1 Allgemeines

 

Rz. 1

Das Institut der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand findet sich in allen Verfahrensordnungen. Im Interesse effektiven Rechtsschutzes wird der durch gesetzliche Fristen gesicherte Grundsatz der Rechtssicherheit in bestimmten Konstellationen durchbrochen. Eine außerhalb einer gesetzlichen Frist vorgenommene Prozesshandlung wird infolge der Wiedereinsetzung als rechtzeitig angesehen. Die Frage, ob Wiedereinsetzung zu gewähren ist, stellt sich regelmäßig erst, wenn eine ordnungsgemäße Zustellung (§ 63 SGG) und Rechtsbehelfsbelehrung (§ 66 SGG) bejaht werden können. § 67 betrifft nur gesetzliche Fristen des Prozessrechts und des Widerspruchsverfahrens (§ 84 Abs. 2 Satz 3 SGG). Die Antragsfrist des § 67 Abs. 2 ist eine gesetzliche Verfahrensfrist, bei deren Versäumung Wiedereinsetzung beantragt werden kann (vgl. BVerfG, Entscheidung v. 6.6.1967, 1 BvR 282/65, BVerfGE 22 S. 83, 86 ff.).

 

Rz. 2

Für das Verwaltungsverfahren gilt § 27 SGB X. Auch soweit es um materiell-rechtliche Fristen geht, greift § 67 nicht (Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Aufl. 2008, § 67 Rn. 2b). Eine Wiedereinsetzung kommt ferner nicht in Betracht bei Ausschlussfristen. Eine solche liegt vor, wenn der Ausschluss ausdrücklich normiert ist oder die Auslegung einer Fristbestimmung anhand ihres Sinns und Zwecks klar ergibt, dass die Regelung "mit der Frist steht und fällt"; im Zweifel ist die Zulässigkeit der Wiedereinsetzung zu bejahen (vgl. LSG Sachsen-Anhalt, Urteil v. 21.12.2010, L 8 SO 16/10, juris). Schließlich gilt § 67, abgesehen von § 92 Abs. 2 Satz SGG, nicht für richterliche Fristen.

Die Anforderungen des § 67 sind im Lichte des Zweckes von Verfahrensvorschriften – nämlich der Wahrung der materiellen Rechte der Beteiligten – zu sehen. Eine Entscheidung über die materielle Rechtslage soll im Zweifel nicht verhindert, sondern ermöglicht werden (BSG, Urteil v. 31.3.1993, 13 RJ 9/92, SozR 3-1500 § 67 Nr. 7; BSG, Urteil v. 24.4.1991, 9a RV 10/91, NJW 1991 S. 3236).

2 Rechtspraxis

2.1 Voraussetzungen

2.1.1 Ohne Verschulden

 

Rz. 3

Voraussetzung für die Wiedereinsetzung ist, dass eine gesetzliche Frist ohne Verschulden versäumt wird. Das ist dann der Fall, wenn ein Beteiligter eine Frist versäumt hat, obgleich er diejenige Sorgfalt angewendet hat, die einem gewissenhaft Prozessführenden nach den gesamten Umständen nach allgemeiner Verkehrsanschauung vernünftigerweise zuzumuten ist (BSG, Urteil v. 31.3.1993, 13 RJ 9/92, SozR 3-1500 § 67 Nr. 7). Dieser Maßstab eröffnet einen weiten Spielraum für die Bewertung des Einzelfalls, dessen Umstände zu würdigen sind. Die zumutbare Sorgfalt kann bei Privatpersonen geringer sein als bei juristischen Personen des öffentlichen Rechts. Da § 67 Ausfluss der verfassungsrechtlichen Grundsätze des Art. 19 Abs. 4, 103 Abs. 1 GG ist, dürfen keine überhöhten Anforderungen an die von den Beteiligten zu treffenden Vorkehrungen gestellt werden. Andererseits ist aber auch die Rechtssicherheit Bestandteil des Rechtsstaatsprinzips (BSG, Beschluss v. 10.12.1974, GS 2/73, SozR 1500 § 67 Nr. 1; Keller, SGG, § 67 Rn. 3b). Überdies muss bedacht werden, dass eine Fristversäumnis dem anderen Beteiligten eine verfahrensrechtlich günstigere Position geben kann (Zeihe, SGG, 11/2010, § 67 Rn. 1b). Die gelegentlich vertretene Auffassung, dass der betroffene Personenkreis bei Verfahren in der Sozialgerichtsbarkeit als besonders schutzbedürftig anzusehen ist (BSG, Beschluss v. 10.12.1974, GS 2/73, SozR 1500 § 67 Nr. 1), ist indes überholt und nach heutigen Gegebenheiten schlicht abwegig (hierzu auch Zeihe, SGG, § 67 Rn. 1b).

2.1.2 Eigenes Verschulden

 

Rz. 4

Der Begriff "Verschulden" meint nicht den Maßstab des § 276 BGB. Es ist von einem prozessrechtlichen Verschuldensbegriff auszugehen. Insoweit sind an einen Beteiligten grundsätzlich höhere Anforderungen zu stellen, als bei einem Verschulden nach Maßgabe des § 276 BGB (Zeihe, SGG, § 67 Rn. 3a). Für die Frage des Verschuldens gilt ein subjektiver Maßstab. Es ist auf die Kenntnisse und Fähigkeiten der konkreten Person abzustellen. Für die Vorwerfbarkeit der Fristversäumnis kommt es daher auch auf die persönlichen Verhältnisse an, insbesondere Bildungsgrad und Rechtserfahrung (BSG, Urteil v. 30.1.2002, B 5 RJ 10/01 R, SozR 3-1500 § 67 Nr. 21). Einem Beteiligten steht es frei, eine Frist bis zum Ende auszuschöpfen, allerdings erhöht sich dann seine Sorgfaltspflicht (vgl. BSG, Urteil v. 31.3.1993, 3 RJ 9/92, SozR 3-1500 § 67 Nr. 7; BSG, Beschluss v. 21.12.1981, 5a RKn 8/81, SozR 1500 § 67 Nr. 16). Keinesfalls rechtfertigt eine nur kurze Fristüberschreitung eine Wiedereinsetzung.

 

Rz. 5

Ein gewissenhafter und sorgfältiger Prozessführender handelt schuldhaft, wenn er sich darauf verlässt, dass seine Rechtsschutzversicherung für ihn ggf. durch Beauftragung eines Dritten alles Erforderliche tun wird, um Klage zu erheben (LSG Rheinland-Pfalz, Beschluss v. 18.7.2003, L 2 B 88/03 U; hierzu Wahl, jurisPR-SozR 20/2004 Anm. 3)

2.1.3 Verschulden Dritter

2.1.3.1 Bevollmächtigte

 

Rz. 6

Das Verschulden des gesetzlichen Vertreters oder des Prozessbevollmächtigten steht dem Verschulden des Beteiligten gleich (§ 73 Abs....

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