Leitsatz (amtlich)

Auch bei reflexartigen Ausweichmanövern im Straßenverkehr kann Versicherungsschutz nach § 539 Abs 1 Nr 9 Buchst a RVO gegeben sein, wenn die konkrete Gefahrenlage bei natürlicher Betrachtungsweise objektiv geeignet ist, eine Rettungshandlung auszulösen (Fortführung von BSG vom 30.11.1982 2 RU 70/81 = BSGE 54, 190 = SozR 2200 § 539 Nr 87).

 

Normenkette

RVO § 539 Abs 1 Nr 9 Buchst a

 

Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 26.04.1988; Aktenzeichen L 5 U 141/86)

SG Dortmund (Entscheidung vom 02.07.1987; Aktenzeichen S 17 U 122/85)

 

Tatbestand

Streitig ist, ob der Beklagte dem Kläger wegen der Folgen eines Verkehrsunfalls Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung zu gewähren hat, insbesondere, ob der Kläger vor dem Unfall eine Rettungshandlung iS von §539 Abs 1 Nr 9 Buchst a 2. Alternative der Reichsversicherungsordnung (RVO) unternommen hat.

Der Kläger befuhr am 7. Juni 1980 mit seinem Motorrad die Piepenstockstraße in H.                , eine gerade verlaufende, 4,10 m breite Einbahnstraße, die in Fahrtrichtung rechts durch einen 0,5 m schmalen, umständlich zu benutzenden Gehweg begrenzt wird. Links wurde die Fahrbahn durch mehrere parkende Pkw eingeengt. Auf der rechten Fahrbahnseite kam dem Kläger die 70-jährige Fußgängerin M.        T.   (T.) entgegen, die der Kläger mit reduziertem Tempo auf dem verbleibenden Fahrstreifen passieren wollte. Nur wenige Meter vor der Passierstelle machte T. eine unerwartete Bewegung zur linken Fahrbahnseite; der Kläger reagierte mit einer Ausweichbewegung nach links, konnte den Zusammenstoß mit T. jedoch nicht mehr vermeiden, prallte im Sturz gegen einen links geparkten Pkw und blieb einige Meter weiter verletzt am Boden liegen. Der Kläger erlitt eine Gehirnerschütterung und mehrere Brüche des linken Unterschenkels sowie des linken Mittelfußes. T. zog sich ebenfalls schwere Verletzungen zu; sie verstarb drei Wochen später im Krankenhaus bei bestehender Herzmuskelschwäche unter den Zeichen eines Koma cerebrale, ohne daß ein ursächlicher Zusammenhang mit den Unfallfolgen festgestellt worden wäre. Der Kläger wurde von dem Vorwurf der fahrlässigen Körperverletzung freigesprochen (Urteil des Amtsgerichts H.    vom 2. Oktober 1981).

Am 29. Juli 1983 beantragte der Kläger unter Bezugnahme auf das Urteil des erkennenden Senats vom 30. November 1982 (BSGE 54, 190 = SozR 2200 § 539 Nr 87) die Gewährung von Entschädigungsleistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung. Zur Begründung gab er an, einen Ausweichversuch zu Gunsten von T. unternommen zu haben. Der Beklagte vertrat die Ansicht, der Kläger sei nicht Opfer seines Ausweichmanövers, sondern des Fehlverhaltens der Fußgängerin geworden (Bescheid vom 21. Dezember 1984). Widerspruch und Klage hatten keinen Erfolg. Das Sozialgericht (SG) ist nach Einholung und Auswertung des verkehrstechnischen Sachverständigengutachtens des Dipl. Ing. S.     vom 5. März 1986 zu der Überzeugung gelangt, es habe keine Rettungshandlung iS des § 539 Abs 1 Nr 9 Buchst a RVO vorgelegen, weil eine solche die Entscheidung voraussetze, sich zugunsten eines bedrohten Menschen einer eigenen Gefährdung auszusetzen. Davon könne bei einer automatisierten Fluchtreaktion, wie sie der Sachverständige beschrieben habe, nicht die Rede sein (Urteil vom 2. Juli 1986). Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung mit Urteil vom 26. April 1988 zurückgewiesen. Es hat - im Gegensatz zum SG - die Auffassung vertreten, eine Rettungshandlung könne auch dann vorliegen, wenn lediglich ein antrainiertes, automatisches, auf die Rettung eines anderen Verkehrsteilnehmers gerichtetes Verhalten vorliege; ein freier Entscheidungsspielraum sei nicht erforderlich. Im vorliegenden Fall fehle es aber an der Rettungsabsicht des Klägers. Im Vordergrund seines mehr oder weniger automatischen Verhaltens habe sein Bestreben gestanden, einem Hindernis auszuweichen, um nicht zu stürzen bzw um sich nicht zu verletzen. Bei einem Motorradfahrer bestehe nämlich bei jedem drohenden Zusammenprall ein hohes Verletzungsrisiko. Seine - zu unterstellende - grundsätzlich positive Einstellung, andere Verkehrsteilnehmer nicht zu gefährden, habe seine Ausweichreaktion nicht wesentlich mitbestimmt.

Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt der Kläger eine Verletzung des § 539 Abs 1 Nr 9 Buchst a RVO. Aus dem Gesetz ergebe sich nicht, daß die Handlung überwiegend von der Rettungsabsicht getragen sein müsse; es genüge vielmehr auch eine "äußerst geringe" Rettungsabsicht. Darüber hinaus enthalte das angefochtene Urteil auch eine in sich widersprüchliche Begründung; denn wenn einerseits eine automatisierte Rettungshandlung ausreichen solle, leuchte nicht ein, wie andererseits zusätzlich eine Rettungsabsicht gefordert werden könne. Schließlich habe das LSG den Sachverhalt unzutreffend gewürdigt; denn gerade aus der Ausweichbewegung ergebe sich doch die Rettungsabsicht. Behalte ein Motorradfahrer nämlich seine Fahrtrichtung bei, so sei das Verletzungsrisiko für ihn erfahrungsgemäß geringer als bei einem seitlichen Sturz. Hierzu hätte das LSG ein Sachverständigengutachten einholen müssen.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 26. April 1988 und das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 2. Juli 1986 sowie die angefochtenen Bescheide aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, ihn wegen der Folgen des Arbeitsunfalls vom 7. Juni 1980 zu entschädigen.

Der Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend und weist darauf hin, daß sich das Fahrverhalten des Klägers nicht von dem zahlreicher anderer Unfallbeteiligter unterscheide, zumindest jedenfalls keine spezifische Handlungsentscheidung erkennen lasse.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des Klägers ist unbegründet. Dem Kläger steht kein Anspruch auf Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung zu, weil er am 7. Juni 1980 keinen Arbeitsunfall erlitten hat.

Im Ergebnis zutreffend hat das LSG entschieden, daß der Kläger den Unfall nicht bei einer der in § 539 Abs 1 Nr 9 Buchst a 2. Alternative RVO genannten - versicherten - Rettungshandlung erlitten hat. Nach dieser Vorschrift sind Personen versichert, die einen anderen aus gegenwärtiger Lebensgefahr oder erheblicher gegenwärtiger Gefahr für Körper oder Gesundheit zu retten unternehmen. Dabei muß es sich nach einhelliger Meinung in Rechtsprechung und Schrifttum um ein aktives Handeln zugunsten eines Dritten, um eine auf Rettung abzielende Unternehmung handeln (vgl BSG SozR 2200 § 539 Nr 34; BSGE 44, 22 = SozR 2200 § 1504 Nr 4; BSGE 54, 190 = SozR 2200 § 539 Nr 87; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 11. Aufl S 473 d; Lauterbach/Watermann, Gesetzliche Unfallversicherung, 3. Aufl, RdNr 58 zu § 539). Diese Voraussetzung erfüllt die Ausweichreaktion des Klägers nicht. Es fehlt an objektiven Anhaltspunkten dafür, daß die reflexartige Ausweichbewegung wesentlich von der Absicht bestimmt war, die Gefährdung von T. abzuwenden.

Dabei scheitert der Anspruch nicht etwa an dem fehlenden Erfolg des behaupteten Rettungsversuchs. Im Gegenteil sind vielmehr zahlreiche Fallgestaltungen vorstellbar, in denen ein Lebensretter bzw ein Hilfeleistender einen erfolglosen Rettungsversuch unternimmt, der als aufopferungsähnlicher Tatbestand (so BSGE 35, 70, 72) sozialversicherungsrechtliche Anerkennung verdient, so zB der vergebliche Versuch eines Vaters, der sein Kind vor einem herannahenden Pkw zurückreißen will und dabei selbst tödlich verletzt wird (vgl BSGE 42, 97). Deshalb kann der Meinung von Vollmar (Die Sozialversicherung 1984, 239, 240) nicht beigetreten werden, wonach im Straßenverkehr nur der eindeutige Fall der Selbstaufopferung mit erfolgreicher Schadenabwehr als Rettungshandlung den Versicherungsschutz gemäß § 539 Abs 1 Nr 9 Buchst a RVO zu begründen vermag. Dem kann allenfalls insoweit zugestimmt werden, als dem Erfolg häufig eine starke Indizwirkung für die Rettungsabsicht zukommen wird.

Der Versicherungsschutz kann auch nicht deshalb von vornherein verneint werden, weil die Ausweichbewegung "automatisch" erfolgte. Nach der bisher zu § 539 Abs 1 Nr 9 Buchst a RVO ergangenen Rechtsprechung des Senats muß die Rettungshandlung nämlich nicht auf einer mehr oder minder längeren Überlegung beruhen. Die gegenteilige Ansicht würde zu dem vom Gesetzgeber nicht gewollten und sinnwidrigen Ergebnis führen, denjenigen Helfer vom Versicherungsschutz auszunehmen, der bei einem drohenden Unglücksfall sofort handelt. Auch bei einer aufgrund eines sekundenschnell gefaßten Entschlusses oder bei einer aufgrund innerer Bereitschaft, jederzeit einem Menschen im Rahmen des zumutbar Möglichen zu helfen, spontan geleisteten aktiven Hilfe kann deshalb Versicherungsschutz nach dieser Vorschrift bestehen (vgl BSGE 44, 22, 24). Damit hat der Senat bereits zu erkennen gegeben, daß es weniger auf die bewußte, auf der Abwägung der Gefahren basierenden Willensentscheidung, sondern mehr auf die Rettungshandlung selbst und den ihr zugrundeliegenden Beweggrund ankommt, der auch vom Unterbewußtsein bestimmt sein kann. Das gilt vor allem für die im Bereich des Straßenverkehrs unerwartet auftretenden Gefahrensituationen. Auch Automatismen können von der inneren Bereitschaft, in bestimmten Situationen lebensrettend zu handeln, getragen sein, zB durch angelernte Verhaltensweisen. Hinzu kommt, daß eine sichere Abgrenzung zwischen automatischen und aufgrund sekundenschneller Überlegung unternommenen Rettungsversuchen häufig nicht möglich wäre (vgl BSG aaO zur "spontanen" Hilfeleistung). Entscheidend ist aber, ob die automatische Handlung wesentlich (nicht nur in äußerst geringem Maße - wie der Kläger meint -) von einer solchen inneren Absicht gesteuert wurde.

Dafür liegen im Falle des Klägers keine Anhaltspunkte vor. Bei reflexartigen Ausweichbewegungen im Straßenverkehr kann nicht generell von einem bestimmten inneren Handlungsmotiv ausgegangen werden. Die automatisierten Reaktionen sind sowohl in bezug auf den handelnden Menschen als auch in bezug auf die jeweilige Verkehrssituation verschieden. Ihnen liegt ein Bündel unterschiedlichster Handlungsmotive zugrunde, die insgesamt auf die Vermeidung der unmittelbar drohenden Kollision gerichtet sind. Inwieweit die Reaktion hierbei wesentlich von dem Motiv, Dritte zu schützen, oder wesentlich von dem Bestreben, sich selbst zu schützen, mitbestimmt ist, kann - insbesondere bei einem unteilbaren Geschehensablauf - nur anhand der besonderen Umstände des Einzelfalles beantwortet werden. Abzustellen ist hierbei auf die konkrete Gefahrenlage, in der sich die Verkehrsteilnehmer befinden. Diese muß bei natürlicher Betrachtungsweise objektiv geeignet sein, eine Rettungshandlung auszulösen (so Bayerisches LSG, Urteil vom 28. Oktober 1987, Breithaupt 1988, 633). So wird eine Rettungsabsicht eher anzunehmen sein, wenn die Beteiligten höchst unterschiedlich gefährdet sind, wie zB bei einer unmittelbar bevorstehenden Kollision zwischen einem Pkw und einem Fußgänger, wohingegen ein Mofafahrer im allgemeinen nicht in Rettungs-, sondern in Selbstschutzabsicht handelt, wenn er einem entgegenkommenden Lkw auszuweichen versucht. Ist die Gefährdung für die beteiligten Verkehrsteilnehmer dagegen annähernd gleichgroß, so müssen zusätzliche Anhaltspunkte vorliegen, um eine Ausweichreaktion nicht lediglich als ein instinktives Abwehrverhalten oder - wie der Sachverständige sich ausgedrückt hat - als automatische Fluchtreaktion zu qualifizieren.

Im vorliegenden Fall war T. als Fußgängerin naturgemäß besonders gefährdet. Aber auch für den Kläger bestand ein relativ hohes Verletzungsrisiko; denn im Hinblick auf die Instabilität von Zweiradfahrzeugen und die im Vergleich zu Fahrzeuginsassen ungeschützte Position müssen Motorradfahrer bei jedem drohenden Zusammenprall mit einem größeren Hindernis mit einem Sturz und den damit verbundenen Verletzungsgefahren rechnen. Aus diesen Gegebenheiten allein kann daher nicht auf eine Rettungsabsicht geschlossen werden. Dafür sprechen auch keine sonstigen Umstände. Soweit der Kläger in diesem Zusammenhang vorträgt, für seine Opferbereitschaft spreche, daß er überhaupt noch eine Ausweichbewegung gemacht habe, während er sich unter Beibehaltung seiner Fahrtrichtung erfahrungsgemäß weniger verletzt hätte, so übersieht er, daß von derartigen Überlegungen bei reflexartigen Handlungen gerade nicht ausgegangen werden kann. Schließlich kann sich der Kläger auch nicht auf das Urteil des erkennenden Senats vom 30. November 1982 (BSGE 54, 190) berufen. Denn jener Entscheidung lag eine wesentlich andere Verkehrssituation zugrunde. Die beteiligten Verkehrsteilnehmer waren in höchst unterschiedlicher Weise gefährdet. Die Pkw-Fahrerin hatte die Gefahr für den ihr auf vereister Fahrbahn entgegenkommenden Mofafahrer rechtzeitig erkannt und ihr Fahrzeug dementsprechend nach rechts von der Fahrbahn gelenkt, "um die für den Mofafahrer entstandene Gefahr zu beseitigen"; dies war - anders als im vorliegenden Fall - der für sie wesentlich bestimmende Beweggrund.

Nach allem ist der Entschädigungsanspruch des Klägers unbegründet.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.

 

Fundstellen

BSGE, 218

NJW 1989, 2077

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