Entscheidungsstichwort (Thema)

Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Ein Beschwerdeführer hat vor Einlegung einer Verfassungsbeschwerde alle prozessualen Möglichkeiten auszuschöpfen, um bereits im Ausgangsverfahren eine Korrektur der geltend gemachten Grundrechtsverletzung zu erwirken. Wird eine Revision nicht zugelassen, so muß der Betroffene nicht nur regelmäßig Nichtzulassungsbeschwerde (NZB) erheben, sondern diese auch ausreichend begründen. Hier: NZB im Rechtsstreit wegen Ablehnung einer Wiedereinsetzung in den vorigen Stand im Verwaltungsverfahren als unzulässig verworfen.

2. Läßt eine Widerspruchsbehörde bei der Versagung der Wiedereinsetzung die Grundsätze der Rechtsschutzgarantie und des Anspruchs auf rechtliches Gehör außer acht, so kann in der Billigung dieser Entscheidung durch die Gerichte eine Verkennung der genannten Prozeßgrundrechte liegen.

 

Normenkette

BVerfGG § 90 Abs. 2 S. 1, § 92; GG Art. 103 Abs. 1, Art. 19 Abs. 4

 

Verfahrensgang

BSG (Beschluss vom 31.07.1995; Aktenzeichen 6 BKa 21/94)

LSG Niedersachsen (Urteil vom 20.04.1994; Aktenzeichen L 5 Ka 26/93)

SG Hannover (Entscheidung vom 15.07.1993; Aktenzeichen S 5 Ka 17/93)

 

Tatbestand

I.

Die Verfassungsbeschwerde betrifft Fragen der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand.

1. Der Beschwerdeführer ist Arzt für innere Medizin. Seinen Angaben zufolge hat er gegen einen am 23. September 1991 zugegangenen Bescheid über die Kürzung seiner Honorarforderungen durch die Kassenärztliche Vereinigung umgehend Widerspruch erhoben. Er habe den Widerspruch am 25. September 1991 schreiben lassen und am folgenden Tag persönlich in L. in einen Briefkasten der Post eingeworfen. Das Original des Widerspruchsschreibens kam allerdings bei der zuständigen Beschwerdekommission nicht an. Als der Beschwerdeführer einige Monate später erfuhr, daß sein Schreiben nicht eingegangen war, wiederholte er seinen Widerspruch und beantragte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Zur Begründung legte er eine schriftliche Erklärung seiner Sekretärin vor, daß sie den Widerspruch am 25. September 1995 geschrieben habe. Ferner bot er der Beschwerdekommission die Abgabe einer eidesstattlichen Versicherung darüber an, daß er den Brief am folgenden Tag zur Post gegeben habe. Eine entsprechende eidesstattliche Versicherung legte er später im Berufungsverfahren vor.

Die Beschwerdekommission wies den Widerspruch als verspätet zurück und führte in den Gründen ihres Bescheids aus, daß eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ausscheide, weil dem Beschwerdeführer das Ausbleiben der Eingangsbestätigung der Prüfungskommission über den Widerspruch hätte auffallen müssen.

2. Auch im Rechtsweg blieb der Beschwerdeführer in allen Instanzen erfolglos.

Das Landessozialgericht führte in seinem Berufungsurteil aus, der Beschwerdeführer habe nicht glaubhaft gemacht, daß sein Brief in den Postweg gelangt und somit ohne sein Verschulden in Verlust geraten sei. Seine eidesstattliche Versicherung sei zwar als Beweismittel zulässig, habe aber nicht den gleichen Beweiswert wie das Vorhandensein von Belegen und könne daher nur dann als ausreichend angesehen werden, wenn zusätzliche Anhaltspunkte gegeben seien, die die versicherte Behauptung des Beschwerdeführers stützten (Bezugnahme auf OVG Lüneburg, NJW 1991, S. 1196).

Mit der Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision machte der Beschwerdeführer geltend, daß das Landessozialgericht von der Entscheidung des Bundessozialgerichts vom 10. Dezember 1974 (BSGE 38, 248 ≪260≫) abgewichen sei. Ferner liege ein Verfahrensfehler des Landessozialgerichts vor, weil es die Anforderungen an die Gewährung der Wiedereinsetzung überspannt und dadurch das rechtliche Gehör verletzt habe.

Das Bundessozialgericht verwarf die Nichtzulassungsbeschwerde als unzulässig. Die Begründung der Divergenzrüge lasse nicht erkennen, welcher abstrakte Rechtssatz in der zitierten Entscheidung des Bundessozialgerichts enthalten sei und welcher im Urteil des Landessozialgerichts enthaltene Rechtssatz dazu in Widerspruch stehe. Aus der Begründung der Verfahrensrüge ergebe sich nicht, daß und inwiefern dem Beschwerdeführer die Möglichkeit der Äußerung zu den für die Entscheidung erheblichen Tatsachen und Beweisergebnissen versagt worden sei. Die Verkennung oder Überspannung des Rechtsbegriffs der Glaubhaftmachung stelle als solche keine Verletzung des rechtlichen Gehörs dar.

3. Mit der fristgerecht eingegangenen Verfassungsbeschwerde macht der Beschwerdeführer geltend, die Behörden und Gerichte hätten das Gebot der rechtsstaatlichen Verfahrensgestaltung aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG und den Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) mißachtet. Die Beschwerdekommission und die Fachgerichte hätten die Anforderungen an die Glaubhaftmachung so hoch geschraubt, daß sie einem Vollbeweis faktisch nahe kämen. Einem Bürger in der Situation des Beschwerdeführers werde es dadurch im Ergebnis unmöglich gemacht, Wiedereinsetzung zu erlangen.

 

Entscheidungsgründe

II.

Die Voraussetzungen für die Annahme der Verfassungsbeschwerde (§ 93 a BVerfGG) liegen nicht vor. Die Verfassungsbeschwerde kann wegen des Grundsatzes der Subsidiarität keinen Erfolg haben. Damit kommt ihr weder grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung zu, da sie nicht zu einer Prüfung der aufgeworfenen Sachfragen führen könnte. Ebenso ist wegen der aus formellen Gründen fehlenden Erfolgsaussicht der Verfassungsbeschwerde deren Annahme nicht zur Durchsetzung von Grundrechten oder grundrechtsgleichen Rechten angezeigt.

Der Grundsatz der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde gebietet es, daß der Beschwerdeführer im Ausgangsverfahren alle prozessualen Möglichkeiten ausschöpft, um eine Korrektur der geltend gemachten Verfassungsverletzung zu erwirken (BVerfGE 84, 203 ≪208≫; stRspr). Wird die Revision nicht zugelassen, muß der Beschwerdeführer nicht nur regelmäßig Nichtzulassungsbeschwerde erheben (vgl. BVerfGE 16, 1 ≪2 f.≫), sondern diese auch ausreichend begründen (vgl. BVerfGE 83, 216 ≪228≫).

Daran fehlte es im vorliegenden Fall, weil die vom Beschwerdeführer erhobenen Rügen unsubstantiiert waren. Die zur Begründung der Divergenzrüge herangezogene Entscheidung des Bundessozialgerichts hatte mit der spezifischen Problematik des vorliegenden Falles nichts zu tun. Die vom Beschwerdeführer erhobene Verfahrensrüge konnte von vornherein keinen Erfolg haben. Im sozialgerichtlichen Revisionsverfahren kann nach allgemein anerkannter Rechtsauffassung eine Verfahrensrüge grundsätzlich nur auf Fehler im gerichtlichen Verfahren, nicht auf Mängel im vorangegangenen Verwaltungsverfahren gestützt werden (Meyer-Ladewig, SGG, 5. Aufl. 1993, § 160 Rn. 16; Peters/Sautter/Wolff, SGG, 4. Aufl., Stand 1993, § 144 Rn. 190 m.w.N.). Dies gilt auch für die Frage der Wiedereinsetzung im Vorverfahren (BSG, NJW 1958, S. 1320).

Aus der Rechtsschutzgarantie (Art. 19 Abs. 4 GG) und dem Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) können sich allerdings auch Vorwirkungen auf die Ausgestaltung des dem Gerichtsverfahren vorgelagerten Verwaltungsverfahrens ergeben; dieses darf nicht so angelegt werden, daß der gerichtliche Rechtsschutz vereitelt oder unzumutbar erschwert wird (vgl. BVerfGE 61, 82 ≪110≫ m.w.N.). Läßt etwa eine Widerspruchsbehörde, wie dies der Beschwerdeführer hier geltend macht, bei der Versagung der Wiedereinsetzung diese Grundsätze außer acht, so kann in der Billigung dieser Entscheidung durch die Gerichte eine Verkennung der Tragweite der genannten Prozeßgrundrechte liegen. Ein solcher Verstoß wäre jedoch durch den Inhalt der Gerichtsentscheidung und nicht durch die Verfahrensweise des Gerichts bewirkt. Es kann daher von Verfassungs wegen nicht beanstandet werden, daß das Bundessozialgericht in solchen Fällen einen Mangel des Verfahrens der vorausgegangenen Instanz, der eine Verfahrensrüge im Sinne von §§ 160 Abs. 2 Nr. 3, 160 a Abs. 2 Satz 3 SGG begründen könnte, verneint. An diesem Ergebnis ändert es nichts, daß der Aussage des Bundessozialgerichts in dem angegriffenen Beschluß, die Überspannung des Rechtsbegriffs der Glaubhaftmachung stelle als solche keine Verletzung des rechtlichen Gehörs dar, in ihrem Wortsinne von Verfassungs wegen nicht uneingeschränkt gefolgt werden könnte; denn das Bundessozialgericht hat diese Äußerung, wie sich aus dem Zusammenhang zweifelsfrei ergibt, nur auf eine Verletzung des rechtlichen Gehörs durch eigene Verfahrensfehler der Vorinstanz bezogen, nicht auf einen Verstoß durch den Inhalt der angefochtenen Entscheidung.

Sofern dem Beschwerdeführer keine zulässigen Divergenz- oder Verfahrensrügen zur Verfügung standen, wäre er nach dem Grundsatz der Subsidiarität gehalten gewesen, seine Nichtzulassungsbeschwerde mit einer grundsätzlichen Bedeutung der Sache zu begründen. Eine solche Rüge wäre nach Lage des Falles nicht offenbar aussichtslos gewesen (vgl. BVerfGE 16, 1 ≪2 f.≫). In seiner Nichtzulassungsbeschwerde hat er jedoch weder ausdrücklich eine solche Grundsatzrüge erhoben noch – wie es nach § 160 a Abs. 2 Satz 3 SGG erforderlich gewesen wäre – Ausführungen zur grundsätzlichen Bedeutung der Sache gemacht.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

 

Fundstellen

Haufe-Index 1518593

NVwZ-RR 1997, 72

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt SGB Office Professional . Sie wollen mehr?

Anmelden und Beitrag in meinem Produkt lesen


Meistgelesene beiträge