Entscheidungsstichwort (Thema)

Arbeitsgerät. Zurichten von Material für Unterricht in der Berufsschule. Erneuerung des Arbeitsgeräts

 

Leitsatz (amtlich)

Zur Frage des Versicherungsschutzes eines Berufsschülers (§ 539 Abs 1 Nr 14 Buchst c RVO), der zu Hause beim Herrichten von Holzteilen verunglückt ist, die er weisungsgemäß - gesägt und gehobelt - für den fachpraktischen Unterricht in der Berufsschule mitbringen sollte.

 

Orientierungssatz

1. § 549 RVO ist im Rahmen der Schülerunfallversicherung anwendbar. Daher sind auch Lernende bei der Erneuerung eines Arbeitsgerätes unfallversicherungsrechtlich geschützt.

2. Ein für die Verwendung im fachpraktischen Unterricht der Berufsschule bearbeitetes Holzbrett ist ein Arbeitsgerät iS des § 549 RVO.

3. Bei Schülern allgemeinbildender Schulen gehören zu den Arbeitsgeräten Unterrichtsmaterialien, die die Schule zur Verrichtung der schulischen Tätigkeiten als erforderlich ansieht (vgl BSG 22.10.1975 8 RU 68/75 = SozR 2200 § 549 Nr 2).

 

Normenkette

RVO § 539 Abs 1 Nr 14 Buchst c Fassung: 1971-03-18, § 549 Fassung: 1963-04-30

 

Verfahrensgang

Bayerisches LSG (Urteil vom 09.11.1982; Aktenzeichen L 8/U 161/81)

SG Regensburg (Entscheidung vom 21.05.1981; Aktenzeichen S 3/U 281/80)

 

Tatbestand

Der 1962 geborene Kläger besuchte als Auszubildender für den Beruf des Schreiners im ersten Ausbildungsjahr die Staatliche Berufsschule Ch., Außenstelle W. . Für die dort im Rahmen des fachpraktischen Unterrichts zu fertigenden Arbeitsproben/ Werkstücke hatten die Schüler die Holzmaterialien jeweils mitzubringen, wobei ihnen gewöhnlich eine Woche vorher mitgeteilt wurde, welche Holzteile - gesägt und gehobelt - zum Unterricht mitzubringen waren.

Am 23. April 1979 richtete der Kläger in der Werkstatt seines Vaters - er wurde dort nicht ausgebildet - entsprechend dem Auftrag seines Fachlehrers für ein am nächsten Schultag im fachpraktischen Unterricht zu fertigendes "Mini-Nudelbrett" das Holzmaterial her. Beim Zuschneiden des Brettes geriet der Kläger mit der linken Hand in die Kreissäge. Er erlitt dabei einen teilweisen Verlust des linken Daumens sowie Riss- und Schnittverletzungen mit Knochen- und Sehnendurchtrennung am Endglied des linken fünften Fingers.

Der Beklagte lehnte Entschädigungsansprüche aus der gesetzlichen Unfallversicherung ab (Bescheid vom 12. Oktober 1979). Der Kläger habe zur Zeit des Unfalls nicht nach § 539 Abs 1 Nr 14 Buchst c der Reichsversicherungsordnung (RVO) unter Versicherungsschutz gestanden. Denn das Herrichten der Holzteile für den fachpraktischen Berufsschulunterricht sei, wie auch die Erledigung von Schularbeiten im häuslichen Bereich, eine private eigenwirtschaftliche Tätigkeit. Den Widerspruch des Klägers wies der Beklagte zurück (Widerspruchsbescheid vom 11. September 1980).

Das Sozialgericht (SG) Regensburg hat den Beklagten verurteilt, den Unfall des Klägers vom 23. April 1979 als versicherten Unfall anzuerkennen und dem Kläger hierfür die vorgesehenen gesetzlichen Leistungen zu gewähren (Urteil vom 21. Mai 1981). Die Berufung des Beklagten hat das Bayerische Landessozialgericht (LSG) nach Anhörung des Klägers und Vernehmung des Fachlehrers M. als Zeugen zurückgewiesen (Urteil vom 9. November 1982). Zur Begründung hat das LSG ausgeführt, daß der Kläger nicht bei einer mit seinem Ausbildungsverhältnis in einer Schreinerei zusammenhängenden Tätigkeit verunglückt sei; ein Versicherungsschutz nach § 539 Abs 1 Nr 1 RVO scheide daher aus. Jedoch sei der Versicherungsschutz als Lernender während der beruflichen Ausbildung in einer berufsbildenden Schule nach § 539 Abs 1 Nr 14 Buchst c RVO iVm § 549 RVO gegeben gewesen. Nach § 549 RVO gelte als Arbeitsunfall auch ein Unfall bei einer mit einer der in den §§ 539, 540 und 543 bis 545 RVO genannten Tätigkeiten zusammenhängenden Erneuerung des Arbeitsgerätes, auch wenn es vom Versicherten gestellt werde. Das in den Berufsschulunterricht mitzubringende Holzstück, bei dessen Herrichtung der Kläger verunglückt sei, sei ein Arbeitsgerät für seine Tätigkeit als Lernender in der Berufsschule gewesen. Da das früher mitgebrachte Material bereits im Unterricht verwendet worden sei und für andere Arbeitsproben nicht mehr habe gebraucht werden können, habe es sich bei dem am Unfalltag vom Kläger hergerichteten Holzstück um eine Ersatzbeschaffung im Sinne der Erneuerung eines Arbeitsgerätes gehandelt. Aber selbst wenn das mitzubringende Holzstück nicht als Arbeitsgerät angesehen werden könne, habe Versicherungsschutz nach § 539 Abs 1 Nr 14 Buchst c RVO iVm § 548 Abs 1 Satz 1 RVO bestanden. Denn das Zurichten des Holzmaterials habe der Kläger auf Weisung seines Fachlehrers für den Unterricht in der Berufsschule unternommen. Daher habe er auch im häuslichen Bereich unter Versicherungsschutz gestanden.

Das LSG hat die Revision zugelassen.

Der Beklagte hat dieses Rechtsmittel eingelegt und im wesentlichen wie folgt begründet: Der Kläger sei nicht bei der Erneuerung eines Arbeitsgerätes verunglückt. Denn ein Brett, das zur Weiterbearbeitung dienen solle, sei keinem Arbeitsgerät gleichzusetzen, mit dem eine versicherte Tätigkeit verrichtet werde. Das Herrichten des Brettes sei mit der Verrichtung einer Hausaufgabe vergleichbar; dabei bestehe kein Versicherungsschutz. Da für das Herrichten des Brettes im häuslichen Bereich auch kein individueller Auftrag an einen einzigen Schüler zugrunde gelegen habe, habe es sich auch nicht um einen Unfall iS des § 548 RVO gehandelt.

Der Beklagte beantragt, die Urteile des Bayerischen LSG vom 9. November 1982 und des SG Regensburg vom 21. Mai 1981 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-).

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des Beklagten ist nicht begründet.

Das LSG hat mit zutreffenden Erwägungen einen Arbeitsunfall des Klägers am 23. April 1979 bejaht.

Der Kläger hat den Unfall bei der im ursächlichen Zusammenhang mit seiner Tätigkeit als Lernender während der Berufsausbildung in einer berufsbildenden Schule (§ 539 Abs 1 Nr 14 Buchst c RVO) stehenden Erneuerung des Arbeitsgerätes (§ 549 RVO) erlitten. Unbeschadet der Tatsache, daß sowohl bei Schülern als auch bei Lernenden der in § 539 Abs 1 Nr 14 Buchst b und c RVO genannten Einrichtungen nicht von einem umfassenden Unfallversicherungsschutz ohne Rücksicht auf den organisatorischen Verantwortungsbereich der Einrichtungen ausgegangen werden kann (BSGE 35, 207, 211), haben sowohl der jetzt nicht mehr für Angelegenheiten der gesetzlichen Unfallversicherung zuständige 8. Senat als auch der erkennende Senat entschieden, daß § 549 RVO im Rahmen der Schülerunfallversicherung anwendbar ist, weil diese Vorschrift ihrer Zweckbestimmung nach den Versicherungsschutz gerade auf den Bereich der sonst dem Versicherungsschutz entzogenen privaten Lebenssphäre des Versicherten erstreckt (BSG SozR 2200 § 549 Nr 2 und 6; SozR 2200 § 550 Nr 32). Das Bundessozialgericht (BSG) hat dabei ua auf die Entstehungsgeschichte des § 549 RVO (SozR 2200 § 549 Nr 6) und auch darauf hingewiesen, daß § 549 RVO nur ein Unterfall des Versicherungsschutzes nach § 548 RVO ist (SozR 2200 § 549 Nr 4). Was für die Unfallversicherung der Schüler allgemeinbildender Schulen (§ 539 Abs 1 Nr 14 Buchst b RVO) entschieden ist, gilt insoweit gleichermaßen für Lernende in Berufsschulen (§ 539 Abs 1 Nr 14 Buchst c RVO). Daher sind auch Lernende bei der Erneuerung eines Arbeitsgerätes unfallversicherungsrechtlich geschützt.

Dem LSG ist auch darin zuzustimmen, daß das vom Kläger im Unfallzeitpunkt für die Verwendung im fachpraktischen Unterricht der Berufsschule bearbeitete Holzbrett ein Arbeitsgerät iS des § 549 RVO war. Insoweit bezieht sich das Berufungsgericht zutreffend auf die Rechtsprechung des BSG (BSGE 24, 243: Personenkraftwagen; SozR 2200 § 549 Nr 2: Schulheft und Nr 6: Schulbücher; SozR 2200 § 550 Nr 32: Farbtöpfe für Malkasten). Das Holzbrett war Teil der für den Unterricht mitzubringenden Materialien, aus denen in der Berufsschule ein "Mini-Nudelbrett" gefertigt werden sollte. Unerheblich ist, daß das Holzbrett, wie der Beklagte meint, kein fertiger Gegenstand ist, wie beispielsweise Malkasten, Schreibgerät, Hefte oder Bücher. Entscheidend ist, daß das Brett und die sonstigen Holzteile, zu deren Herrichtung es wegen des Unfalls des Klägers nicht mehr gekommen war, der versicherten Tätigkeit des Anfertigens eines "MiniNudelbrettes" im fachpraktischen Berufsschulunterricht zu dienen bestimmt waren. Was im Einzelfall als Arbeitsgerät anzusehen ist, ergibt sich nämlich im wesentlichen aus der betrieblichen Tätigkeit der versicherten Person und ihren arbeitsmäßigen Erfordernissen (vgl Vollmar, SozVers 1958, 322, 323). Bei Schülern allgemeinbildender Schulen - der Kläger steht diesen gleich - gehören zu den Arbeitsgeräten Unterrichtsmaterialien, die die Schule zur Verrichtung der schulischen Tätigkeiten als erforderlich ansieht (BSG SozR 2200 § 549 Nr 2). Das war hier der Fall. Der Kläger hatte, wie auch die anderen Schüler seiner Klasse, für den fachpraktischen Unterricht die ihnen vom Fachlehrer aufgegebenen Holzteile - gesägt und gehobelt - mitzubringen. Ob bei der Berufsschule die Vorstellung bestand, daß die Auszubildenden diese Holzmaterialien in der entsprechenden Bearbeitung von ihren Ausbildungsbetrieben erhalten würden, ändert nichts an der rechtlichen Qualifikation dieser Materialien als Arbeitsgeräte. Wie der Senat bereits für Betriebswege von Schülern entschieden hat, ist es auch unerheblich, ob eine entsprechende Weisung einem einzelnen Schüler oder allen Schülern einer Klasse erteilt worden ist (BSG Beschluß vom 29. April 1982 - 2 BU 39/82 -, der die Streitsache BSGE 51, 257 betrifft).

Das LSG hat die zum Unfall führende Tätigkeit des Klägers zutreffend als Erneuerung eines Arbeitsgerätes angesehen (s BSG SozR 2200 § 549 Nr 6). Die früher mitgebrachten Holzmaterialien waren im fachpraktischen Unterricht verarbeitet und daher für weitere Arbeitsproben nicht mehr zu verwenden. Das Herrichten des Brettes am Unfalltag war daher eine Ersatzbeschaffung im Sinne einer Erneuerung.

Der Senat folgt dem BSG auch darin, daß es sich bei der zum Unfall führenden Tätigkeit nicht um eine - unversicherte - Erledigung von Schulaufgaben im häuslichen Bereich gehandelt hat. Der im vorliegenden Fall festgestellte Sachverhalt unterscheidet sich, wie das LSG zutreffend ausgeführt hat, von demjenigen, über den der Senat im Urteil vom 1. Februar 1979 - 2 RU 107/77 - (SozR 2200 § 539 Nr 54) entschieden hat.

Die Revision des Beklagten war daher zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1664230

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