. 86 m. w. N.).

 

Rz. 64

Das Gesetz sieht eine individuelle Bedarfsfestsetzung bei zwei Fallgestaltungen vor und zwar, wenn der Bedarf ganz oder teilweise anderweitig gedeckt ist oder wenn er der Höhe nach unabweisbar erheblich von einem durchschnittlichen Bedarf abweicht. In beiden Fällen "wird" der individuelle Bedarf abweichend vom Regelsatz festgesetzt, d. h. es steht der Verwaltung insoweit ein Ermessen nicht zu. Auch was den Umfang bzw. die individuelle Bedarfsfestsetzung als solche angeht, unterliegt die Verwaltungsentscheidung in vollem Umfang der (gerichtlichen) Überprüfung.

 

Rz. 65

Als Ansatzpunkt für eine generelle Erhöhung von als nicht bedarfsgerecht empfundenen Regelsätzen eignet sich die Vorschrift schon konstruktiv nicht, weil eine abweichende Festsetzung (im Sinne einer Erhöhung) stets nur bezogen auf einen wie auch immer gearteten "Normalbedarf" möglich ist.

 

Rz. 66

Nach der Gesetzesbegründung (BT-Drs. 15/1514 S. 59) sollte ein Bedarf (schon dann) anderweitig gedeckt sein, wenn der Leistungsberechtigte einzelne Leistungen von dritter Seite erhält, z. B. unentgeltliches Essen. Davon abweichend hat die Rechtsprechung des BSG (vgl. Urteile v. 11.12.2007, B 8/9b SO 21/06 R, Rz. 19, und v. 23.3.2010, B 8 SO 17/09 R, Rz. 36) zur rechtlichen Einordnung der Einnahme von Mittagessen in Werkstätten für behinderte Menschen den Anwendungsbereich der Vorschrift jedoch erheblich eingeschränkt. Nach der Rechtsauffassung des BSG (zuletzt bestätigt durch Urteil v. 20.9.2012, B 8 SO 4/11 R, Rz. 22 – Möblierungspauschale) ist Satz 1 1. Var. in der bis zum 31.12.2016 geltenden Fassung nur anwendbar, wenn der Bedarf des Leistungsempfängers durch andere ("institutionelle") Sozialhilfeleistungen ganz oder teilweise abgedeckt wird. Die Regelung solle ausschließlich verhindern, dass Träger der Sozialhilfe im Rahmen der Sozialhilfeleistungen gegenüber dem Leistungsempfänger Doppelleistungen erbringen. Außerdem könne nur so die erforderliche möglichst trennscharfe Abgrenzung zwischen Bedarfsdeckung und Einkommenszufluss vorgenommen werden. Bedarfsdeckende Zuwendungen (sonstiger) Dritter könnten nur nach den Vorschriften über die Einkommensanrechnung (§§ 82 ff.) Berücksichtigung finden. Damit hat das BSG auch festgeschrieben, dass der Bezug von Lebensmitteln über die sog. Tafeln oder sonstige Dritte keine anderweitige Bedarfsdeckung i. S. v. Satz 1 1. Var. darstellt. Hinsichtlich der Bedarfsdeckung in Werkstätten für behinderte Menschen sowie bei längeren Krankenhaus- oder Kuraufenthalten ist mit der Einfügung des § 42a zum 1.1.2017 ein Mehraufwand anerkann...

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