Leitsatz (amtlich)

Ist das Ausweichmanöver des Fahrers eines Kraftwagens wesentlich von der Absicht mitbestimmt, eine andere Person aus erheblicher gegenwärtiger Gefahr für Körper oder Gesundheit zu retten, besteht Versicherungsschutz nach § 539 Abs 1 Nr 9 Buchst a RVO.

 

Normenkette

RVO § 539 Abs 1 Nr 9 Buchst a Fassung: 1963-04-30

 

Verfahrensgang

LSG Hamburg (Entscheidung vom 11.08.1981; Aktenzeichen I UBf 10/81)

SG Hamburg (Entscheidung vom 03.10.1980; Aktenzeichen 24 U 538/79)

 

Tatbestand

Der Beklagte ist durch das angefochtene Urteil des Landessozialgerichts Hamburg (LSG) verurteilt worden, der Klägerin die ihr aus Anlaß des Unfalles der Beigeladenen am 28. Januar 1978 entstandenen Kosten in Höhe von 1.157,10 DM zu ersetzen. Hiergegen wendet sich der Beklagte mit der vom LSG zugelassenen Revision, weil die Beigeladene nach seiner Meinung bei ihrem Unfall nicht in der gesetzlichen Unfallversicherung versichert war.

Die Beigeladene befand sich mit ihrem Pkw auf vereister Fahrbahn, als ein Mofafahrer in die von ihr befahrene Hauptstraße einbog und dabei in Gegenrichtung auf ihre Fahrbahn geriet. Sie reagierte angesichts der für den Mofafahrer entstandenen akuten Gefahr, indem sie ihr Fahrzeug nach rechts hinüberzog. Dabei verletzte sie sich. Der Mofafahrer blieb unverletzt.

Der Beklagte lehnte die von der Klägerin verlangte Kostenerstattung ab. Die mit dem Führen eines Kraftfahrzeuges zusammenhängenden Verrichtungen könnten niemals als Hilfeleistungen iS von § 539 Abs 1 Nr 9 Buchst a der Reichsversicherungsordnung (RVO) gewertet werden.

Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 3. Oktober 1980). Zwar habe das zum Unfall führende Verhalten der Beigeladenen wesentlich auch den Interessen des Mofafahrers gegolten. Jedoch könne eine Hilfeleistung oder Rettungshandlung schon begrifflich nicht angenommen werden, wenn - wie hier - lediglich ein gefährdendes Tun abgebrochen werde. Hierzu sei vielmehr der vorangehende Abschluß der gefahrbringenden Tätigkeit erforderlich. Auch die Wechselbeziehung zum Strafrecht, in welcher § 539 Abs 1 Nr 9 Buchst a RVO stehe, lasse es nicht zu, Versicherungsschutz anzunehmen, weil andernfalls jedes Brems- und Ausweichmanöver, das dazu diene, Schaden von anderen abzuwenden, unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung stehe.

Nach der Überzeugung des LSG (Urteil vom 11. August 1981) hat in dem Verhalten der Beigeladenen eine Hilfeleistung bzw der Versuch gelegen, einen drohenden Schaden abzuwenden. Sie habe reagiert, um dem Mofafahrer auszuweichen und einen Zusammenstoß zu vermeiden. Es genüge, daß das Verhalten der Beigeladenen wesentlich von dem Willen mitbestimmt worden sei, Schaden von dem Mofafahrer abzuwenden.

Mit der von ihm eingelegten Revision macht der Beklagte eine unrichtige Anwendung des § 539 Abs 1 Nr 9 Buchst a RVO durch das LSG geltend. Diese Vorschrift verlange ein Tätigwerden zugunsten eines Dritten. Von einem solchen aktiven Handeln könne aber bei Tätigkeiten, die sich aus der Teilnahme am Straßenverkehr ergeben, nicht gesprochen werden. Im übrigen könne ein und dasselbe Verhalten nicht gleichzeitig Gefährdungs- und Rettungshandlung sein. Die sich aus der Betriebsgefahr ergebende Gefährdung müsse erst aufgehoben sein, bevor die Rettungshandlung als neue Kausalkette begonnen werden könne. Im übrigen sei nicht erwiesen, ob lediglich ein Reflex oder eine absichtliche Hilfeleistung vorgelegen habe. In seiner Wechselwirkung zum Strafrecht setze § 539 Abs 1 Nr 9 Buchst a RVO voraus, daß bei anderem Verhalten eine Strafbarkeit der Beigeladenen aus dem Gesichtspunkt der unterlassenen Hilfeleistung bestanden haben könnte, wovon aber beim Unfall der Beigeladenen nicht die Rede sein könne. Schließlich sei die Beigeladene nicht gewerbsmäßige Fahrzeughalterin und Unternehmerin gewesen (§ 658 Abs 2 Nr 2 RVO), so daß ihr Verhalten unversichert im Rahmen des eigenen Unternehmens gewesen sei.

Der Beklagte beantragt, das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 11. August 1981 aufzuheben und die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 3. Oktober 1980 zurückzuweisen.

Die Klägerin beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Sie meint, die Beigeladene habe einen entschädigungspflichtigen Unfall erlitten.

Die Beigeladene stellt keinen Antrag.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-).

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des Beklagten ist nicht begründet.

Der Beklagte weist zutreffend darauf hin, daß er in diesem Verfahren passiv legitimiert ist. Entschädigungspflichtiger Versicherungsträger für Unfälle iS von § 539 Abs 1 Nr 9 Buchst a RVO ist das Land (§ 655 Abs 2 Nr 3 RVO), in dem die Verletzte ihren gewöhnlichen Aufenthalt hat (BSGE 35, 70, 74). Das Land Niedersachsen hat entsprechend der Ermächtigung des § 656 Abs 4 RVO den Beklagten zum zuständigen Versicherungsträger ua in den Fällen des § 539 Abs 1 Nr 9 Buchst a RVO bestimmt (§ 1 Nr 2 Buchst a der VO vom 21. August 1964 - Nds GBl S 167).

Die Beigeladene war bei ihrem Unfall am 28. Januar 1978 gem § 539 Abs 1 Nr 9 Buchst a RVO gegen Arbeitsunfall versichert, so daß der Beklagte zum Ersatz der geltend gemachten Kosten verpflichtet ist (§ 1504 Abs 1 RVO).

Gem § 539 Abs 1 Nr 9 Buchst a RVO sind ua Personen gegen Arbeitsunfall versichert, die es unternehmen, einen anderen aus erheblicher gegenwärtiger Gefahr für Körper oder Gesundheit zu retten. Nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG in den Gründen des angefochtenen Urteils (s S 6) konnte die Beigeladene davon ausgehen, für den Mofafahrer habe eine erhebliche gegenwärtige Gefahr für Körper und Gesundheit bestanden. Nach den weiteren Feststellungen des LSG hat die Beigeladene außerdem die akute erhebliche Gefährdung des Mofafahrers erkannt. Diese Erkenntnis war für ihr Ausweichmanöver wesentlich mitbestimmend (S 6 und 7). Gegen diese Feststellungen hat der Beklagte zulässige und begründete Revisionsgründe nicht vorgebracht, so daß der erkennende Senat an sie gebunden ist (§ 163 SGG). Infolgedessen darf der Senat insoweit auf das Revisionsvorbringen nicht eingehen, als darin ein anderer Geschehensablauf zugrunde gelegt ist. Insbesondere darf er die von dem Beklagten erörterte Möglichkeit nicht berücksichtigen, wonach die Beigeladene möglicherweise "falsch reagierte und das Lenkrad unwillkürlich verriß". Der Senat muß davon ausgehen, daß die Beigeladene ihr Fahrzeug nach rechts von der Fahrbahn gesteuert hat, um die für den Mofafahrer entstandene Gefahr zu beseitigen; jedenfalls war dieser Beweggrund für ihr Tun wesentlich mitbestimmend. Das aber genügt, wie das LSG bereits im einzelnen dargelegt hat, zur Annahme einer Rettungshandlung. Eine ggfs gleichzeitig verfolgte Absicht, sich selbst zu schützen, steht dem nicht entgegen (BSGE 44, 22, 24).

Hiergegen wendet der Beklagte zunächst ein, dasselbe Verhalten könne nicht gleichzeitig Gefährdungs- und Rettungshandlung sein. Ob dies zutrifft, braucht der Senat nicht zu erörtern; denn das Handeln der Beigeladenen ist in unterschiedliche Abschnitte zu unterteilen. Für die erhebliche gegenwärtige Gefahr für Körper und Gesundheit des Mofafahrers war zwar nicht nur dessen Hineingeraten in die Fahrbahn der Beigeladenen bestimmend, auch die Beigeladene hatte hierfür durch ihr Autofahren eine Bedingung im naturwissenschaftlichen Sinne gesetzt. Wie der weitere Verlauf der Geschehnisse zeigt, ist diese Gefahr aber durch das zweckgerichtete Ausweichen der Beigeladenen beseitigt worden. Demzufolge hat die Beigeladene den Mofafahrer nicht durch "ein und dasselbe Verhalten" gefährdet und gerettet. Vielmehr ist gerade durch den Abbruch des zunächst beabsichtigten Fahrverhaltens und die zielgerichtete Rettungshandlung die dem Mofafahrer drohende Gefahr beseitigt worden (s auch BGHZ 38, 270, 275; Frank JZ 1982, 737, 740). Das Ausweichmanöver war nicht nur, wie § 539 Abs 1 Nr 9 Buchst a RVO voraussetzt, eine auf die Rettung abzielende Unternehmung; vielmehr ist dadurch sogar die Rettung selbst bewirkt worden.

Der Beklagte meint weiter, die Beigeladene habe die Gefährdung des Mofafahrers "aus Verschulden oder Betriebsgefahr zu vertreten" gehabt; erst mit dem Beenden des Führens des Kraftfahrzeuges habe demzufolge eine Rettungshandlung beginnen können. Abgesehen davon, daß - wie oben bereits ausgeführt ist - die Beigeladene die vom Mofafahrer gesetzte, aber auch von ihrem PKW ausgehende konkrete Gefährdung durch das Ausweichen bereits beseitigt hatte, vermag der Senat dem Beklagten auch aus Gründen nicht zu folgen, welche sich aus dem System der gesetzlichen Unfallversicherung ergeben (im Ergebnis ebenso zu § 539 Abs 1 Nr 5 RVO aF BGHZ aaO S 280; Frank aaO S 743 auch zu § 539 Abs 1 Nr 9 Buchst a RVO; s auch OLG Köln VersR 1982, 1098, 1099). Der Beklagte geht zu Unrecht davon aus, Verschulden oder Herbeiführen einer Betriebsgefahr könne der Annahme eines Arbeitsunfalles entgegenstehen. Der Gesetzgeber hat den Begriff des Arbeitsunfalles in § 548 Abs 1 Satz 1 RVO unabhängig vom Verschulden der versicherten Personen festgelegt. Hierauf hat der Senat auch bereits im Zusammenhang mit § 539 Abs 1 Nr 9 Buchst a RVO ausdrücklich hingewiesen (BSGE 37, 38, 40/41; vgl auch das zur Veröffentlichung bestimmte Urteil vom 29. April 1982 - 2 RU 10/81 -; Frank aaO S 743). Erst recht kann schuldfreies Gefährden nicht zu diesem Ergebnis führen. Der Beklagte geht zutreffend davon aus, daß Ansprüche gegen ihn nicht gem § 553 RVO ausgeschlossen sind, weil für das Vorhandensein der geforderten Absicht auf seiten der Beigeladenen keine Anhaltspunkte bestehen.

Somit hat die Beigeladene "bei" einer in § 539 Abs 1 Nr 9 Buchst a RVO genannten Tätigkeit den Unfall erlitten (§ 548 Abs 1 Satz 1 RVO), weil in dem Ausweichen gegenüber dem Mofafahrer die in § 539 Abs 1 Nr 9 Buchst a RVO vorausgesetzte Rettungshandlung liegt, welche auf die Rettung des akut gefährdeten Mofafahrers gerichtet war und die Beigeladene sich hierbei verletzt hat (ebenso BGHZ aaO S 280; Frank aaO S 743 mwN).

Der Beklagte meint ferner, § 539 Abs 1 Nr 9 Buchst a RVO stehe insoweit in einer Wechselbeziehung zu § 330c StGB aF (jetzt: § 323c StGB), als die durch Strafandrohung erzwungene Hilfeleistung im Falle der Verletzung des Hilfeleistenden zu einer Entschädigung für das erbrachte Sonderopfer auf dem Wege über § 539 Abs 1 Nr 9 Buchst a RVO führen solle. Die für diese Ansicht herangezogene Rechtsprechung des BSG (BSGE 42, 97, 103 ff) besagt indes das Gegenteil. In der Entscheidung heißt es wörtlich (S 104): ",... insbesondere kann der UV-Schutz nach Nr 9a nicht abhängig sein von der Bestrafung für unterlassene Hilfeleistung". Diese Rechtsmeinung ist bisher nicht angegriffen worden (vgl Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 9. Auflage, S 473a mwN). Da der Beklagte für seine Auffassung keine Gründe anführt, nimmt der Senat auf die zitierte Entscheidung des BSG Bezug. Auf die Frage, ob die Beigeladene ohne ihr Ausweichen nach § 323c StGB hätte bestraft werden können, kommt es folglich nicht an.

Schließlich vertritt der Beklagte die Auffassung, die Beigeladene sei als nicht gewerbsmäßige Halterin eines Fahrzeuges (§ 658 Abs 2 Nr 2 RVO) bei der privaten Nutzung des Fahrzeugs unversichert gewesen, so daß für die Anwendung des § 539 Abs 1 Nr 9 Buchst a RVO kein Raum sei. Dabei übersieht der Beklagte, daß es im vorliegenden Fall nicht um den Versicherungsschutz bei der BG für Fahrzeughaltungen geht, deren Zuständigkeit uU bei Tätigkeiten Dritter im Rahmen der Fahrzeughaltung gegeben sein könnte; vielmehr kommt hier nach Lage des Falles die Sondervorschrift des § 539 Abs 1 Nr 9 Buchst a RVO zur Anwendung, welche Schutz bei einer Rettungshandlung unter den festgelegten Voraussetzungen gewährt (BSGE 46, 232, 234 f; Brackmann aaO S 506a; Lauterbach, Unfallversicherung, 3. Aufl, § 658 Anm 15 Buchst b).

Die Revision war daher zurückzuweisen. Die Entscheidung über die Kosten folgt aus § 193 SGG.

 

Fundstellen

BSGE, 190

Breith. 1983, 591

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