Rz. 5

Gemäß Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 ist ein Kind oder Jugendlicher in Obhut zu nehmen, wenn derjenige darum bittet. In etwa einem Drittel der Fälle bittet das Kind oder der Jugendliche selbst um Obhut. Die Bitte und das deutlich werdende subjektive Schutzbedürfnis reichen aus (VG Meiningen, Urteil v. 27.4.2006, 8 K 807/05.Me). Insbesondere ist eine bereits eingetretene Gefährdung des Kindeswohls nicht erforderlich. Es genügt die – zumindest ernst gemeinte – Bitte des Kindes oder Jugendlichen um Obhut. Schon das in einer solchen Bitte zum Ausdruck kommende subjektive Schutzbedürfnis löst die Pflicht der Behörde zum Handeln aus, ohne dass es einer Begründung der Bitte durch das Kind oder den Jugendlichen oder einer Vorprüfung der Situation durch das Jugendamt bedarf. Nur so kann das mit der Regelung verfolgte Ziel, einen effektiven und unkomplizierten Schutz des Kindes oder Jugendlichen in Konfliktsituationen zu gewährleisten, erreicht werden (OVG Lüneburg, Beschluss v. 18.9.2009, 4 LA 706/07, und die einhellige Auffassung in der Kommentarliteratur: Trenczek, in: Frankfurter Komm., SGB VIII, § 42 Rz. 10; Mann, in: Schellhorn/Fischer/Mann/Kern, SGB VIII, § 42 Rz. 9; Kepert, in: Kunkel/Kepert/Pattar, § 42 SGB VIII, Rz. 21; Möller, in: PK-SGB VIII, § 42 Rz. 7; Kirchhoff, in: Luthe/Nellissen, juris-PK-SGB VIII, 2. Aufl., § 42 Rz. 63.1). Die Bitte muss nicht in den Diensträumen des Jugendamtes erfolgen. Sie kann auch mündlich oder durch konkludente Äußerungen erfolgen. Sie bedarf zunächst keiner näheren Begründung. Allerdings ist es Aufgabe des Jugendamtes, anschließend den wirklichen Willen des Kindes bzw. des Jugendlichen zu erforschen und zu klären, ob eine Inobhutnahme oder eher eine Beratung oder sonstige Unterstützungsmaßnahme gewollt ist.

 
Wichtig

Die Umstände bei der Inobhutnahme müssen zur Beweissicherung in einem Aktenvermerk dokumentiert werden. Vorname, Name, Geburtsdatum und Anschrift des Kindes oder des Jugendlichen, die Namen der Personensorge- und Erziehungsberechtigten sind zu erfragen und zu dokumentieren. Dabei müssen Ort, Datum und Uhrzeit der Inobhutnahme sowie die Namen der handelnden Mitarbeiter des Jugendamtes, ggf. die Namen der Polizisten oder sonstiger Personen, die das Kind oder den Jugendlichen zum Jugendamt gebracht haben, aufgeführt werden. Falls Angaben verweigert werden, ist auch dies zu dokumentieren. Anschließend muss der wesentliche Inhalt des einleitenden Gesprächs mit dem Kind oder Jugendlichen und mit etwaigen Begleitpersonen – insbesondere die Bitte um Inobhutnahme – in den Vermerk aufgenommen werden. Sozialdaten, die dabei den Mitarbeitern des Jugendamtes zum Zwecke persönlicher und erzieherischer Hilfe anvertraut werden, sind gesondert gegen einen unberechtigten Zugriff zu sichern (vgl. § 65 Abs. 1). Schließlich ist der Aktenvermerk von dem aufnehmenden Mitarbeiter zu unterzeichnen.

 

Rz. 6

Das Kind bzw. der Jugendliche hat einen Rechtsanspruch auf Inobhutnahme. Ausgehend vom Gesetzeswortlaut ("Das Jugendamt … ist … verpflichtet …") wird dem Jugendamt kein Ermessensspielraum eingeräumt bei der Frage, ob das Kind oder der Jugendliche aufgenommen wird. Freilich wird dabei vorausgesetzt, dass die Bitte ernsthaft und wegen einer Konfliktsituation geäußert wird, die ein subjektives Schutzbedürfnis des "Selbstmelders" erkennen lässt. Die weiteren Einzelregelungen der Norm gewährleisten, dass die Rechte der Eltern und der sonstigen Personensorge- und Erziehungsberechtigten gewahrt bleiben.

 

Rz. 7

Widerspricht der Personensorge- oder Erziehungsberechtigte der Inobhutnahme, so hat das Jugendamt nach § 42 Abs. 2 Satz 3 unverzüglich das Kind oder den Jugendlichen dem Personensorge- oder Erziehungsberechtigten zu übergeben (Nr. 1) oder eine Entscheidung des Familiengerichts über die erforderlichen Maßnahmen zum Wohl des Kindes oder des Jugendlichen herbeizuführen (vgl. dazu Rz. 21 f.). In der Kommentarliteratur ist umstritten, ob das Jugendamt die Herausgabe des Kindes oder des Jugendlichen zwecks Inobhutnahme gegen den Willen des Personensorge- oder Erziehungsberechtigten unter Anwendung des Verwaltungszwanges durchsetzen darf (Kirchhoff, in: juris-PK SGB VIII, § 42 Rz. 54 m. w. N.). Richtigerweise wird man die Weigerung jedoch ein solches Verhalten als Widersprechen interpretieren müssen mit der Folge, dass das Jugendamt gehalten ist, gemäß § 42 Abs. 2 Satz 3 unverzüglich das Familiengericht anzurufen, um eine sorgerechtliche Entscheidung herbeizuführen.

 

Rz. 8

Äußert der Minderjährige zu einem späteren Zeitpunkt, die Gründe, die zur Inobhutnahme führten, lägen nun nicht mehr vor, hat das Jugendamt zu prüfen, ob die Inobhutnahme nunmehr beendet oder ggf. wegen Vorliegens einer dringenden Gefahr für das Kindeswohl fortgesetzt werden muss.

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