2.1 Voraussetzungen

2.1.1 Ohne Verschulden

 

Rz. 3

Voraussetzung für die Wiedereinsetzung ist, dass eine gesetzliche Frist ohne Verschulden versäumt wird. Das ist dann der Fall, wenn ein Beteiligter eine Frist versäumt hat, obgleich er diejenige Sorgfalt angewendet hat, die einem gewissenhaft Prozessführenden nach den gesamten Umständen nach allgemeiner Verkehrsanschauung vernünftigerweise zuzumuten ist (BSG, Urteil v. 31.3.1993, 13 RJ 9/92, SozR 3-1500 § 67 Nr. 7). Dieser Maßstab eröffnet einen weiten Spielraum für die Bewertung des Einzelfalls, dessen Umstände zu würdigen sind. Die zumutbare Sorgfalt kann bei Privatpersonen geringer sein als bei juristischen Personen des öffentlichen Rechts. Da § 67 Ausfluss der verfassungsrechtlichen Grundsätze des Art. 19 Abs. 4, 103 Abs. 1 GG ist, dürfen keine überhöhten Anforderungen an die von den Beteiligten zu treffenden Vorkehrungen gestellt werden. Andererseits ist aber auch die Rechtssicherheit Bestandteil des Rechtsstaatsprinzips (BSG, Beschluss v. 10.12.1974, GS 2/73, SozR 1500 § 67 Nr. 1; Keller, SGG, § 67 Rn. 3b). Überdies muss bedacht werden, dass eine Fristversäumnis dem anderen Beteiligten eine verfahrensrechtlich günstigere Position geben kann (Zeihe, SGG, 11/2010, § 67 Rn. 1b). Die gelegentlich vertretene Auffassung, dass der betroffene Personenkreis bei Verfahren in der Sozialgerichtsbarkeit als besonders schutzbedürftig anzusehen ist (BSG, Beschluss v. 10.12.1974, GS 2/73, SozR 1500 § 67 Nr. 1), ist indes überholt und nach heutigen Gegebenheiten schlicht abwegig (hierzu auch Zeihe, SGG, § 67 Rn. 1b).

2.1.2 Eigenes Verschulden

 

Rz. 4

Der Begriff "Verschulden" meint nicht den Maßstab des § 276 BGB. Es ist von einem prozessrechtlichen Verschuldensbegriff auszugehen. Insoweit sind an einen Beteiligten grundsätzlich höhere Anforderungen zu stellen, als bei einem Verschulden nach Maßgabe des § 276 BGB (Zeihe, SGG, § 67 Rn. 3a). Für die Frage des Verschuldens gilt ein subjektiver Maßstab. Es ist auf die Kenntnisse und Fähigkeiten der konkreten Person abzustellen. Für die Vorwerfbarkeit der Fristversäumnis kommt es daher auch auf die persönlichen Verhältnisse an, insbesondere Bildungsgrad und Rechtserfahrung (BSG, Urteil v. 30.1.2002, B 5 RJ 10/01 R, SozR 3-1500 § 67 Nr. 21). Einem Beteiligten steht es frei, eine Frist bis zum Ende auszuschöpfen, allerdings erhöht sich dann seine Sorgfaltspflicht (vgl. BSG, Urteil v. 31.3.1993, 3 RJ 9/92, SozR 3-1500 § 67 Nr. 7; BSG, Beschluss v. 21.12.1981, 5a RKn 8/81, SozR 1500 § 67 Nr. 16). Keinesfalls rechtfertigt eine nur kurze Fristüberschreitung eine Wiedereinsetzung.

 

Rz. 5

Ein gewissenhafter und sorgfältiger Prozessführender handelt schuldhaft, wenn er sich darauf verlässt, dass seine Rechtsschutzversicherung für ihn ggf. durch Beauftragung eines Dritten alles Erforderliche tun wird, um Klage zu erheben (LSG Rheinland-Pfalz, Beschluss v. 18.7.2003, L 2 B 88/03 U; hierzu Wahl, jurisPR-SozR 20/2004 Anm. 3)

2.1.3 Verschulden Dritter

2.1.3.1 Bevollmächtigte

 

Rz. 6

Das Verschulden des gesetzlichen Vertreters oder des Prozessbevollmächtigten steht dem Verschulden des Beteiligten gleich (§ 73 Abs. 6 Satz 6 SGG i. V. m. §§ 51 Abs. 2, 85 Abs. 2 ZPO). Besondere Anforderungen werden an die persönliche Sorgfalt und die Büroorganisation von Rechtsanwälten gestellt. Sie sind verpflichtet, durch organisatorische Maßnahmen Fehlerquellen bei der Behandlung von Fristsachen in größtmöglichem Umfang auszuschließen (BSG, Beschluss v. 12.03.2002, B 11 AL 3/02 B, SozSich 2003 S. 400).

 

Rz. 7

Eine unmittelbare Zurechnung des Verschuldens von Hilfspersonen, also insbesondere von Büropersonal des Anwalts ist nach geltendem Recht nicht möglich, da es im Prozessrecht an einer dem § 278 BGB entsprechenden Regelung fehlt (LSG NRW, Beschluss v. 27.1.2010, L 19 B 29/09 AL; Keller, SGG, § 67 Rn. 8b m. w. N.; Müller, NJW 2000 S. 322, 327; Anmerkung: Soweit das BSG sich im Beschluss v. 8.10.2009, B 8 SO 35/09 B, auf § 278 BGB bezieht, um eine Zurechnung eines Fehlverhaltens zu begründen, ist dies ein rechtlich unzutreffender Ansatz).

 

Rz. 8

Der Anwalt muss durch geeignete Organisationsmaßnahmen die Einhaltung von Fristen sicherstellen. Hierzu rechnet, dass er eine zuverlässige Fristenkontrolle organisieren, insbesondere einen Fristenkalender führen und dafür Sorge tragen muss, dass die Erledigung fristgebundener Sachen am Abend eines jeden Arbeitstages anhand des Fristenkalenders überprüft wird. Dabei setzt eine wirksame Fristenkontrolle voraus, dass Fristen zur Einlegung und Begründung von Rechtsbehelfen deutlich als solche gekennzeichnet werden (LSG NRW, Beschluss v. 27.1.2010, L 19 B 29/09 AL). Er muss dafür Sorge tragen, dass ihm die Sache rechtzeitig vor Fristablauf vorgelegt wird. Voraussetzung hierfür ist das Führen eines Fristenkalenders, in dem nicht nur die Fristen selbst, sondern auch Vorfristen zur Bearbeitung notiert sein müssen (BSG, Beschluss v. 8.5.1996, 6 RKa 9/96, SozR 3-1500 § 67 Nr. 10). Auch der Postauslauf fristwahrender Schriftstücke ist in der Handakte und dem Fristenkalender zu vermerken (BSG, Beschluss v. 15.12.1997, 10 BLw 8/97, SozR 3-1500 § 67 Nr. 12).

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