Leitsatz (amtlich)

Der Schüler einer allgemeinbildenden Schule, der im Rahmen des Unterrichts ein Werkstück herstellen soll, steht bei Arbeiten, die er hierfür in seinem häuslichen Bereich verrichtet, nicht unter Versicherungsschutz nach RVO § 539 Abs 1 Nr 14 Buchst b.

 

Normenkette

RVO § 539 Abs. 1 Nr. 14 Buchst. b Fassung: 1971-03-18, § 548 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1963-04-30

 

Verfahrensgang

LSG Rheinland-Pfalz (Urteil vom 09.11.1977; Aktenzeichen L 3 U 110/77)

SG Koblenz (Entscheidung vom 09.03.1977; Aktenzeichen S 8 U 364/76)

 

Tenor

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 9. November 1977 wird zurückgewiesen.

Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

Der 1963 geborene Kläger besuchte 1975 eine Hauptschule. Im Werkunterricht der Schule hatten die Schüler die Aufgabe, eine Zugbrücke aus Holz in der Länge von etwa 1,25 m herzustellen. Am Nachmittag des 30. September 1975 versuchte der Kläger zu Hause, einen Holzkeil, den er für die Brücke benötigte, mit einer seinem Vater gehörenden Säge herzustellen. Bei dieser Arbeit schlug ihm ein Stück Holz in das rechte Auge; die Verletzung führte zu einer Verringerung der Sehkraft des Auges um 90 vH.

Der Beklagte lehnte durch Bescheid vom 25. Juni 1976 eine Entschädigung ab: Die Holzbrücke hätte in der Schule hergestellt werden können; bei der freiwilligen Weiterarbeit zu Hause habe der Kläger als Schüler einer allgemeinbildenden Schule nach § 539 Abs 1 Nr 14 Buchst b der Reichsversicherungsordnung (RVO) nicht unter Versicherungsschutz gestanden. Den Widerspruch des Klägers wies der Beklagte durch Bescheid vom 10. September 1976 zurück.

Hiergegen richtet sich die Klage. Das Sozialgericht (SG) Koblenz hat durch Urteil vom 9. März 1977 die Klage abgewiesen. Es hat angenommen, der Unfallversicherungsschutz für Schüler erstrecke sich nicht auf den häuslichen Bereich; es könne deshalb dahingestellt bleiben, ob der Lehrer einen Auftrag zur Hausarbeit erteilt habe und ob wegen einer unzulänglichen Ausstattung des Werkraumes in der Schule die Arbeit im häuslichen Bereich notwendig gewesen sei.

Die Berufung des Klägers, mit welcher er weiterhin die Gewährung einer Rente erstrebt, hat das Landessozialgericht (LSG) durch Urteil vom 9. November 1977 zurückgewiesen. Zur Begründung hat es ua ausgeführt: Der Unfall des Klägers habe sich im häuslichen Bereich ereignet, der von dem organisatorischen Rahmen der Schule nicht erfaßt sei und damit nicht in die Verantwortlichkeit der Schule falle, auch wenn die Tätigkeit, die zu dem Unfall führte, der Schulausbildung gedient habe. Es könne dahingestellt bleiben, ob der Lehrer die Arbeit im häuslichen Bereich verlangt habe. Jedenfalls habe es sich nicht um eine Schulveranstaltung gehandelt. Auf die Gefährlichkeit der Tätigkeit komme es nicht an. Es sei auch nicht entscheidend, daß den Schülern aufgetragen worden sei, die Holzbrücke ohne fremde Hilfe anzufertigen; daraus folge nicht, daß die Aufsicht der Erziehungsberechtigten überflüssig oder unnötig gewesen sei oder das Werken etwa damit unter der Verantwortung der Schule habe stehen sollen. Der Umgang mit Unterrichtsmaterial außerhalb der Schule sei dem unversicherten privaten Bereich zuzurechnen (BSGE 35, 207). Ein Versicherungsschutz sei auch nicht aus § 549 RVO herzuleiten, da sich der Unfall nicht bei der Beschaffung oder Instandhaltung eines Arbeitsgerätes, sondern bei der Herstellung eines Arbeitsstückes ereignet habe.

Das LSG hat die Revision zugelassen.

Der Kläger hat dieses Rechtsmittel eingelegt und zur Begründung vorgetragen: Das LSG hätte die Anfertigung der Zugbrücke versicherungsrechtlich nicht genauso behandeln dürfen wie die Erledigung von Schulaufgaben innerhalb des häuslichen Bereichs. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) sei der Versicherungsschutz gegeben, wenn ein unmittelbarer räumlicher und zeitlicher Zusammenhang zur Schule und zu deren Veranstaltungen bestehe (BSG Urteil vom 23. Juni 1977 - 8 RU 86/76 -, SozR 2200 § 539 RVO Nr 16). Der Werkunterricht sei eine Veranstaltung der Schule gewesen. Selbst wenn der Kläger mit der Herstellung der Brücke nur in Verzug geraten sein sollte, wäre doch der räumliche und zeitliche Zusammenhang mit der schulischen Veranstaltung "Werkunterricht" gegeben. Hausaufgaben könnten den Schulunterricht nur ergänzen, sie dienten dazu, das im Unterricht Erarbeitete einzuprägen. Die Arbeit an der Holzbrücke dagegen sei die Fortsetzung dessen gewesen, was im Werkunterricht angeleitet worden sei. Im übrigen sei zu berücksichtigen, daß der Werkunterricht hier nicht anders hätte durchgeführt werden können, weil die Herstellung des Werkstückes mangels Arbeitsplätzen und Arbeitsgeräten nicht innerhalb von 6 Schulstunden hätte vorgenommen werden können.

Der Kläger beantragt,

das angefochtene Urteil aufzuheben und unter Änderung des Urteils des SG Koblenz vom 9. März 1977 den Beklagten unter Aufhebung seiner Bescheide vom 25. Juni 1976 und vom 10. September 1976 zu verurteilen, für die Folgen des Unfalls vom 30. September 1975 eine Rente zu gewähren.

Der Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

 

Entscheidungsgründe

Der Senat hat mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entschieden (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).

Die Revision des Klägers ist nicht begründet.

Nach § 539 Abs 1 Nr 14 Buchst b RVO sind Schüler während des Besuchs allgemeinbildender Schulen gegen Arbeitsunfall (§ 548 RVO) versichert. Zum Besuch allgemeinbildender Schulen gehört vor allem die Teilnahme am Schulunterricht einschließlich schulischer Veranstaltungen wie Schulausflüge, Schulreisen oder die Tätigkeit der Schülermitverwaltung (vgl BT-Drucks VI/1333 S. 4; BSGE 39, 252, 253; 41, 149, 150; 44, 94, 95; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 1.-9. Aufl, S. 474 q IV, 483 1 mwN). Beim Besuch des Schulunterrichts und anderer schulischer Veranstaltungen stehen Schüler allgemeinbildender Schulen zwar auch unter Versicherungsschutz, wenn der Unterricht oder die Veranstaltung außerhalb des Schulgebäudes stattfinden (vgl Brackmann aaO S. 483 m; BSGE 39, 252, 253). Sowohl aus dem Gesetzeswortlaut ("während des Besuchs") als auch aus der Entstehungsgeschichte des § 539 Abs 1 Nr 14 RVO idF des Gesetzes über Unfallversicherung für Schüler und Studenten sowie Kinder in Kindergärten vom 18. März 1971 (BGBl I 237) ergibt sich jedoch, daß der Gesetzgeber auch bei den Schülern allgemeinbildender Schulen nicht von einem umfassenden Versicherungsschutz ohne Rücksicht auf den organisatorischen Verantwortungsbereich der Schule ausgegangen ist (BT-Drucks VI/1333 S. 4; BSGE 35, 207, 211; 44, 94, 97). Außerhalb des organisatorischen Verantwortungsbereichs der Schule sind die Schüler grundsätzlich auch bei den Verrichtungen nicht gegen Arbeitsunfall versichert, die wesentlich durch den Schulbesuch bedingt sind und deshalb an sich mit ihm in einem ursächlichen Zusammenhang stehen (vgl Brackmann aaO S. 483 m). Daraus ist nach der Auffassung des erkennenden Senats zutreffend gefolgert worden, daß Schüler allgemeinbildender Schulen bei der Erledigung von Schulaufgaben im häuslichen Bereich nicht unter Versicherungsschutz stehen (Bayer. LSG in Breithaupt 1976, 18; Brackmann aaO S. 474 s, 483 n; Lauterbach, Gesetzliche Unfallversicherung, 3. Aufl, Anm 85 Nr 3 Buchst b zu § 539; Vollmar, Unfallversicherung für Schüler und Studenten sowie Kinder in Kindergärten, 2. Aufl S. 27). Auch der 8. Senat des BSG hat bereits (SozR 2200 § 549 Nr 2; BSGE 41, 149, 151) seine - die Entscheidungen allerdings nicht tragende - Auffassung zu erkennen gegeben, daß Schüler bei der Fertigung von Hausaufgaben in ihrer privaten Lebenssphäre grundsätzlich nicht nach § 539 Abs 1 Nr 14 Buchst b RVO versichert sind (SozR 2200 § 549 Nr 2; BSGE 41, 149, 151). Das LSG hat somit zu Recht entschieden, daß der Kläger, als er zu Hause einen Holzkeil für die im Werkunterricht anzufertigende Brücke herstellen wollte, nicht nach § 548 iVm § 539 Abs 1 Nr 14 Buchst b RVO unter Versicherungsschutz gestanden hat.

Der Werkunterricht selbst war zwar eine schulische Veranstaltung, wie die Revision insoweit zutreffend geltend macht. Dem Revisionsvorbringen ist jedoch nicht darin zu folgen, daß der Kläger im Zeitpunkt seines Unfalls gegen Arbeitsunfall versichert gewesen sei, weil die Herstellung eines Holzkeils für die Brücke als Fortsetzung dessen, wozu die Schüler im Werkunterricht angeleitet worden seien, in einem "unmittelbaren räumlichen und zeitlichen Zusammenhang" mit dieser schulischen Veranstaltung gestanden habe (vgl BSGE 41, 149, 151). Es hat vielmehr, da der Kläger die Arbeit im häuslichen Bereich verrichtete, schon an dem räumlichen Zusammenhang mit dem Schulunterricht gefehlt. Mit Recht hat das LSG als für die Entscheidung des Rechtsstreits unerheblich erachtet, ob wegen unzureichender Arbeitsplätze im Schulbereich die Aufgabe der Schüler - die Herstellung einer Holzbrücke - allein während der Unterrichtsstunden in der Schule nicht hätte erledigt werden können und der den Werkunterricht erteilende Lehrer den Schülern als Hausaufgabe die Weiterarbeit an der Holzbrücke aufgegeben hat. Denn für den Ausschluß des Versicherungsschutzes in Fällen der vorliegenden Art für Schüler während des Besuchs allgemeinbildender Schulen ist grundsätzlich wesentlich, daß der Unfall außerhalb des organisatorischen Verantwortungsbereichs der Schule in der privaten - häuslichen - Lebenssphäre des Schülers eingetreten ist.

Die Revision des Klägers gegen das angefochtene Urteil ist demnach zurückzuweisen.

Die Entscheidung über die außergerichtlichen Kosten folgt aus § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1656923

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