Rz. 3

Materielle Bestandskraft bedeutet, dass die in dem Verwaltungsakt getroffene Regelung für die Beteiligten materiell verbindlich ist. Nach Eintritt der materiellen Bestandskraft kann keine Änderung mehr zulasten des Betroffenen erfolgen. Diese Wirkung tritt für die Behörde grundsätzlich mit dem Wirksamwerden des Verwaltungsaktes gemäß § 39 SGB X ein (vgl. BSG, SozR 3-1500 § 85 Nr. 1 m. w. N.), für den Betroffenen mit der Unanfechtbarkeit des Verwaltungsaktes. Wird ein Bescheid, mit dem nachteilig in einen Bewilligungsbescheid eingegriffen wird, auf Anfechtungsklage hin aufgehoben, so lebt der Bewilligungsbescheid in seiner ursprünglichen Gestalt wieder auf. Eine mit der Anfechtung verbundene Klage auf noch höhere Leistungen als im ursprünglichen Bescheid ausgewiesen ist unzulässig (LSG NRW, Beschluss v. 7.2.2011, L 19 AS 1869/10 B, juris).

 

Rz. 4

Die Bindungswirkung tritt nur hinsichtlich des Verfügungssatzes ein, nicht hinsichtlich der Begründung des Bescheids. Zur Begründung gehören die rechtliche Beurteilung von Vorfragen und die dem Bescheid zugrunde liegenden tatsächlichen Annahmen. Die Gründe können lediglich zur Auslegung des Verfügungssatzes herangezogen werden. Zum Verfügungssatz von Leistungsbescheiden der Träger der gesetzlichen Rentenversicherung gehören Art, Dauer (Beginn und Ende) sowie Höhe der Rente (BSG, SozR 3-1500 § 77 Nr. 1 m. w. N.). Nicht von der Bindungswirkung erfasst werden dagegen die zugrunde gelegten Versicherungszeiten und weitere Berechnungsfaktoren (vgl. auch BSG, SozR 4100 § 122 Nr. 23 für Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung). Zur Annahme einer bindenden Feststellung einzelner Anspruchsvoraussetzungen ist erforderlich, dass ein entsprechender Verfügungswille im Bescheid deutlich zum Ausdruck kommt (vgl. BSG, a. a. O.). So kann der Bescheid über die Ablehnung einer Rente aus der gesetzlichen Unfallversicherung auch eine selbständige Entscheidung über das Vorliegen eines Arbeitsunfalls enthalten (BSG, SozR 1500 § 77 Nr. 18). Wird in einem Bescheid über die Gewährung von Sterbegeld vom Tod des Versicherten durch einen Arbeitsunfall ausgegangen, ist damit noch nicht für das Verfahren über die Gewährung von Witwenrente der Arbeitsunfall als Todesursache bindend festgestellt (BSG, SozR 2200 § 589 Nr. 8). Solange gegenüber dem Berechtigten durch Verwaltungsakt verbindlich das Bestehen von Versicherungspflicht festgestellt ist, kann ein Anspruch auf Erstattung zu Unrecht entrichteter Beiträge, § 26 Abs. 2 und 3 SGB IV, nicht entstehen (BSG, SozR 4-2400 § 27 Nr. 2). Ein Vorschussbescheid nach § 42 SGB I entfaltet Bindungswirkung nur für einen begrenzten Zeitraum, nämlich bis zum Abschluss des Verwaltungsverfahrens (vgl. BSG, Urteil v. 26.6.2007, B 2 U 5/06 R). Zur Bindungswirkung eines Anerkennungsbescheides nach §§ 216b Abs. 5, 173 Abs. 3 SGB III siehe BSG, Urteil v. 14.9.2010, B 7 AL 29/09 R.

 

Rz. 5

Die Ablehnung eines Antrags auf eine Sozialleistung oder auf die Zuerkennung eines Merkzeichens entfaltet nur insoweit Bindungswirkung, als damit feststeht, dass ein Anspruch des Antragstellers nach dem Sach- und Rechtsstand im Zeitpunkt der Verwaltungsentscheidung nicht besteht. Wirkung für die Zukunft kommt der Ablehnung nicht zu (vgl. BSG, SozR 3-1500 § 153 Nr. 8). Dies ist von der Frage des Streitgegenstandes einer gegen die vollständige Ablehnung gerichteten Anfechtungs- und Verpflichtungs- bzw. Leistungsklage zu unterscheiden. Hier ist im Zweifel davon auszugehen, dass sich der Streitgegenstand bis zur letzten mündlichen Verhandlung der Tatsacheninstanz, längstens aber bis zum Zeitpunkt eines neuen Leistungsantrags erstreckt (vgl. LSG NRW, Beschluss v. 27.9.2010, L 6 AS 1099/10 B ER; Beschluss v. 8.11.2010, L 1 B 1/09 BK, m. w. N., jeweils nach juris). Für die Klage auf Leistungen ist in dem genannten Zeitraum kein weiterer Bescheid mehr erforderlich. Ist eine Leistung bestandskräftig abgelehnt worden, ist eine Verfolgung des gleichen Begehrens im Rahmen eines Antrags nach § 86b Abs. 2 nicht statthaft. Tritt die Bestandskraft während des laufenden Eilverfahrens ein, wird dieses unzulässig (BayLSG, Beschluss v. 26.9.2011, L 7 AS 742/11 B ER, juris; Sächsisches LSG, Beschluss v. 26.5.2011, L 3 AS 378/11 B ER, juris, m. w. N. zur dogmatischen Herleitung).

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