Entscheidungsstichwort (Thema)

Antragserfordernis im Jugendhilferecht. Geldleistungen in der Jugendhilfe. Jugendhilfe, Legasthenietherapie als Maßnahme der –. Kenntnisgrundsatz, keine Geltung des – im Jugendhilferecht. Kostenübernahme als Maßnahme der Jugendhilfe. Legasthenietherapie, Kostenübernahme als Maßnahme der Jugendhilfe. Selbstbeschaffung in der Jugendhilfe. Wahl- und Wunschrecht und Selbstbeschaffung in der Jugendhilfe

 

Leitsatz (amtlich)

Leistungen der Jugendhilfe setzen grundsätzlich eine vorherige Antragstellung gegenüber dem Träger der öffentlichen Jugendhilfe voraus; eine Selbstbeschaffung ohne seine Zustimmung verpflichtet ihn grundsätzlich nicht zur Übernahme der Kosten.

 

Normenkette

SGB VIII §§ 35a, 5 S. 1; SGB I § 40 Abs. 1, § 16 Abs. 2; SGB X § 28; BSHG § 5

 

Verfahrensgang

VGH Baden-Württemberg (Urteil vom 17.06.1999; Aktenzeichen 2 S 196/99)

VG Stuttgart (Entscheidung vom 13.10.1997; Aktenzeichen 8 K 4114/96)

 

Tenor

Das Urteil des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg vom 17. Juni 1999 wird aufgehoben.

Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an den Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg zurückverwiesen.

Die Entscheidung über die Kosten bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.

 

Tatbestand

I.

Bei der 1983 geborenen, schwer behinderten Klägerin besteht eine Lese- und Rechtschreibschwäche (Legasthenie). Sie erhielt deswegen ab dem 1. Februar 1994 Einzeltherapie in einer heilpädagogischen-psychologischen Praxis. Die Therapiekosten (monatlich 280 DM) trugen die Eltern der Klägerin zunächst selbst.

Nachdem die Eltern der Klägerin am 26. Oktober 1995 beim Beklagten die Übernahme der Therapiekosten beantragt hatten, gab der Beklagte auf der Grundlage eines von ihm eingeholten ärztlichen Zeugnisses des Gesundheitsamtes dem Antrag durch Bescheid vom 18. März 1996 nach § 35a Abs. 1 SGB VIII ab dem 1. Oktober 1995 statt. Zur Begründung ihres Widerspruchs, mit dem sie eine Kostenübernahme auch für den zurückliegenden Zeitraum (1. Februar 1994 bis 30. September 1995) begehrten, trugen die Eltern der Klägerin u.a. vor, seit 1993 sei amtlich bekannt, dass ihre Tochter Legasthenikerin sei; der Leiter des Amtes für Soziale Dienste bei der Stadt L.…, bei dem sie sich im März 1994 nach den Möglichkeiten finanzieller Hilfen durch die Gemeinde erkundigt hätten, habe ihnen die Auskunft gegeben, dass ein Antrag beim Jugendamt in E.… zu stellen sei, ein Erfolg seiner Erfahrung nach aber äußerst zweifelhaft wäre; auch “die Jugendhilfe E.… mit Sitz in B.…” sei “nicht in der Lage (gewesen), Möglichkeiten einer Kostenübernahme … zu veranlassen”. Der Beklagte wies den Widerspruch durch Widerspruchsbescheid vom 5. September 1996 mit der Begründung zurück, das Verwaltungsverfahren zur Gewährung von Eingliederungshilfe nach § 35a SGB VIII habe erst ab Antragstellung eingeleitet werden dürfen; eine rückwirkende Kostenübernahme vor dem Monat der Antragstellung sei nicht möglich.

Mit der zunächst von den Eltern der Klägerin erhobenen Klage machten diese u.a. geltend, sie hätten den Antrag deswegen erst im Oktober 1995 gestellt, weil sie vorher aufgrund falscher Informationen von einer Behörde zur anderen geschickt worden seien; sie behaupteten u.a., in einem Telefonat im April 1995 mit der zuständigen Außenstelle des Beklagten in B.… sei ihr Antrag auf Kostenübernahme “wiederum abschlägig beschieden” worden; in dieser Zeit sei es noch gängige Praxis gewesen, Eingliederungshilfe für Legastheniker grundsätzlich abzulehnen; die Voraussetzungen und der Bedarf an Eingliederungshilfe seien vorliegend unzweifelhaft ab Februar 1994 gegeben gewesen.

Das Verwaltungsgericht hat der Klage stattgegeben, dabei aber offen gelassen, ob bereits im April 1995 in der Außenstelle B.… des Beklagten ein fernmündlicher Antrag gestellt worden ist oder sich der Beklagte eine etwaige Anfrage der Eltern der Klägerin bei der Gemeinde als Antragstellung zurechnen lassen muss. Der Verwaltungsgerichtshof hat – nach Verfahrenseintritt der Klägerin anstelle ihrer Eltern – die Berufung des Beklagten zurückgewiesen. Das Berufungsurteil ist im Wesentlichen wie folgt begründet:

Rechtsgrundlage des Kostenübernahmeanspruchs sei § 35a Abs. 1 Satz 1 und 2 Nr. 1 SGB VIII; das Landesrecht sehe vor, dass Maßnahmen für seelisch behinderte oder von einer solchen Behinderung bedrohte junge Menschen nach dem Achten Buch Sozialgesetzbuch den Leistungen der Eingliederungshilfe nach dem Bundessozialhilfegesetz vorgingen. Unter den Beteiligten sei nicht streitig, dass die Klägerin die Anspruchsvoraussetzungen für eine Eingliederungshilfe nach jener Vorschrift erfülle; ebenso unstreitig sei, dass die von der Klägerin gewählte Maßnahme zur Abdeckung ihres Hilfebedarfs geeignet und notwendig und dies bereits im streitigen Zeitraum vom 1. Februar 1994 bis 30. September 1995 der Fall gewesen sei. Eine Kostenübernahme für die Zeit vor dem Monat der Antragstellung (Oktober 1995) sei nicht aus Rechtsgründen ausgeschlossen. Ein Verwaltungsverfahren könne zwar nur auf einen entsprechenden Antrag durchgeführt werden; ergebe aber die Prüfung im Verwaltungsverfahren, dass die Anspruchsvoraussetzungen vorliegen, habe der Träger der öffentlichen Jugendhilfe die notwendige und erforderliche Hilfe entweder durch eigene oder durch die Inanspruchnahme fremder Einrichtungen zu gewähren und die hierbei anfallenden Kosten zu tragen. Habe – wie im vorliegenden Fall – der Leistungsberechtigte die notwendige Eingliederungshilfe anderweitig erhalten und hätten die gesetzlichen Voraussetzungen für die Gewährung der Hilfe vorgelegen, müsse der Jugendhilfeträger auch noch nachträglich diese Hilfe leisten, indem er die Kosten der bereits durchgeführten Maßnahme übernehme. Deshalb könne offen bleiben, ob die Mutter der Klägerin bereits im März 1994 bei der Stadt L.… einen Antrag auf nachträgliche Kostenübernahme gestellt habe und deshalb die Fiktion des § 16 Abs. 2 Satz 2 SGB I eingetreten sei.

Mit seiner Revision rügt der Beklagte die Verletzung materiellen Rechts und wendet er sich gegen die Deutung des Verhaltens der Eltern der Klägerin im März 1994 als (mündliche) Antragstellung; im Übrigen seien die Eltern der Klägerin nach eigenem Vorbringen zu diesem Zeitpunkt auf den zuständigen Leistungsträger hingewiesen worden.

Der Oberbundesanwalt beim Bundesverwaltungsgericht ist der Auffassung, eine nachträgliche Kostenübernahme durch den Jugendhilfeträger könne grundsätzlich nicht beansprucht werden; im Recht der Kinder- und Jugendhilfe gebe es kein generelles Recht auf Selbstbeschaffung. Überdies sei die Feststellung des Verwaltungsgerichtshofs, dass die Klägerin wegen Legasthenie Eingliederungshilfe brauche, hinsichtlich der Anspruchsvoraussetzungen des § 35a SGB VIII nicht ausreichend fundiert.

 

Entscheidungsgründe

II.

Die Revision ist begründet. Das Berufungsurteil beruht auf der Verletzung von Bundesrecht (vgl. § 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO), sodass es aufzuheben ist (§ 144 Abs. 3 Satz 1 VwGO).

1. Zu Unrecht meint der Verwaltungsgerichtshof, ein Anspruch der Klägerin auf Eingliederungshilfe nach § 35a des Achten Buches Sozialgesetzbuch – SGB VIII – in der hier noch anzuwendenden Fassung der Bekanntmachung vom 3. Mai 1993 (BGBl I S. 637), geändert durch Art. 5 des Gesetzes vom 13. Juni 1994 (BGBl I S. 1229) auf Übernahme der in dem streitigen Zeitraum (1. Februar 1994 bis 30. September 1995) entstandenen Kosten der Legasthenietherapie setze nicht voraus, dass die Eingliederungshilfe vor Beginn der Therapie beim Beklagten beantragt bzw. dieser von dem Hilfebedarf der Klägerin in Kenntnis gesetzt wurde.

Zwar geht das Berufungsgericht unter Bezug auf Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts (Beschluss vom 25. August 1987 – BVerwG 5 B 50.87 – Buchholz 436.51 § 5 JWG Nr. 2; Urteil vom 13. Juni 1991 – BVerwG 5 C 27.88 – Buchholz 436.51 § 6 JWG Nr. 13) zu Recht davon aus, dass dann, wenn die gesetzlichen Voraussetzungen für die Gewährung von Jugendhilfe vorlagen, erforderliche Maßnahmen aber nicht vom Träger der öffentlichen Jugendhilfe, sondern von Dritten durchgeführt wurden, der Träger der öffentlichen Jugendhilfe Jugendhilfe noch nachträglich leisten könne und müsse, indem er die Kosten der bereits durchgeführten Maßnahmen übernimmt. Aber das belegt nicht die Auffassung des Berufungsgerichts, dass die Leistungsverpflichtung des Trägers der öffentlichen Jugendhilfe nicht einen Hilfeantrag des Leistungsberechtigten vor Beginn der auf den Hilfebedarf gerichteten Maßnahmen voraussetze.

Ob der Träger der öffentlichen Jugendhilfe die Kosten einer Maßnahme übernehmen muss, die durchgeführt worden ist, bevor der Hilfebedarf an ihn herangetragen worden ist, richtet sich nach den allgemeinen Regeln des Sozialleistungsrechts in Verbindung mit den Besonderheiten des Leistungsrechts des Achten Buches Sozialgesetzbuch. Die für das Sozialrecht allgemein geltende verfahrensrechtliche Regelung des § 28 SGB X zeigt, dass der Gesetzgeber im Grundsatz davon ausgeht, dass Sozialleistungen einen “rechtzeitigen Antrag” (§ 28 Satz 2 SGB X), also eine Antragstellung voraussetzen, die nicht auf eine nachträgliche Kostenübernahme gerichtet ist, sondern dem Leistungsträger eine zeit- und bedarfsgerechte Leistungserbringung nach ordnungsgemäßer Prüfung der Anspruchsvoraussetzungen ermöglicht. Zudem spricht § 8 SGB I in Bezug auf die Kinder- und Jugendhilfe vom Recht, Leistungen der öffentlichen Jugendhilfe “in Anspruch zu nehmen”, regelt § 14 SGB I, dass für die Beratung diejenigen Leistungsträger zuständig sind, denen gegenüber die Rechte “geltend zu machen … sind”, verpflichtet § 16 Abs. 3 SGB I die Leistungsträger, darauf hinzuwirken, dass unverzüglich klare und sachdienliche “Anträge gestellt … werden”, und bestimmt § 27 Abs. 1 SGB I, dass nach dem Recht der Kinder- und Jugendhilfe Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe – nach Nummer 4 Eingliederungshilfe – “in Anspruch genommen werden” können. Gegenteiliges ergibt sich nicht aus § 40 Abs. 1 SGB I, wonach Ansprüche auf Sozialleistungen entstehen, sobald ihre im Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes bestimmten Voraussetzungen vorliegen. Ob zu diesen Voraussetzungen die Stellung eines Leistungsantrags oder behördliche Kenntnis vom Bestehen des Hilfebedarfs gehören oder nicht, kann nicht – wie dies im Berufungsurteil geschehen ist – § 40 Abs. 1 SGB I selbst entnommen, sondern muss unter Berücksichtigung der Besonderheiten des jeweiligen Sozialleistungsbereichs ermittelt werden.

Das Achte Buch Sozialgesetzbuch trifft insoweit keine ausdrückliche gesetzliche Regelung. Das Gesetz enthält insbesondere keine Vorschrift, die – wie § 5 BSHG – eine antragsunabhängige, schon aufgrund Kenntnis der Behörde von ihren rechtlichen und tatsächlichen Voraussetzungen einsetzende Hilfe vorsieht. Allerdings findet sich im Achten Buch Sozialgesetzbuch auch keine ausdrückliche Bestimmung, wonach Leistungen der Jugendhilfe (§ 2 Abs. 2 SGB VIII), hier speziell der Eingliederungshilfe nach § 35a SGB VIII, nur aufgrund eines (vorherigen) Antrags des Anspruchsberechtigten erbracht werden (dürfen). Auch eine Kostentragung im Sinne der Übernahme von Kosten für anderweitig, d.h. von Dritten (hier im Legasthenie-Zentrum S.…), nicht vom Träger der öffentlichen Jugendhilfe selbst erbrachte Maßnahmen regelt das Gesetz nicht ausdrücklich. Wenn allerdings § 5 SGB VIII bestimmt, dass die Leistungsberechtigten das Recht haben, zwischen Einrichtungen und Diensten verschiedener Träger zu wählen, und dass der Wahl und den Wünschen entsprochen werden soll, sofern dies nicht mit unverhältnismäßigen Mehrkosten verbunden ist, so spricht das dafür, dass von Dritten auf einen Hilfebedarf durchgeführte Maßnahmen nur dann eine Leistungsverpflichtung des Trägers der öffentlichen Jugendhilfe auf Übernahme der hierfür erforderlichen Kosten bewirken, wenn der vor Beginn der Maßnahmen geäußerten Wahl bzw. den vor Beginn der Maßnahmen geäußerten Wünschen des Leistungsberechtigten zu entsprechen war. Auch spricht § 36 SGB VIII für die Notwendigkeit, dass der Leistungsberechtigte vor eigenmächtigem Maßnahmebeginn den Jugendhilfeträger auf Jugendhilfe in Anspruch nimmt, damit die erforderlichen und geeigneten Dienste, Einrichtungen und Hilfemaßnahmen zusammen mit den Beteiligten und im Zusammenwirken von Fachkräften beraten werden können. § 74 SGB VIII sodann, der die Förderung der freien Jugendhilfe durch die Träger der öffentlichen Jugendhilfe regelt, betrifft nur die institutionelle Förderung und die Rechtsbeziehungen zwischen den freien und den öffentlichen Trägern, nicht hingegen das Sozialrechtsverhältnis zwischen dem öffentlichen Jugendhilfeträger und dem individuell Leistungsberechtigten. Gleiches gilt für die §§ 89 ff. SGB VIII, die Vorschriften über die Kostenerstattung zwischen den öffentlichen Trägern der Jugendhilfe. § 92 SGB VIII schließlich, der Formen der Kostentragung durch die öffentliche Jugendhilfe regelt, begründet und verteilt die Kostenlast zwischen den Trägern der öffentlichen Jugendhilfe und dem Personenkreis, dem die Aufbringung der Mittel aus seinem Einkommen und Vermögen zuzumuten ist; die Vorschrift regelt jedoch nicht, ob und gegebenenfalls unter welchen Voraussetzungen der Träger der öffentlichen Jugendhilfe für die Kosten einer selbst beschafften Hilfeleistung aufzukommen hat.

Doch ergibt sich das Erfordernis einer vorherigen Antragstellung gegenüber dem öffentlichen Jugendhilfeträger mittelbar aus dem sonstigen Regelwerk des Gesetzes und vor dem Hintergrund seiner Zielsetzung. Es entspricht nicht der Aufgabe des Jugendhilfeträgers, (nur) Kostenträger und nicht zugleich Leistungsträger zu sein (ähnlich Neumann, RsDE 31/1996, 42 ≪59≫ in Bezug auf Sozialleistungsträger allgemein). Das auf der Grundlage des Achten Buches Sozialgesetzbuch bereit gehaltene Instrumentarium ist ein an den unterschiedlichen Lebenslagen von Familien orientiertes System von beratenden und unterstützenden Leistungen (s. die Begründung zum Entwurf der Bundesregierung zur Neuordnung des Kinder- und Jugendhilferechts – KJHG –, BTDrucks 11/5948 vom 1. Dezember 1989, S. 1; vgl. z.B. § 11 Abs. 3 Nr. 6, § 37 Abs. 1 Satz 2 SGB VIII). Mit dem jugendhilferechtlichen Ziel partnerschaftlicher Hilfe unter Achtung familialer Autonomie (BTDrucks a.a.O. S. 42) und dem kooperativen pädagogischen Entscheidungsprozess bei der Entscheidung über die Notwendigkeit und Geeignetheit der Jugendhilfe (vgl. BVerwGE 109, 155/167) wäre es unvereinbar, wenn sich die Funktion des Jugendamtes auf die eines bloßen Kostenträgers beschränkte, der erst nachträglich nach Durchführung einer selbst beschafften Hilfemaßnahme in die kostenmäßige Abwicklung des Hilfefalles eingeschaltet wird. Ebenso wie das Jugendamt “die Eltern und das Kind oder den Jugendlichen … von Anfang an in den Entscheidungsprozess einzubeziehen” hat (BTDrucks a.a.O. S. 73), muss auch der Hilfeberechtigte – jedenfalls grundsätzlich – den öffentlichen Jugendhilfeträger, soll dieser wegen der Kosten der Hilfemaßnahme in Anspruch genommen werden, von Anfang an in die Hilfesuche einbeziehen. Nur unter dieser Voraussetzung können die Träger der öffentlichen Jugendhilfe ihre aus § 79 Abs. 1 SGB VIII folgende Gesamtverantwortung für die Erfüllung ihrer gesetzlichen Aufgaben wie auch ihre Planungsverantwortung nach § 80 Abs. 1 Nr. 2 und 3 SGB VIII nicht nur institutionell, sondern auch durch die Hilfegestaltung im individuellen Einzelfall wahrnehmen (vgl. auch das Urteil des Senats vom 27. Januar 2000 – BVerwG 5 C 19.99 – FEVS 51, 347 = NDV-RR 2000, 67 = DVBl 2000, 1212 – Selbstbeschaffung eines Kinderkrippenplatzes –: “gegen eine rein nachfrageorientierte Auslegung des Bedarfsbegriffs” im Zusammenhang mit der Bestimmung des jugendhilferechtlichen Bedarfs an Kinderkrippenplätzen).

Diese Eigenart des Jugendhilferechts schließt es demgemäß für Leistungen der Jugendhilfe nach § 2 Abs. 2 SGB VIII aus, dass (öffentliche) Jugendhilfe – wie die Sozialhilfe nach § 5 BSHG – antragsunabhängig einsetzt; der Träger der öffentlichen Jugendhilfe muss für die Kosten der von Dritten durchgeführten Hilfemaßnahmen nur aufkommen, wenn der Hilfebedarf rechtzeitig an ihn herangetragen worden ist.

Auch mit der Vorgeschichte des Achten Buches Sozialgesetzbuch lässt sich – worauf der Oberbundesanwalt mit Recht hinweist – belegen, dass ein Selbstbeschaffungsrecht ohne Billigung des Jugendhilfeträgers, insbesondere also auch Antragsunabhängigkeit im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe, nicht besteht. Zwar ist im Rahmen der Reform des Jugendhilferechts die Aufnahme einer § 5 Abs. 1 BSHG entsprechenden Regelung diskutiert worden. Eine von der Bundesregierung vorgeschlagene Regelung, die vorsah, dass Leistungen der Jugendhilfe vorbehaltlich abweichender Bestimmungen nicht von einem Antrag abhängig sind (§ 7 Abs. 2 Satz 1 des Regierungsentwurfs eines Sozialgesetzbuches – Jugendhilfe – BTDrucks 8/2571 vom 14. Februar 1979, S. 9), ist jedoch im Verlaufe des weiteren Gesetzgebungsverfahrens abgelehnt und nicht wieder aufgegriffen worden. Dasselbe gilt für den Kenntnisgrundsatz entsprechend demjenigen des § 5 BSHG, wonach die Hilfeleistung zwar antragsunabhängig ist, aber Kenntnis des öffentlichen Leistungsträgers vom Hilfebedarf voraussetzt.

Aus dem Fehlen einer § 5 BSHG vergleichbaren Vorschrift im Achten Buch Sozialgesetzbuch lässt sich aber auch nicht umgekehrt folgern, dass es nicht einmal auf (vorherige) Kenntnis des Jugendamtes von dem Hilfebedarf ankommen solle, um einen (jugendhilferechtlichen) Anspruch auf nachträgliche Kostenübernahme zu begründen. Die Gründe dafür, dass in das SGB VIII keine dem Kenntnisgrundsatz des § 5 BSHG entsprechende Regelung aufgenommen wurde, lagen – wie das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend in seiner Stellungnahme dargelegt hat – in der Haltung des Bundesrates begründet, der eine solche Regelung wegen der damit verbundenen Kosten und aus verfassungsrechtlichen Gründen – mit Blick auf staatliche Eingriffe in die Erziehungsaufgaben der Eltern und aufgedrängte Hilfen – ablehnte, waren aber in keiner Weise von der Zielsetzung getragen, in der Jugendhilfe ein generelles Selbstbeschaffungsrecht einzuführen oder zuzulassen.

Der Oberbundesanwalt sieht allerdings Raum für ein Recht des Leistungsberechtigten auf Selbstbeschaffung, wenn “ein durch die Struktur der Kinder- und Jugendhilfe bedingter Ausnahmetatbestand vorliegt”: Der Normzweck könne vereitelt werden, wenn z.B. bei einem Bedarf an Beratung das Jugendamt über den Hilfebedarf in Kenntnis gesetzt werden müsste, obwohl eine Beratungsleistung von seiner Seite weder erwartet noch überhaupt gewünscht werde. Dem ist hier jedoch nicht weiter nachzugehen, da eine solche Fallgestaltung nicht vorliegt. Es ist auch nichts dafür ersichtlich, dass es der Klägerin nicht zumutbar gewesen wäre, vor Aufnahme der Legasthenietherapie wegen einer solchen Hilfe- bzw. etwaigen Kostenübernahme zunächst an den Jugendhilfeträger heranzutreten. Zwar wird die Auffassung vertreten, dass von einem vorherigen Antrag auf die benötigte Hilfe abgesehen werden könne, wenn “von vornherein klar (sei), dass der Leistungsträger nicht leisten wird – etwa weil dies seiner ständigen Praxis entspricht” (so Mrozynski, NDV 2000, 110 ≪111≫, unter Bezugnahme auf Rechtsprechung des BSG, die allerdings mit Rücksicht auf § 13 Abs. 3 SGB V überholt ist; vgl. demgegenüber z.B. BSG, Urteil vom 14. Dezember 1982 – 8 RK 23/81 – SozR 2200 § 182 RVO Nr. 86). Von einem solchen Sachverhalt mag vorliegend auszugehen sein; denn der Beklagte hält sich für Hilfeleistungen der hier in Rede stehenden Art offenbar erst seit dem Ergehen einer diesbezüglichen Gerichtsentscheidung (Beschluss des VGH Mannheim vom 3. Mai 1995 – 7 S 567/95 –) für zuständig. Doch wäre ihm die Berufung auf das Fehlen eines Leistungsantrags der Klägerin für den hier streitigen Zeitraum entsprechend dem Rechtsgedanken des § 162 Abs. 2 BGB allenfalls dann versagt, wenn er die Klägerin von einer Antragstellung abgehalten hätte (vgl. BVerwGE 9, 89 ≪91 f.≫). Dies war aber nicht der Fall.

2. Die Klägerin kann vom Beklagten nach den vorstehenden Ausführungen die Übernahme der in dem streitigen Zeitraum entstandenen Kosten ihrer Legasthenietherapie folglich nur beanspruchen, wenn und soweit sie bzw. ihre Eltern die Kostenübernahme rechtzeitig vor Durchführung der Therapie beantragt haben und wenn auch die übrigen – materiellen – Anspruchsvoraussetzungen nach § 35a SGB VIII im hier streitigen Zeitraum erfüllt waren. Insoweit muss die Sache zur weiteren Sachverhaltsaufklärung an das Berufungsgericht zurückverwiesen werden (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO).

Nach Annahme der Vorinstanz hat der Therapiebedarf der Klägerin unstreitig bestanden. Die materiellen Voraussetzungen eines Hilfeanspruchs nach § 35a SGB VIII in Verbindung mit §§ 3 und 5 EingliederungshilfeVO, insbesondere die Voraussetzungen für die Annahme einer seelischen Behinderung, hat der erkennende Senat, anknüpfend an seine Rechtsprechung zu § 39 BSHG (Urteil vom 28. September 1995 – BVerwG 5 C 21.93 – Buchholz 436.0 § 39 BSHG Nr. 16 S. 11), dahin konkretisiert, dass entscheidend ist, ob seelische Störungen nach Breite, Tiefe und Dauer so intensiv sind, dass sie die Fähigkeit zur Eingliederung in die Gesellschaft beeinträchtigen (Urteil vom 26. November 1998 – BVerwG 5 C 38.97 – Buchholz 436.511 § 35a KJHG/SGB VIII Nr. 1 – Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom –).

Was das Erfordernis einer vorherigen Antragstellung betrifft, ist vom Berufungsgericht bisher festgestellt worden, dass mit der Therapie begonnen wurde, ohne dass zuvor der Beklagte mit dem Fall der Klägerin befasst und seine Hilfe beantragt worden war. Auf der Grundlage der bisherigen Tatsachenfeststellungen kann indessen nicht mit Sicherheit ausgeschlossen werden, dass mit der Bitte um “Auskunft”, wie sie die Eltern der Klägerin im März 1994 – nach Therapiebeginn im Februar 1994 – an den Leiter des für die Stadt L.… zuständigen Sozialen Dienstes herangetragen haben wollen, ein auf die Sozialleistung gerichteter Antrag in der Form schlüssigen Verhaltens verbunden war. Die Erklärung der Mutter der Klägerin gegenüber dem Berufungsgericht, sie habe “dann von einer Antragstellung beim Landratsamt abgesehen”, das nach der Auskunft des Sozialamtsleiters zuständig sei, “wenn überhaupt Leistungen der Jugendhilfe in Betracht kämen” (siehe Seite 3 der Sitzungsniederschrift vom 17. Juni 1999), mag gegen die Annahme eines Leistungsantrags auf öffentliche Jugendhilfe (bereits) zu diesem Zeitpunkt sprechen. Eine diesbezügliche Würdigung des Geschehensablaufs ist aber der Tatsacheninstanz vorbehalten. Wenn mit der Rücksprache bei dem – für Leistungen der Jugendhilfe nicht zuständigen – Sozialdienst der Stadt L.… ein Antrag nicht verbunden war, führt auch die Regelung des § 16 Abs. 2 Satz 2 SGB I nicht zu einer Zurechnung zu Lasten des Beklagten. Wenn auch das Auskunftsersuchen der Eltern der Klägerin dem Sozialdienst der Stadt L.… zugleich Kenntnis vom Hilfebedarf vermittelt haben mag, genügt dies nicht, um die Rechtsfolgen aus § 16 Abs. 2 Satz 2 SGB I auszulösen, da diese Vorschrift die Stellung eines Antrags voraussetzt. Eine Regelung, die – wie § 5 Abs. 2 Satz 2 BSHG – an bloße Kenntnis eines nicht zuständigen Leistungsträgers oder einer nicht zuständigen Gemeinde von dem Hilfebegehren anknüpft, besteht im Recht der Kinder- und Jugendhilfe, wie ausgeführt, gerade nicht. § 5 Abs. 2 Satz 2 BSHG kann als Sonderregelung auch nicht verallgemeinernd auf das Jugendhilferecht übertragen und so mit der dort geltenden – allgemeineren – Regelung des § 16 Abs. 2 Satz 2 SGB I verknüpft werden.

Die Klägerseite hat allerdings vor dem Verwaltungsgericht (Schriftsatz vom 15. Oktober 1997) auch eine Antragstellung im April 1995 (gegenüber der “zuständigen Außenstelle B.…”) behauptet. Hierzu hat der Verwaltungsgerichtshof sich nicht verhalten. Auch diesem Gesichtspunkt, der im Falle seiner Erweislichkeit auf der Grundlage von § 16 Abs. 2 Satz 2 SGB I zur Begründetheit eines Kostenübernahmeanspruchs jedenfalls ab April 1995 führen würde, wird durch weitere Sachverhaltsaufklärung nachzugehen sein.

 

Unterschriften

Dr. Säcker, Prof. Dr. Pietzner, Schmidt, Dr. Rothkegel, Dr. Franke

 

Fundstellen

BVerwGE, 98

FamRZ 2001, 1452

DÖV 2001, 909

FEVS 2001, 532

NDV-RD 2001, 85

ZfF 2003, 163

ZfJ 2001, 310

ZfSH/SGB 2001, 558

br 2002, 23

DVBl. 2001, 1060

GV/RP 2001, 680

Jugendhilfe 2001, 157

FuBW 2002, 106

FuHe 2003, 81

FuNds 2003, 118

FuNds 2003, 122

FuNds 2003, 123

info-also 2002, 86

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