Leitsatz (redaktionell)

Auch unter der Herrschaft des Prinzips der Gewaltenteilung (GG Art 20 Abs 2) erschöpft sich die Tätigkeit des Richters nicht in der Rechtsanwendung im engeren Sinne, dh in der bloßen Subsumtion eines festgestellten Sachverhalts unter eine gegebene Rechtsnorm. Zu seinen legitimen Aufgaben gehört vielmehr auch, neben der Auslegung des anzuwendenden Rechts, die ergänzende und - in bestimmten Grenzen - die berichtigende (abändernde) Rechtsfindung, wobei die Ausfüllung der - vorgefundenen oder durch sogenannte restriktive Interpretation "geschaffen" - Rechtslücke in der Regel im Wege der Analogie erfolgt. Daß auch der Gesetzgeber von der Zulässigkeit dieser Rechtsfindungsmethoden ausgeht, zeigt SGG § 43, der - entsprechend GVG § 137, BVerwGG § 47 Abs 2 - den Richter der Sozialgerichtsbarkeit ausdrücklich zur Fortbildung des Rechts ermächtigt (Vergleiche BSG 1956-01-27 7 RAr 81/55 = BSGE 2, 164).

 

Leitsatz (amtlich)

Für die Frage der Anrechnung von Weihnachtszuwendungen auf den Jahresarbeitsverdienst ist seit dem Inkrafttreten des Kontrollratsgesetzes Nr 12 (1946-01-01) wieder der RAM-Erl 1943-01-06 Abschn 2 Abs 1 Nr 1 anzuwenden; danach sind nur solche Gratifikationen auf den Jahresarbeitsverdienst anzurechnen und daher für die Frage der Versicherungspflicht oder Versicherungsfreiheit von Bedeutung, die entweder ein Monatsgehalt übersteigen oder in einem Tarifvertrag, einer Betriebsvereinbarung, einer Dienstordnung oder in einem schriftlichen Vertrage festgelegt sind.

Zur Ausfüllung von Gesetzeslücken.

 

Normenkette

SGG § 43 Fassung: 1953-09-03; AVG § 1 Fassung: 1952-08-13, § 3 Fassung: 1952-08-13; RAMErl 1943-11-02 Abschn. 2 Abs. 1 Nr. 1; KRG Nr. 12

 

Tenor

Auf die Revision der beigeladenen Bundesversicherungsanstalt für Angestellte werden die Urteile des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 28. Mai 1957 und des Sozialgerichts Düsseldorf vom 14. Februar 1955 aufgehoben.

Die Klage wird abgewiesen.

Die Klägerin hat dem Beigeladenen W. die außergerichtlichen Kosten des Rechtsstreits zu erstatten. Im übrigen tragen die Beteiligten ihre Kosten selbst.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

I.

Der Beigeladene W war vom 1. August 1950 bis zum 30. Juni 1953 bei der klagenden Firma als Angestellter tätig, und zwar seit dem 1. Mai 1951 gegen ein Monatsgehalt von 725 DM. Nach seinem Ausscheiden bei der Klägerin forderte die beklagte Krankenkasse die Klägerin auf, vom 1. September 1952 an Beiträge zur Angestelltenversicherung (AV.) und Arbeitslosenversicherung (ArblV.) für den Beigeladenen nachzuentrichten; der Beigeladene sei mit dem 1. September 1952 angestellten- und arbeitslosenversicherungspflichtig geworden, weil sein Jahresarbeitsverdienst (JAV.) seitdem die - auf 9.000 DM erhöhte - Versicherungspflichtgrenze nicht mehr überschritten habe. Die Klägerin hält die Beitragsnachforderung für unbegründet. Sie ist der Ansicht, auf den JAV. des Beigeladenen müsse auch die Weihnachtsgratifikation angerechnet werden, die ihm regelmäßig, wenn auch ohne schriftliche Vereinbarung, in Höhe eines Monatsgehaltes gewährt worden sei; einschließlich der Gratifikation habe sein Einkommen auch in der fraglichen Zeit (1. September 1952 bis 30. Juni 1953) die Versicherungspflichtgrenze überschritten. Das Sozialgericht Düsseldorf schloß sich dieser Auffassung an: Im vorliegenden Falle sei die Weihnachtsgratifikation schon deswegen auf den JAV. anzurechnen, weil der Beigeladene infolge mehrmaliger vorbehaltloser Zahlung einen Rechtsanspruch darauf gehabt habe. Die Berufungen der beigeladenen Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA.) und der Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung (BfArb.) blieben erfolglos. Auch nach Ansicht des Berufungsgerichts genügt es für die Anrechnung einer Weihnachtszuwendung auf den JAV., daß ein Rechtsanspruch auf sie besteht. Die frühere abweichende Regelung in dem Erlaß des Reichsarbeitsministers vom 6. Januar 1943 (AN. 1943 S. 6), wonach Weihnachtszuwendungen, die nicht in einer Tarif-, Betriebs- oder Dienstordnung oder in einem schriftlichen Vertrage festgelegt sind, bis zur Höhe eines Monatsgehalts nicht auf den JAV. angerechnet werden, sei durch den Erlaß des Reichsarbeitsministers vom 24. Oktober 1944 (AN. 1944 S. 302) aufgehoben worden. Hiergegen wendet sich die - vom Landessozialgericht zugelassene - Revision der BfA. Die Revisionsklägerin ist der Meinung, die "formale" Aufhebung des Erlasses vom 6. Januar 1943 durch den Erlaß vom 24. Oktober 1944 beruhe auf einem Redaktionsversehen; der Erlaß sei weiterhin geltendes Recht und auch in der Praxis bisher stets angewendet worden. Das ohne schriftliche Vereinbarung gezahlte Weihnachtsgeld müsse daher bei der Berechnung des JAV. unberücksichtigt bleiben, so daß der Beigeladene Wenzel in der Zeit vom 1. September 1952 bis zum 30. Juni 1953 angestellten- und arbeitslosenversicherungspflichtig gewesen sei.

II.

Das Berufungsgericht hat die Berufungen der beigeladenen BfA. und BfArb. mit Recht als zulässig angesehen. Sie sind insbesondere nicht nach § 144 SGG ausgeschlossen; die von der beklagten Krankenkasse erhobene Beitragsnachforderung betrifft weder einmalige noch wiederkehrende "Leistungen" im Sinne des § 144 SGG (BSG. 6, 47 (50)). Die beklagte Krankenkasse ist auch - jedenfalls seit dem 1. Januar 1957 - als die richtige Beklagte anzusehen, da sie - in ihrer Eigenschaft als Einzugsstelle - den angefochtenen Beitragsbescheid vom 30. Oktober 1953 erlassen hat (§ 1399 Abs. 3 RVO n. F.; vgl. BSG. 6, 47 (51)).

Die Klägerin wendet sich mit der Klage gegen einen Verwaltungsakt, der sie verpflichtet, für ihren früheren Angestellten Wenzel, den Beigeladenen zu 3), Beiträge zur AV. und ArblV. nachzuentrichten. Da die Pflicht des Arbeitgebers zur (Nach-)Entrichtung von Beiträgen Versicherungspflicht auf Seiten des Arbeitnehmers voraussetzt, diese sich aber in der AV. und - bei Angestellten - auch in der ArblV. nach der Höhe des jährlichen Verdienstes richtet (§ 1 Abs. 2 Nr. 2 AVG i. d. F. der VO v. 17. März 1945, § 69 Nr. 2 AVAVG i. d. F. vom 12. Oktober 1929), hängt die Rechtmäßigkeit des angefochtenen Beitragsbescheides davon ab, ob der JAV. des Beigeladenen in der fraglichen Zeit (1. September 1952 bis 30. Juni 1953) die damals geltende Versicherungspflichtgrenze von 9.000 DM (§§ 5, 23 des Gesetzes vom 13. August 1952, BGBl. I S. 437) überschritten hat. Die Höhe des JAV. ist dabei, wenn die Entlohnung (und demgemäß die Beitragsentrichtung), wie hier, in monatlichen Zeitabschnitten erfolgt, nur im Wege der Schätzung zu ermitteln, indem den bekannten Bezügen des laufenden Beitragsmonats das für die jeweils folgenden elf Monate zu erwartende Einkommen hinzugeschlagen wird (vgl. Koch-Hartmann, AVG, 2. Aufl., S. 180).

Der Auffassung des Berufungsgerichts, das Einkommen des Beigeladenen habe in den Monaten September 1952 bis Juni 1953 die Versicherungspflichtgrenze von 9.000 DM überschritten, würde zuzustimmen sein, wenn auch die 1952 gewährte und für 1953 erwartete Weihnachtsgratifikation ganz - oder wenigstens ihr steuerpflichtiger Teil (625 DM) - auf den JAV. des Beigeladenen anzurechnen wäre. Das Berufungsgericht hat dies in der Tat angenommen, allein zu Unrecht. Dem Vorderrichter ist zwar insoweit beizutreten, als er denjenigen Teil der Weihnachtszuwendung, der nicht der Lohnsteuerpflicht und demgemäß auch nicht der Beitragspflicht in der Sozialversicherung unterlag (= 100 DM; vgl. § 6 Nr. 10 der Lohnsteuer-Durchführungsverordnung i. d. F. vom 12. Februar 1952, BGBl. I S. 97; Abschn. 1 Satz 1 des Gemeinsamen Erlasses - GemErl . - vom 10. September 1944, AN. 1944 S. 281), bei der Feststellung des JAV. unberücksichtigt gelassen hat (vgl. Erlaß des RAM vom 24.10.1944, AN. 1944 S. 302, unter Absatz 1). Das Berufungsgericht hätte jedoch auch den 100 DM übersteigenden Teil der Weihnachtszuwendung (= 625 DM) im vorliegenden Fall nicht auf den JAV. anrechnen dürfen. Dabei kann es für die Entscheidung des Falles dahingestellt bleiben, ob der Beigeladene, wie das Berufungsgericht annimmt, durch mehrmalige vorbehaltlose Zahlung einen Rechtsanspruch auf die Weihnachtsgratifikation erworben hatte. Auch wenn diese Frage mit dem Vorderrichter zu bejahen wäre, würde das Bestehen eines solchen Rechtsanspruchs allein die Anrechnung der Gratifikation auf den JAV. nicht rechtfertigen. Nach dem Erlaß des RAM vom 6. Januar 1943 (AN. 1943 S. 6) kommt es vielmehr darauf an, ob Weihnachtszuwendungen, soweit sie das Gehalt oder den Lohn für einen Monat nicht übersteigen, "in einer Tarif-, Betriebs- oder Dienstordnung oder in einem schriftlichen Vertrage festgelegt sind"; ist dies - wie hier - nicht der Fall, werden sie für die JAV.-Grenze nicht angerechnet (Abschn. II Abs. 1 Nr. 1 des Erlasses).

Der Erlaß vom 6. Januar 1943 ist formell gültig zustandegekommen. Er beruht hinsichtlich der hier in Betracht kommenden Bestimmungen auf einer Ermächtigung in § 9 Satz 2 der Verordnung zur Sicherstellung des Kräftebedarfs für Aufgaben von besonderer staatspolitischer Bedeutung vom 13. Februar 1939 (RGBl. I S. 209) und ist als Rechtsverordnung durch Bekanntmachung im Reichsarbeitsblatt wirksam verkündet worden (vgl. BSG. 6, 47 (51 ff.) betr. die Verkündung des GemErl .).

Der Erlaß vom 6. Januar 1943 geht zurück auf ein Gesetz vom 23. Dezember 1936 (RGBl. I S. 1128). Darin war die Entgelteigenschaft von Weihnachtszuwendungen wegen der Schwierigkeiten, die sich insoweit bei Anwendung des allgemeinen Entgeltbegriffes (§ 160 Abs. 1 RVO) ergeben hatten (vgl. die amtliche Begründung zu §§ 5, 6 des genannten Gesetzes, AN. 1937 S. 4), zum ersten Mal besonders geregelt worden, und zwar sollten Weihnachtszuwendungen, die nicht in einer Tarif-, Betriebs- oder Dienstordnung oder in einem schriftlichen Vertrage festgelegt waren, bis zur Höhe eines Monatsgehaltes nicht zum Entgelt gehören (§ 160 Abs. 1 Satz 2 RVO i. d. F. des Gesetzes vom 23.12.1936). Aus der "Entgeltfreiheit" der genannten Zuwendungen ergab sich - neben ihrer Beitragsfreiheit - ohne weiteres auch die Nichtanrechnung auf den JAV. Diese Regelung galt bis zum Jahre 1941, als im Zuge der Angleichung der steuerlichen und versicherungsrechtlichen Bemessungsgrundlagen die Erste Verordnung über die Vereinfachung des Lohnabzugs vom 1. Juli 1941 - Erste LAV - (RGBl. I S. 362) den § 160 Abs. 1 Satz 2 RVO neu faßte und damit die Sonderstellung der schriftlich nicht festgelegten Weihnachtszuwendungen im Rahmen des Entgeltbegriffs beseitigte. Das hatte zur Folge, daß sich der Entgeltcharakter von Weihnachtszuwendungen nunmehr wieder nach der allgemeinen Vorschrift (§ 160 Abs. 1 Satz 1 RVO) beurteilte. Diese Vorschrift wäre auch für die Anrechnung von Weihnachtszuwendungen auf den JAV. wieder maßgebend geworden, wenn nicht der Erlaß des Reichsarbeitsministers vom 21. November 1941 (AN. 1941 S. 460) und der oben genannte. Erlaß vom 6. Januar 1943 die Anrechnungsfreiheit von schriftlich nicht festgelegten Weihnachtszuwendungen in dem bisherigen Umfange aufrechterhalten hätten. Als später der Gemeinsame Erlaß des Reichsministers der Finanzen und des Reichsarbeitsministers vom 10. September 1944 (AN. 1944, S. 281) die Beitragsberechnung in der Sozialversicherung auf neue Grundlagen stellte, wurde in diesem Erlaß auch die Beitragspflicht von Weihnachtszuwendungen neu geregelt. Danach blieben Weihnachtszuwendungen - ohne Rücksicht auf Schriftlichkeit und Höhe - bis zum Betrage von 100 RM infolge einer neu geschaffenen Steuerbefreiung (Abschn. 2 Abs. 1 Nr. 3 GemErl .), im übrigen wegen ihrer Zugehörigkeit zu den einmaligen, fest versteuerten Bezügen beitragsfrei (Abschn. 1 Satz 2 Nr. 5 i. V. m. Abschn. 4 GemErl .). Ergänzend hierzu bestimmte der Reichsarbeitsminister durch Erlaß vom 24. Oktober 1944 (AN. 1944 S. 302), daß die nach dem GemErl . beitragsfreien Bezüge auch für die JAV.-Grenze nicht angerechnet werden (Abs. 1, 2. Halbsatz des Erlasses). Da zu den beitrags- und damit anrechnungsfreien Bezügen, wie dargelegt, auch Weihnachtszuwendungen gehörten, bedurfte es der bisherigen besonderen Nichtanrechnungsbestimmungen des Erlasses vom 6. Januar 1943 nicht mehr; diese Bestimmungen wurden daher - als obsolet - in der Präambel des Erlasses vom 24. Oktober 1944 auch formell aufgehoben.

Von der Neuregelung des Jahres 1944 hat allein die Bestimmung über die Steuer- und Beitragsbefreiung von Weihnachtszuwendungen, soweit sie 100 RM nicht übersteigen, Bestand gehabt. Sie ist bis heute im wesentlichen unverändert geblieben (vgl. § 6 Nr. 10 der Lohnsteuer-Durchführungsverordnung i. d. F. vom 27. August 1955, BGBl. I S. 542), so daß Weihnachtszuwendungen bis zur Höhe von 100 RM/DM seither sowohl für die Bemessung der Beiträge als auch für die Berechnung des JAV. ausscheiden. Hinsichtlich des 100 RM übersteigenden Zuwendungsteiles änderte sich die Rechtslage hingegen wieder, als das Kontrollratsgesetz Nr. 12 (Amtsbl. des Kontrollrats S. 60) mit Wirkung vom 1. Januar 1946 die Besteuerung mit festen Steuersätzen für einmalige Bezüge aufhob (Art. III Nr. 4 KRG Nr. 12). Da die Festbesteuerung der einmaligen Bezüge die rechtliche Voraussetzung ihrer Beitragsfreiheit bildete (Abschn. 1 Satz 2 Nr. 5 GemErl .), entfiel mit der Beseitigung des Steuerprivilegs auch die bisherige Beitragsbefreiung (vgl. BSG. 6, 47 (54) betr. Urlaubsabgeltungen). Ob und inwieweit die Änderung der steuerlichen Vorschriften durch das KRG Nr. 12 sich darüber hinaus auf die Anrechnung der betroffenen Bezüge auf den JAV. ausgewirkt hat, ist die entscheidende Frage des vorliegenden Rechtsstreits.

Aus den geschilderten Zusammenhängen ergibt sich zunächst, daß die Bestimmungen vom 6. Januar 1943 über die Nichtanrechnung gewisser Weihnachtszuwendungen auf den JAV. ihre rechtliche Bedeutung verloren, als der Erlaß vom 24. Oktober 1944 sämtliche einmalige festversteuerten Bezüge, soweit sie beitragsfrei waren, - damit auch Weihnachtszuwendungen jeder Art und Höhe - von der Anrechnung auf den JAV. freistellte. Unter diesen Umständen war es nur sachgemäß, wenn der Reichsarbeitsminister die wesentlich engeren Bestimmungen des Jahres 1943 zugleich mit dem Erlaß der neuen Nichtanrechnungsbestimmungen aufhob, zumal ein Nebeneinanderbestehen beider Regelungen nur zu rechtlichen Unklarheiten geführt hätte. Der Ansicht der Revisionsklägerin, bei der Aufhebung des Erlasses vom 6. Januar 1943 müsse es sich um ein Redaktionsversehen gehandelt haben, kann somit nicht beigepflichtet werden.

Ist hiernach davon auszugehen, daß der Erlaß vom 6. Januar 1943 nicht versehentlich, sondern mit voller Absicht aufgehoben wurde, so ist andererseits nicht zu übersehen, daß die Aufhebung des alten Erlasses für die betroffenen Weihnachtszuwendungen keinerlei Rechtsänderung bringen wollte, ihren Grund vielmehr allein darin hatte, daß eine neue Bestimmung die Funktion der aufgehobenen übernahm. Blieben schriftlich nicht festgelegte Weihnachtszuwendungen mithin auch unter dem Erlaß vom 24. Oktober 1944 weiterhin von der Anrechnung auf den JAV. ausgenommen, so traten hinsichtlich der Voraussetzungen der Anrechnungsfreiheit freilich nicht unerhebliche rechtliche Verschiebungen ein. Diese zeigten sich vor allem darin, daß der neue Erlaß vom 24. Oktober 1944 die Anrechnungsfreiheit nicht mehr - wie bisher - bedingungslos gewährte, sondern an die Beitragsfreiheit anknüpfte, also die bis dahin eigenständige ("autonome") Nichtanrechnungsregelung durch eine vom Beitragsrecht her bestimmte ("heteronome") ersetzte - was allerdings so lange ohne Bedeutung war, als die maßgebenden Beitragsvorschriften sich nicht änderten, d. h. die genannten Weihnachtszuwendungen beitragsfrei blieben. Dieser Rechtszustand währte indessen nur kurze Zeit. Bereits das Jahr 1946 brachte, wie erwähnt, mit der Aufhebung der Festbesteuerung durch das KRG Nr. 12 den Fortfall der Beitragsfreiheit für sämtliche Weihnachtszuwendungen über 100 RM. Dadurch wurde - infolge jener Verknüpfung von Beitrags- und Nichtanrechnungsregelung - auch der Nichtanrechnungsbestimmung des Erlasses vom 24. Oktober 1944 insoweit der Boden entzogen, so daß es hinfort an einer ausdrücklichen Bestimmung über die Nichtanrechnung schriftlich nicht festgelegter Weihnachtzuwendungen auf den JAV. fehlte. Dieser Umstand ließ indessen, wie im folgenden näher darzulegen sein wird, die Anrechnungsfreiheit der genannten Zuwendungen selbst unberührt.

Weihnachtszuwendungen nehmen seit dem erwähnten Gesetz vom 23. Dezember 1936 eine Sonderstellung im Rahmen des JAV. ein. Während sonstige, insbesondere einmalige Bezüge, auch dann zum Entgelt und damit zum JAV. gerechnet werden, wenn sie nicht auf einer - mündlichen oder schriftlichen - Abmachung, sondern allein auf Gewohnheit (betrieblicher Übung) beruhen (§ 160 Abs. 1 RVO), werden Weihnachtszuwendungen nur im Falle schriftlicher Festlegung auf den JAV. angerechnet. Dem liegt offenbar der Gedanke zugrunde, daß es unbillig wäre, wenn ein Arbeitnehmer allein wegen einer ihm anläßlich des Weihnachtsfestes gemachten Zuwendung, die nicht durch eine schriftliche Vereinbarung gesichert ist und daher den ursprünglichen Geschenkcharakter noch nicht völlig abgestreift hat, die Grenze der Versicherungspflicht überschreiten und damit des Schutzes der Sozialversicherung verlustig gehen würde (vgl. v. Altrock, WzS. 1957, 361 (363)). Um diesem Gedanken Rechnung zu tragen, bedarf es freilich nicht notwendig einer besonderen Bestimmung des Inhalts, daß Weihnachtszuwendungen der genannten Art nicht auf den JAV. anzurechnen sind. Besteht eine Vorschrift, nach der jene Zuwendungen entweder nicht zum Entgelt gehören (wie nach dem Gesetz von 1936) oder von der Beitragspflicht ausgenommen sind (wie nach dem GemErl . von 1944), so ergibt sich schon daraus, gleichsam als Sekundäreffekt, grundsätzlich auch ihre Nichtanrechnung auf den JAV. - da es nicht angeht, die gleichen Bezüge einerseits entgelt- oder beitragsfrei zu lassen, andererseits aber dem JAV. hinzuzurechnen. Fehlt eine solche Vorschrift jedoch, oder wird sie aufgehoben, dann kann jener "schöne und vernünftige Gedanke" (v. Altrock a. a. O.), einem Arbeitnehmer wegen einer schriftlich nicht fixierten Weihnachtszuwendung den Sozialversicherungsschutz nicht zu entziehen, nur durch den Erlaß besonderer Nichtanrechnungsbestimmungen verwirklicht werden. Das ist im Jahre 1941 geschehen, als die Erste LAV die bisherige Sonderregelung für Weihnachtszuwendungen im Rahmen des Entgeltbegriffs beseitigte, die Erlasse vom 21. November 1941 und 6. Januar 1943 aber ihre Anrechnungsfreiheit in dem gleichen Umfange wie früher aufrechterhielten. Deutlicher als durch diese Erlasse konnte der Wille der damals zur Rechtsetzung berufenen Organe, schriftlich nicht festgelegte Weihnachtszuwendungen auf jeden Fall von der Anrechnung auf den JAV. auszunehmen, nicht zum Ausdruck kommen. Daran hat offenbar auch die Aufhebung des Erlasses vom 6. Januar 1943 durch den Erlaß vom 24. Oktober 1944 nichts geändert. Denn es gibt keine Anhaltspunkte dafür, daß die seit 1936 - ungeachtet aller Wandlungen des Beitragsrechts - festgehaltene Anrechnungsfreiheit schriftlich nicht fixierter Weihnachtszuwendungen - unter Preisgabe jenes oben erwähnten sozialpolitischen Gedankens - künftig allein von ihrer 1944 eingeführten, steuerrechtlich gebundenen Beitragsfreiheit abhängig sein sollte. Unter Berücksichtigung der bisherigen kontinuierlichen Rechtsentwicklung kann der Aufhebung des Erlasses vom 6. Januar 1943 vielmehr nur die Bedeutung beigemessen werden, daß der Verordnungsgeber in den neuen Nichtanrechnungsbestimmungen vom 24. Oktober 1944 - für die Zeit ihrer Geltung - ein geeignetes Instrument zur Verwirklichung seiner ursprünglichen Zielsetzung sah. Blieb aber jener Gedanke, daß ein Versicherter wegen einer nicht schriftlich zugesagten Weihnachtszuwendung den Schutz der Sozialversicherung nicht verlieren dürfe, auch während der Geltung des Erlasses vom 24. Oktober 1944 das eigentlich bestimmende Motiv für die Anrechnungsfreiheit der erwähnten Zuwendungen, dann mußte der Wegfall des ebengenannten Erlasses insofern eine rechtliche Lücke hinterlassen, als jenem Gedanken nunmehr die Stütze im positiven Recht fehlte. Die so entstandene Lücke auszufüllen, wäre an sich Sache des Gesetzgebers gewesen. Wenn dieser sich hierzu gleichwohl nicht berufen fühlte, so erklärt sich das - abgesehen von den allgemeinen Zeitverhältnissen - offenbar daraus, daß die Verwaltungspraxis der Versicherungsträger die Rechtslücke von sich aus füllte, indem sie - mit Billigung des BMA. (vgl. Erlaß vom 23. Juli 1951, BABl. 1951 S. 330) - kurzerhand wieder auf den alten Erlaß vom 6. Januar 1943 zurückgriff. Da hierdurch indessen kein für alle Beteiligten verbindliches Recht geschaffen werden konnte, obliegt es nunmehr der Rechtsprechung, jene rechtliche Lücke zu schließen.

Auch unter der Herrschaft des Prinzips der Gewaltenteilung (Art. 20 Abs. 2 GG) erschöpft sich die Tätigkeit des Richters nicht in der Rechtsanwendung im engeren Sinne, d. h. in der bloßen Subsumtion eines festgestellten Sachverhalts unter eine gegebene Rechtsnorm. Zu seinen legitimen Aufgaben gehört vielmehr auch, neben der Auslegung des anzuwendenden Rechts, die ergänzende und - in bestimmten Grenzen - die berichtigende (abändernde) Rechtsfindung, wobei die Ausfüllung der - vorgefundenen oder durch sog. restriktive Interpretation "geschaffenen" - Rechtslücke in der Regel im Wege der Analogie erfolgt (vgl. Enneccerus-Nipperdey, Allg. Teil des Bürgerlichen Rechts, 14. Aufl., S. 207 ff.; Böhmer, Grundlagen der bürgerlichen Rechtsordnung, 2. Buch, 1. Abt., S. 166 ff.; ferner Esser, Grundsatz und Norm in der richterlichen Fortbildung des Privatrechts, S. 242 ff. und JZ. 1953, 521). Daß auch der Gesetzgeber von der Zulässigkeit dieser Rechtsfindungsmethoden ausgeht, zeigt § 43 SGG, der - entsprechend §§ 137 GVG, 47 Abs. 2 BVerwGG - den Richter der Sozialgerichtsbarkeit ausdrücklich zur Fortbildung des Rechts ermächtigt (vgl. auch BSG. 2, 164 (168 ff.)).

Im vorliegenden Fall weisen die für die Berechnung des JAV. geltenden Bestimmungen, wie dargelegt, insofern eine Lücke auf, als der vom Gesetzgeber gewollten und bis zum Jahre 1945 auch verwirklichten Anrechnungsfreiheit schriftlich nicht festgelegter Weihnachtszuwendungen seit dem Inkrafttreten des KRG Nr. 12 (1. Januar 1946) die Stütze im gesetzten Recht fehlt. Um diesen Mangel zu beheben, könnte man zunächst daran denken, rechtsähnliche Tatbestände aufzusuchen und deren Regelung analog auf den vorliegenden, nicht geregelten Sachverhalt zu übertragen. Die Analogie kann hier indessen unmittelbar an die Rechtslage des Jahres 1941 anknüpfen, die - nach Aufhebung der Entgeltregelung des § 160 Abs. 1 Satz 2 RVO durch die Erste IAV - dem im Jahre 1946 geschaffenen Rechtszustand (Wegfall der Nichtanrechnungsbestimmungen vom 24. Oktober 1944) nicht nur vergleichbar ist, sondern in dem entscheidenden Punkt, nämlich dem Fehlen einer Nichtanrechnungsvorschrift für schriftlich nicht festgelegte Weihnachtszuwendungen, völlig entspricht. Wenn der Gesetzgeber damals zur Schließung jener Lücke besondere Nichtanrechnungsbestimmungen erließ, weil er die Anrechnung der genannten Zuwendungen auf den JAV. sozialpolitisch nicht für tragbar hielt, so erscheint es bei unveränderter Willensrichtung des Gesetzgebers - von der, wie oben dargelegt, auszugehen ist - als ein Gebot sinnvoller Rechtsfindung, die im Jahre 1946 in eben derselben Weise in Erscheinung getretene Rechtslücke entsprechend auszufüllen, Weihnachtszuwendungen also auch für die Zeit vom 1. Januar 1946 an nach den Grundsätzen des Erlasses vom 6. Januar 1943 von der Anrechnung auf den JAV freizustellen (ebenso im Ergebnis Koch-Hartmann, AVG, 2. Aufl., S. 178 f; Peters, Handbuch der Krankenversicherung, 16. Aufl., § 165 Anm. 8 c).

Das bedeutet allerdings, daß eine im Jahre 1944 formell aufgehobene Bestimmung mit dem Außerkrafttreten der derogierenden Norm ohne besonderen Inkraftsetzungsakt wieder Geltung erlangt hat. Gegen ein solches Wiederaufleben aufgehobenen Rechts werden in der Rechtsprechung und Literatur Bedenken erhoben, im wesentlichen wohl unter dem Gesichtspunkt einer möglichen Gefährdung der Rechtssicherheit (vgl. Siegfried, JZ. 1957, 747 mit Nachweisen; einschränkend und zum Teil a. A. Enneccerus-Nipperdey a. a. O., S. 175 Anm. 7; Nipperdey in BB. 1948, 157 (159); Peters, Lehrbuch der Verwaltung, S. 84; von Turegg, Lehrbuch des Verwaltungsrechts, 3. Aufl., S. 57 f; Wolff, Verwaltungsrecht I, 2. Aufl., S. 104). Diese Bedenken mögen, was hier nicht zu entscheiden ist, vielleicht für den - die Regel bildenden - Fall begründet sein, daß einer (oder beide) der in Betracht kommenden Aufhebungsakte eine Änderung des materiellen Rechtszustandes bezweckt. Sie können jedoch nicht als durchgreifend angesehen werden, wenn, wie hier, weder die Aufhebung der ursprünglichen Norm noch der Wegfall der derogierenden Vorschrift nach dem Willen des Gesetzgebers Einfluß auf die bestehende Rechtslage (hier: die Anrechnungsfreiheit schriftlich nicht festgelegter Weihnachtszuwendungen) haben soll. Die Rücksicht auf die Kontinuität der legislatorischen Zielsetzung rechtfertigt und erfordert hier vielmehr - nicht zuletzt im Interesse der Rechtssicherheit - die Wiederanwendung der früheren, jener Zwecksetzung entsprechenden Norm, mag diese auch - nach ihrer zwischenzeitlichen Aufhebung - förmlich nicht wieder in Kraft gesetzt worden sein.

Ist hiernach für die Anrechnung von Weihnachtszuwendungen auf den JAV. seit dem 1. Januar 1946 wiederum der Erlaß vom 6. Januar 1943 maßgebend, so müssen Weihnachtszuwendungen, die der schriftlichen Festlegung entbehren, bis zur Höhe eines Monatsgehalts anrechnungsfrei bleiben. Da im vorliegenden Fall eine schriftliche Vereinbarung über die Gewährung einer Weihnachtsgratifikation an den Beigeladenen fehlt, darf die 1952 gewährte und für 1953 erwartete Zuwendung bei der Berechnung des JAV., den der Beigeladene in der Zeit vom 1. September 1952 bis zum 30. Juni 1953 erzielt hat, nicht berücksichtigt werden. Ohne ihre Anrechnung auf den JAV. blieb der Verdienst des Beigeladenen in der genannten Zeit aber unterhalb der Versicherungspflichtgrenze, so daß für ihn seit dem 1. September 1952 Versicherungspflicht in der AV. und ArblV. bestand. Der angefochtene Beitragsbescheid der Krankenkasse ist mithin zu Recht ergangen; die hiergegen erhobene Klage mußte - unter Aufhebung des Berufungsurteils - als unbegründet abgewiesen werden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Haufe-Index 60491

BSGE 6, 204 (LT1-2)

BSGE, 204

BB 1958, 669 (LT1-2)

NJW 1958, 1320

RegNr, 601

DAngVers 1958, 208 (LT1-2)

BlStSozArbR 1958, 267 (LT1-2)

BlStSozArbR 1966, 252 (LT1-2)

DOK 1958, 338 (LT1-2)

WzS 1958, 240 (LT1-2)

BKK 1958, 370 (LT1-2)

Breith 1958, 799 (LT1-2)

Die Beiträge 1958, 221 (LT1-2)

KOV, 1958 RsprNr 916 (ST1)

MDR 1958, 632

MDR 1958, 632 (LT1-2)

Praxis 1958, 325 (LT1-2)

SGb 1959, 164 (LT1)

SozSich, 1958 RsprNr 781 (LT1-2)

WA 1959, 104 (LT1)

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