Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Urteil vom 14.12.1990)

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 14. Dezember 1990 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Tatbestand

I

Streitig ist ein Anspruch auf Rente wegen Berufsunfähigkeit. Im Revisionsverfahren streiten die Parteien darüber, ob das Landessozialgericht (LSG) die Berufung des Klägers als unzulässig verwerfen durfte oder in der Sache hätte entscheiden müssen.

Der 1933 geborene Kläger hat als Radio- und Fernsehtechniker eine Meisterprüfung abgelegt und ist seit 1964 selbständig. Seinen Rentenantrag vom 31. Oktober 1984 lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 28. Februar 1985 ab. Widerspruch und Klage blieben ohne Erfolg (Widerspruchsbescheid der Beklagten vom 25. März 1986, Urteil des Sozialgerichts ≪SG≫ vom 10. Juli 1989). Eine Ausfertigung des erstinstanzlichen Urteils wurde dem damaligen Prozeßbevollmächtigten des Klägers nach einem zunächst mißlungenen Zustellversuch am 23. Juli 1990 zugestellt.

Gegen diese Entscheidung legte der Kläger mit einem am 24. September 1990, 23.56 Uhr, beim SG eingegangenen Telefax Berufung ein und stellte zugleich einen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Berufungsfrist. Zur Begründung des Wiedereinsetzungsantrages führte der damalige Prozeßbevollmächtigte des Klägers unter eidesstattlicher Versicherung der Richtigkeit seiner Angaben aus: Wegen seiner Arbeitsbelastung habe er die Fertigung der Berufungsschrift für den Abend des 23. August 1990 und deren Übermittlung durch Telefax vorgesehen. Von etwa 21.00 Uhr bis kurz vor 23.30 Uhr sei er an diesem Tage mit Eingabe und Ausdruck der Berufungsschrift beschäftigt gewesen. Nachdem er zur Durchgabe der Berufung die Telefax-Nummer des SG eingegeben habe, sei es ihm trotz mehrfacher Versuche nicht gelungen, den Wählvorgang in Gang zu setzen. Da es mittlerweile 23.50 Uhr geworden sei, habe er das SG auch nicht mehr mit dem Wagen erreichen können. Weitere Versuche, das Telefaxgerät in Gang zu setzen, seien bis 24.00 Uhr fehlgeschlagen. Am nächsten Morgen habe sich ergeben, daß die Anlage völlig verstellt und die eingegebenen Codes gelöscht gewesen seien. Aus der Nachschau sei aufgefallen, daß am Abend zuvor ein Quasi-Stromausfall die Lampen fast habe erlöschen lassen. Dieser Fast-Ausfall müsse auch zu der Störung der Telefax-Leitung geführt haben.

Durch Urteil vom 14. Dezember 1990 hat das LSG die Berufung als unzulässig verworfen. Die fristgerecht beantragte Wiedereinsetzung scheitere nach § 67 Abs 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) daran, daß der Bevollmächtigte des Klägers die Einhaltung der Berufungsfrist schuldhaft versäumt habe; dieses Verschulden seines Bevollmächtigten müsse sich der Kläger zurechnen lassen. An die Sorgfaltspflichten eines Rechtsanwalts habe die Rechtsprechung seit jeher hohe Anforderungen gestellt. Diese erhöhten sich noch, wenn der Anwalt die Einlegung der Berufung bis zum letzten Augenblick verzögere. Deshalb habe sich der Bevollmächtigte nicht darauf verlassen dürfen, daß sein Telefaxgerät störungsfrei arbeiten würde, als er eine halbe Stunde vor Ablauf der Berufungsfrist versuchte, die fertige Berufungsschrift durchzugeben. Technische Geräte seien, wie nicht zuletzt die vom Bevollmächtigten des Klägers angenommene Ursache des Ausfalls seiner Telefaxanlage zeige, vielfach störungsanfällig. Diesem Umstand müsse ein Anwalt Rechnung tragen und im Rahmen der ihm zur Wahrung der Rechtsmittelfrist obliegenden Sorgfaltspflichten bei der zeitlichen Einteilung seiner Arbeit Störungsgefahren einkalkulieren. Deshalb habe er genügend Vorsorge zu treffen, daß er auch noch einen anderen Weg zur rechtzeitigen Einlegung der Berufung beschreiten könne. Hier hätte er sich auf die Erklärung der Berufungseinlegung per Telefax beschränken können, wozu es nicht der Arbeit von 2 1/2 Stunden bedurft hätte. Weiteres Vorbringen wäre ohne Gefahr eines Prozeßnachteils zu späterer Zeit möglich gewesen.

Mit seiner vom erkennenden Senat zugelassenen Revision macht der Kläger geltend: Das LSG habe ihm Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu Unrecht verweigert. Auch bei fristgebundenen Schriftsätzen sei diejenige Übermittlungsart zulässig, die sich aus dem Fortschritt der Technik und der Eilbedürftigkeit zwingend ergebe, was für die Benutzung des Telefax durch höchstrichterliche Rechtsprechung bestätigt worden sei. Verlange man wie das LSG, daß das Telefaxgerät so rechtzeitig bedient werden müsse, daß bei einer Störung des Gerätes die Berufungsschrift auch noch per Post oder durch Boten dem Gericht zugeleitet werden könne, so sei die ergangene Rechtsprechung über die Verwendung technischer Übertragungsmittel überflüssig, weil diese dann keinerlei Nutzen mehr brächten. Daher müßten sich die Anforderungen an den Verwender eines Telefaxgerätes darauf beschränken, daß ein zuverlässiges Gerät Verwendung finde und das Gerät so rechtzeitig bedient werde, daß bei normaler Übertragung im Telefax-Verkehr der rechtzeitige Eingang bei Gericht gewährleistet sei. Dies sei hier der Fall gewesen. Das Telefaxgerät seines früheren Prozeßbevollmächtigten habe den ganzen Tag über einwandfrei gearbeitet. Dieser habe nicht damit rechnen müssen, daß gerade bei der Übertragung der Berufungsschrift ein Stromausfall das Gerät lahmlegen würde.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des LSG vom 14. Dezember 1990 aufzuheben und die Sache zur erneuten Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen,

hilfsweise,

die Beklagte unter Aufhebung des vorgenannten Urteils zu verpflichten, ihm Berufsunfähigkeitsrente ab Antragstellung zu gewähren.

Die Beklagte hat schriftsätzlich keinen Antrag gestellt. Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Beide Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 SGG).

 

Entscheidungsgründe

II

Die Revision des Klägers ist zulässig und begründet. Das Urteil des LSG kann keinen Bestand haben, weil es auf einer unzutreffenden Auslegung und Anwendung des § 67 SGG beruht. Da für die Entscheidung über den Wiedereinsetzungsantrag des Klägers weitere Tatsachenfeststellungen erforderlich sind, ist eine Zurückverweisung der Sache an die Vorinstanz angebracht.

Wenn jemand ohne Verschulden gehindert war, eine gesetzliche Verfahrensfrist einzuhalten, so ist ihm gemäß § 67 Abs 1 SGG, der nach § 153 Abs 1 SGG auch für das Berufungsverfahren entsprechend gilt, auf Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. Entgegen der Auffassung des LSG können die Voraussetzungen dieser Bestimmung im vorliegenden Fall gegeben sein.

Der Kläger hat die Berufungsfrist (§ 151 SGG) versäumt, weil er dieses Rechtsmittel nicht innerhalb eines Monats nach der am 23. Juli 1990 erfolgten Zustellung des erstinstanzlichen Urteils, sondern erst am 24. September 1990 eingelegt hat. Gegen die Übermittlung der Berufungsschrift und des gleichzeitigen Wiedereinsetzungsantrages per Telefax bestehen keine Bedenken. In der höchstrichterlichen Rechtsprechung ist anerkannt, daß Rechtsmittel wirksam auch mittels Telegramm, Fernschreiben, Telefax oder Telebrief eingelegt werden können (vgl BVerfGE 74, 228, 234 f; BGH NJW 1990, 187; 188; 990; BVerwG NJW 1988, 2814; BAG NJW 1987, 341). Ebenso wie bereits andere Senate des Bundessozialgerichts ≪BSG≫ (vgl BSG SozR 1500 § 160a Nr 53; Urteil vom 20. Dezember 1990 – 4 REg 41/89 – SozSich 1991, 222) schließt sich auch der erkennende Senat dieser Rechtsprechung an. Damit ist nicht nur der Antrag auf Wiedereinsetzung, sondern auch die Nachholung des versäumten Rechtsmittels innerhalb der Frist des § 67 Abs 2 SGG wirksam erfolgt. Diese Monatstrist hat frühestens am 23. August 1990, dem Tag des Ablaufs der Berufungsfrist, zu laufen begonnen und ist mit dem Eingang des Telefax am Montag, dem 24. September 1990, gewahrt worden (§ 67 Abs 3 SGG).

Bei der Prüfung der Frage, ob der frühere Prozeßbevollmächtigte des Klägers, dessen Verhalten gemäß § 73 Abs 4 Satz 1 SGG iVm § 85 Abs 2 der Zivilprozeßordnung dem Kläger zuzurechnen ist (vgl zB Kummer, DAngVers 1991, 234, 243 mwN), ohne Verschulden an der Einhaltung der Berufungsfrist gehindert war, hat das LSG die Anforderungen des § 67 Abs 1 SGG überspannt (vgl dazu allgemein BSGE 38, 248, 260, mwN). Verfahrensvorschriften sind nicht Selbstzweck, sondern dienen der Wahrung der materiellen Rechte der Prozeßbeteiligten. Im Zweifel sind sie so auszulegen, daß eine Entscheidung über die materielle Rechtslage nicht verhindert, sondern ermöglicht wird (vgl BSG SozR 3-1500 § 67 Nr 1). Danach reicht es aus, wenn der ehemalige Bevollmächtigte des Klägers hier diejenige Sorgfalt hat walten lassen, die einem gewissenhaften Rechtsanwalt bei der Wahrung von Rechtsmittelfristen vernünftigerweise zuzumuten ist (vgl Meyer-Ladewig, SGG m Erl, 4. Aufl, § 67 RdNr 3), wobei im sozialgerichtlichen Verfahren grundsätzlich keine geringeren Anforderungen an die Sorgfaltspflichten eines Rechtsanwalts gestellt werden (vgl BSG SozR Nr 23 zu § 67 SGG). Diese Sorgfaltsanforderungen hat das LSG verkannt, indem es von einem Rechtsanwalt verlangt, bei der Übermittlung einer Berufungsschrift per Telefax von vornherein technische Störungen derart einzukalkulieren, daß er immer noch einen anderen Weg zur rechtzeitigen Einlegung der Berufung beschreiten kann. Dabei ist insbesondere den technischen Gegebenheiten und Möglichkeiten der modernen Kommunikationsformen ein unzureichendes Gewicht beigemessen worden.

Die gesetzlich eingeräumten Rechtsmittelfristen dürfen nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts voll, und zwar bis zum letzten Tag und in diesem Rahmen bis zur äußersten Grenze, ausgeschöpft werden (vgl BVerfGE 40, 42, 44; 45, 360, 362; 51, 352, 355; 74, 220, 224). Der Rechtsmittelführer darf die Bearbeitung auch noch für den letzten Tag der Frist vorsehen, wenn er die fristwahrende Handlung noch rechtzeitig vornehmen kann (vgl BVerfG Beschluß vom 31. Oktober 1990 – 2 BvR 934/90 – Nds Rechtspfleger 1991, 61; BSG SozR Nr 36 zu § 67 SGG; BVerwG Buchholz 310 § 60 Nr 124 – S 12; Meyer-Ladewig, aaO, § 64 RdNr 6; Kummer, DAngVers 1991, 234, 239). Allerdings trifft ihn bei voller Ausschöpfung der Frist eine erhöhte Sorgfaltspflicht, darauf zu achten, daß die Übermittlung noch rechtzeitig und wirksam innerhalb der Frist erfolgt (vgl BGH NJW 1982, 2670; 1989, 2393; BVerwG Buchholz 310 § 60 Nr 124 – S 12). Im Rahmen dieser gesteigerten Sorgfaltsanforderungen hat der Bundesgerichtshof (BGH) eine unvorhergesehene Reifenpanne (BGH VersR 1988, 249) und Verzögerungen durch ein den eigenen Wagen blockierendes, verkehrswidrig abgestelltes Fahrzeug (BGH NJW 1989, 2393) als Umstände gewertet, die eine Fristversäumung entschuldigen können, nicht aber eine erheblich nachgehende Uhr, da sich ein Rechtsanwalt in solch einer Situation nicht allein auf den genauen Gang seiner eigenen Armbanduhr verlassen dürfe (BGH VersR 1985, 477, 478).

Nachdem mehrere Oberlandesgerichte die Auffassung vertreten hatten, daß die Möglichkeit einer technischen Störung bei der Benutzung eines Telefaxgerätes von einem Anwalt stets beachtet werden müsse und er für diesen Fall entsprechend Vorsorge zu treffen habe (vgl OLG Köln NJW 1989, 594; OLG München NJW 1991, 303; OLG Bamberg Urteil vom 8. November 1990 – 1 U 17/90 -; ebenso LG Kassel Urteil vom 11. April 1991 – 2 S 106/91 – DAR 1991, 311 = ZfSch 1991, 344), hat der BGH dieser Auffassung für Störungen eines bei Gericht aufgestellten Empfangsgerätes eine Absage erteilt (NJW 1992, 244 f; ebenso bereits BFH vom 6. Februar 1991 – V B 44/89 – nicht veröffentlicht). Zwar hafteten der Übertragung durch Telefax technische Risiken an, die generell vorhersehbar seien. Von einem Telefaxteilnehmer, dessen Gerät in Ordnung sei, könne aber im Hinblick auf eine nicht voraussehbare Panne des Empfangsgerätes nicht erwartet werden, daß er von vornherein Vorkehrungen trifft, um einen fristwahrenden Schriftsatz notfalls auf anderem Wege noch rechtzeitig zum Gericht zu bringen. Werde der Zugang zum Gericht über ein Telefaxgerät eröffnet, müßten die Justizbehörden auch nach Dienstschluß für dessen Funktionsfähigkeit sorgen. Geschehe dies nicht, könne das Risiko nicht auf den Bürger abgewälzt werden (BGH, aaO, S 245).

Diese Rechtsprechung läßt nach Auffassung des erkennenden Senats nicht den (Umkehr-)Schluß zu, daß ein Rechtsanwalt die in seinem Einflußbereich auftretenden Störungen stets zu vertreten hat (so aber wohl Hansens, NJW 1992, 1353, 1361). Es erscheint nicht gerechtfertigt, ihm generell das Risiko dafür aufzubürden, daß ein von ihm eingesetztes Übermittlungsgerät kurz vor Fristablauf aus technischen Gründen unerwartet versagt. Vielmehr ist im Einzelfall zu prüfen, ob er bei der Organisation des Betriebes seiner Anwaltskanzlei ausreichende Vorkehrungen – etwa durch geeignete Anweisungen an das Büropersonal und ausreichende Kontrolle – gegen ein Fristversäumnis getroffen hat (vgl BSG Beschluß vom 22. August 1990 – 9b RAr 14/90 –, BGH NJW 1990, 187 f zur Ausgangskontrolle anhand des Sendeberichts über die Telefax-Übermittlung; BVerwG NJW 1988, 2814 zur Angabe einer versehentlich falschen Telefax-Nummer durch zuverlässige Büroangestellte; LG Frankfurt NJW 1992, 3043 zur Speicherung einer falschen Telefax-Nummer).

In diesem Rahmen muß ein Rechtsanwalt keine besondere Vorsorge für einen plötzlichen Ausfall seines Telefaxgerätes treffen. Abgesehen von der kostenträchtigen Möglichkeit, ein oder mehrere Reservegeräte aufzustellen, wäre eine solche Vorsorge vor allem in der vom LSG geforderten Weise denkbar, daß der Anwalt ausreichende Zeit für einen im Notfall einzuschlagenden anderen Übertragungsweg einkalkuliert. So müßte jeweils die Überbringung der Rechtsmittelschrift durch Boten oder den Anwalt selbst, bei weiteren Entfernungen zum Gerichtsort die rechtzeitige Aufgabe eines Telegramms oder die Inanspruchnahme des Telebrief-Dienstes der Post eingeplant werden. Damit wären die Vorteile eines eigenen Telefaxgerätes, die für den Rechtsanwalt in der unmittelbaren und minutenschnellen Übermittlung eines Schriftsatzes liegen, in erheblichem Maße eingeschränkt. Wegen der niemals auszuschließenden Möglichkeit technischer Störungen dürfte er sich nämlich auf das Funktionieren seines Gerätes bei der Bearbeitung von Fristsachen nicht verlassen. Wenn jedoch auf der einen Seite die Benutzung moderner Kommunikationsmittel durch die Rechtsprechung zugelassen wird, müssen die Anforderungen an die im Verkehr erforderliche Sorgfalt auf der anderen Seite auch einen sachgerechten Umgang damit ermöglichen. Es erschiene treuwidrig und widerspräche dem anerkannten und verfassungsmäßig gewährleisteten Grundsatz eines fairen Verfahrens (vgl BVerfGE 9, 89, 95; 39, 238, 243; 51, 150, 156; 75, 183, 191), einem Prozeßbeteiligten unvorhergesehene Störungen bei einer an sich zulässigen Verfahrensweise entgegenzuhalten und ihn auf andere, nach der Lebenserfahrung auch nicht weniger risikobehaftete Handhabungsmöglichkeiten – wie etwa hier die Benutzung des Pkw oder der von der Post angebotenen Übermittlungswege – zu verweisen. Dies gilt um so mehr, als die Gerichte in letzter Zeit mehrfach auf das Telefax als schnelleren und sicheren Weg verwiesen haben (vgl hierzu BAG, Urteil vom 27. April 1990 – 4 AZR 64/90 – zur Verhinderung durch Stau auf der Autobahn am Gründonnerstag; HessVGH ZAR 1992, 178 sowie LAG Düsseldorf BB 1992, 1796, zur Versendung eines Schriftsatzes als Brief bei Poststreik). Eine andere Beurteilung rechtfertigt sich auch nicht aus einer vom LSG angenommenen erhöhten Störanfälligkeit von Telefaxgeräten, welche das Gericht lediglich unter Hinweis auf den hier aufgetretenen Störfall unterstellt hat. Jedenfalls sind keine Anhaltspunkte dafür ersichlich, daß man sich nach allgemeiner Lebenserfahrung auf das Funktionieren eines Telefaxgerätes nicht verlassen kann.

Technische Defekte eines in einem Kanzleibetrieb verwendeten Telefax-Anschlußgerätes können einem Anwalt nach allgemeinen Grundsätzen nur dann entgegengehalten werden, wenn sie konkret vorhersehbar waren oder zu einem Zeitpunkt auftraten, als noch Abhilfe durch Übermittlung auf einem anderen Weg möglich und zumutbar war. Ein plötzlicher Ausfall des Gerätes im letzten Augenblick vor dem Fristablauf kann – ebenso wie das Nichtanspringen eines Wagens oder die Verwicklung in einen Verkehrsunfall auf dem Weg zum Gericht – ein Entschuldigungsgrund sein, der die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand rechtfertigt (ebenso Kummer, DAngVers 1991, 234, 243). Hatte der Anwalt dagegen aufgrund vorausgegangener Störungen oder sonstiger Umstände Anlaß, an der Funktionstüchtigkeit seines Telefaxgerätes zu zweifeln, so war er gehalten, zur Vermeidung von Fristversäumnissen Vorsorge für eine rechtzeitige Übermittlung auf anderem Wege treffen.

Die bisherigen Feststellungen des LSG reichen nicht aus, hier ein solchermaßen schuldhaftes Verhalten des früheren Prozeßbevollmächtigten des Klägers anzunehmen. Nach dem mit der Berufungseinlegung vorgetragenen Sachverhalt, dessen Richtigkeit eidesstattlich versichert worden ist, wurde der Betrieb des Telefaxgerätes wahrscheinlich durch eine Störung im Stromleitungssystem am Abend des Fristablaufs lahmgelegt. Hat der damalige Bevollmächtigte des Klägers den “Quasi-Stromausfall”, der die Lampen fast hatte erlöschen lassen, bemerkt und mußte er damit rechnen, daß dadurch die Funktionsfähigkeit seines Telefaxgerätes beeinträchtigt worden war, müßte es ihm zur Last gelegt werden, daß er das Gerät nicht umgehend überprüft und nach Feststellung der Störung im Rahmen der noch verbleibenden Zeit einen anderen Weg zur Übermittlung der Berufungsschrift beschritten hat. Insofern ist zunächst von Bedeutung, ob die Stromstörung, wie der frühere Prozeßbevollmächtigte des Klägers zur Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde vorgetragen hat, “schon einige Stunden zuvor” (dh einige Stunden vor 23.30 Uhr) oder, wie die jetzigen Bevollmächtigten in der Revisionsbegründungsschrift dargelegt haben, erst “kurz vor Mitternacht” eingetreten ist. Darüber hinaus kommt es darauf an, ob der Rechtsanwalt damals Veranlassung hatte, das Telefaxgerät deutlich vor 23.30 Uhr sicherheitshalber zu testen. Eine regelmäßige Kontrolle der Funktionstüchtigkeit seiner technischen Einrichtungen kann dem Verwender zwar grundsätzlich angesonnen werden, dies aber nicht in stündlichen Abständen oder auch nur im Laufe eines Abends, wenn das Gerät ordnungsgemäß gewartet und, wie in der Revisionsinstanz vorgetragen, tagsüber noch ohne Beanstandung gelaufen war. Auch ein Quasi-Stromausfall muß nicht ohne weiteres in jedem Fall Zweifel an der Funktionsfähigkeit eines Telefaxgerätes aufkommen lassen. Im allgemeinen kann davon ausgegangen werden, daß moderne technische Geräte gegen Stromschwankungen oder Stromausfälle, die sich dem eigenen Einfluß- und Kontrollbereich entziehen, ausreichend gesichert sind. So enthalten elektrische Geräte vielfach eine zusätzliche Stromquelle oder zumindestens ein Warnsignal für den Fall einer Funktionsstörung nach vorausgegangenem Stromausfall. Der damalige Prozeßbevollmächtigte des Klägers mußte folglich mit einem Defekt seines Gerätes nur dann rechnen, wenn er Kenntnis von einer entsprechenden Störungsanfälligkeit hätte oder ihm dieses Risiko nur aus Nachlässigkeit unbekannt war. Das wäre insbesondere bei deutlichen Hinweisen in der Betriebsanleitung des Gerätes der Fall.

Der erkennende Senat ist zwar revisionsrechtlich nicht gehindert, den zur Beurteilung der Wiedereinsetzung relevanten Sachverhalt von Amts wegen selbst zu ermitteln (vgl Meyer-Ladewig aaO, § 67 RdNr 15, § 163 RdNr 5, mwN), er hält es jedoch für tunlich, daß die noch fehlenden Ermittlungen von dem ortsnäheren LSG nachgeholt werden, zumal diese sich dadurch schwieriger gestalten, daß der den Kläger damals vertretende Rechtsanwalt zwischenzeitlich verstorben ist. Sollte das LSG unter Berücksichtigung der Rechtsauffassung des Senats (vgl § 170 Abs 5 SGG) aufgrund der noch zu ermittelnden Umstände insbesondere zu dem Ergebnis gelangen, daß die Betriebsstörung des Telefaxgerätes auch nach dem “Beinahe-Stromausfall” für den Anwalt nicht voraussehbar war, so wird es dem Wiedereinsetzungsantrag zu entsprechen haben. Bei der sich dann anschließenden Prüfung der materiellen Rechtslage müßte zunächst der Beruf des Kläges als selbständiger Radio- und Fernsehtechnikermeister in das vom BSG entwickelte Mehrstufenschema eingeordnet werden. Insofern wäre nach den für selbständig tätige Handwerksmeister aufgestellten Grundsätzen (vgl BSG SozR 2200 § 1246 Nr 35) eine Einstufung in die Gruppe der besonders hoch qualifizierten Facharbeiter in Betracht zu ziehen. Hieran schlösse sich die Suche nach einer dem Kläger sozial zumutbaren Verweisungstätigkeit an, die mit ihrem berufskundlich zu ermittelnden Anforderungsprofil dem medizinisch festgestellten Restleistungsvermögen des Klägers Rechnung tragen müßte (vgl dazu allgemein BSG, Urteil vom 8. Oktober 1 992 – 13/5 RJ 24/90 –).

Das LSG wird auch über die Kosten dieses Verfahrens zu befinden haben.

 

Fundstellen

Haufe-Index 793337

BSGE, 158

BB 1993, 1812

NZA 1993, 1056

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