Leitsatz (amtlich)

1. Zur Frage, unter welchen Umständen eine Vergiftung durch verdorbene Speisen als Arbeitsunfall anzusehen ist, wenn der Versicherte die Speisen während einer Dienstreise in der Kantine eines fremden Betriebes zu sich genommen hat, den er im Auftrage einer Treuhandgesellschaft zu prüfen hatte.

2. Zur Frage der wesentlichen Mitverursachung des Todes durch einen Arbeitsunfall, wenn dieser ein bestehendes Leiden verschlimmert hat (Anschluß BSG 1958-03-14 2 RU 48/56 = SozR Nr 10 zu § 542 RVOaF).

 

Orientierungssatz

1. Zur Abgrenzung der rechtlich wesentlichen "Teilursache" von der "Gelegenheitsursache".

2. Zur Frage der "Beschleunigung des Ablebens um ein Jahr" durch einen Arbeitsunfall.

 

Normenkette

RVO § 542 Fassung: 1942-03-09

 

Tenor

Das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 23. April 1959 wird mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

I

Der Ehemann der Klägerin war seit 1932 bei der Deutschen Treuhandgesellschaft in Berlin, einem Mitglied der beklagten Berufsgenossenschaft, als Prüfer angestellt. Am 2. Mai 1956 begann er für seine Arbeitgeberin mit einer Prüftätigkeit bei der Zentraleuropäischen Versicherungs-AG. in Stuttgart; die Tätigkeit sollte sich auf etwa zwei Monate erstrecken. Bereits am ersten Arbeitstage zog er sich beim Mittagessen in der Kantine des zu prüfenden Unternehmens eine Lebensmittelvergiftung zu. Mit ihm erkrankten weitere 30 von 70 Essensteilnehmern an Durchfall, zum Teil mit Kopfschmerzen und Benommenheitszuständen. Während alle erkrankten Angehörigen der Zentraleuropäischen Versicherungs-AG. am nächsten Tage wieder gesund waren, klagte der Ehemann der Klägerin noch über Kopfschmerzen; deshalb blieb er vom 4. bis 6. Mai der Arbeit fern. Am 7. Mai arbeitete er wieder, fühlte sich aber sehr unwohl und hatte auch in der Folgezeit unter Appetitlosigkeit, Druck im Kopf, Übelkeit und Durchfall zu leiden. Am 17. Mai 1956 wurde er in das Krankenhaus Bad Cannstatt eingeliefert. In den ersten Tagen verschlechterte sich sein Gesundheitszustand weiter. Dann trat eine Besserung ein; das Bewußtsein wurde wieder merklich klarer. Mit der cerebralen Besserung stellte sich jedoch eine Darmlähmung ein, die zu einer Kreislaufverschlechterung führte. Nachdem der Kreislauf mehrfach versagt hatte und eine Lungenembolie aufgetreten war, starb der Ehemann der Klägerin am 29. Mai 1956. Der Sektionsbefund ergab eine Erkrankung der harten Hirnhaut mit Komplikationen.

In einem Gutachten vom 6. August 1956 bezeichnete Oberarzt Dr. B von der Inneren Klinik des Städtischen Krankenhauses Stuttgart-Bad Cannstatt die Erkrankung der harten Hirnhaut mit ihren Komplikationen als Todesursache. Weiter heißt es in dem Gutachten u. a.: Die Krankheit, anlagebedingt und wahrscheinlich ausgelöst durch eine bei der Sektion festgestellte Arteriosklerose, habe mindestens seit mehreren Monaten bestanden. Sie sei durch die Lebensmittelvergiftung offenbar geworden und richtunggebend verschlimmert worden. Die Beklagte holte außerdem ein Gutachten von der Medizinischen Klinik der Freien Universität Berlin ein. Darin führten Prof. Dr. P und Prof. Dr. T zusammenfassend aus: Todesursache sei eine Hirnhautentzündung mit ihren Komplikationen gewesen. Die Erkrankung habe wohl schon seit Monaten bestanden. Der Ausbruch der akuten Endphase sei höchstwahrscheinlich durch eine Nahrungsmittelvergiftung verursacht worden. Die Vergiftung habe auch durch Verschlimmerung der Grundkrankheiten einmalig richtunggebender Weise zum Tode beigetragen. Dieser sei früher als unter normalen Umständen eingetreten, um wieviel früher, lasse sich nicht mit Bestimmtheit sagen; es könnten Wochen, aber auch Monate gewesen sein.

Durch Bescheid vom 11. Oktober 1956 lehnte die Beklagte den Anspruch der Klägerin auf Witwenrente ab. Zur Begründung führte sie in erster Linie aus, die Einnahme des Essens sei selbst unter Berücksichtigung des Umstandes, daß der Ehemann der Klägerin sich auf einer Dienstreise befunden habe, eine eigenwirtschaftliche Tätigkeit gewesen. Hilfsweise berief sie sich darauf, die auf die Lebensmittelvergiftung zurückzuführende Beeinflussung des Grundleidens des Erkrankten habe sein Leben nicht um mindestens ein Jahr verkürzt, also seinen Tod nicht in rechtlich wesentlicher Weise verursacht.

Diesen Bescheid hat die Klägerin mit der Klage angefochten. Das Sozialgericht (SG.) Berlin hat den Facharzt für Chirurgie und Röntgenologie Dr. N als Sachverständigen gehört. Dieser ist weitgehend zu dem gleichen Ergebnis gelangt wie die von der Beklagten zugezogenen Sachverständigen. Er hat jedoch die Frage, ob durch die Lebensmittelvergiftung der Eintritt des Todes um mindestens ein Jahr beschleunigt worden ist, im Hinblick auf die in den letzten Krankheitstagen festgestellte Besserung der Hirnhautentzündung, mit hinreichender Wahrscheinlichkeit bejaht.

Durch Urteil vom 27. März 1957 hat das SG. den Bescheid der Beklagten aufgehoben und diese verurteilt, der Klägerin die Witwenrente zu gewähren. Es hat in der Lebensmittelvergiftung einen Arbeitsunfall gesehen und hierzu ausgeführt: Zwar stehe die Nahrungsaufnahme als eigenwirtschaftliche Tätigkeit grundsätzlich nicht unter Versicherungsschutz. Anders sei dies jedoch, wenn ein Betriebsangehöriger sein Essen in der Werkskantine einnehme und dabei durch verdorbene Speisen geschädigt werde. Der Ehemann der Klägerin sei allerdings nicht Angehöriger desjenigen Betriebes gewesen, der die Kantine unterhalten habe. Er sei aber als Prüfer für diesen Betrieb tätig gewesen und habe deshalb, wenn auch nicht formell, so doch tatsächlich während der Prüfzeit zu ihm gehört. Überdies habe die Einnahme des Essen in der Kantine wegen der Zeit- und Kräfteersparnis nicht nur im Interesse des geprüften Betriebes, sondern auch der Deutschen Treuhandgesellschaft gelegen.

Die hiergegen form- und fristgerecht eingelegte Berufung der Beklagten ist durch Urteil des Landessozialgerichts (LSG.) Berlin vom 23. April 1959 mit folgender Begründung zurückgewiesen worden: Das SG. habe den Ehemann der Klägerin zu Unrecht als "de facto - Betriebsangehörigen" der Zentraleuropäischen Versicherungs-AG. behandelt. Gleichwohl sei die Lebensmittelvergiftung als Arbeitsunfall zu werten. Auf Dienstreisen sei für mancherlei nicht ausschließlich zur privaten Sphäre des Versicherten gehörende Betätigungen ein rechtlich wesentlicher Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit anzuerkennen. Wenn schon ein Hotel, wie das Bundessozialgericht (BSG.) in BSG. 8 S. 48 angenommen habe, für auswärtige Betriebsangehörige einen Ersatz für die eigene Häuslichkeit und die Arbeitsstätte bilde, so müsse dies erst recht für eine Werkskantine gelten. Während der Essenseinnahme in der Kantine habe die Beziehung des Ehemannes der Klägerin zu seiner dienstlichen Tätigkeit insofern fortbestanden, als seine Arbeitgeberin daran interessiert gewesen sei, daß ihr Prüfer die ihm übertragene Arbeit möglichst schnell beendete, also keine unnötige Zeit mit dem Aufsuchen von Speiselokalen verbrauchte. Der Deutschen Treuhandgesellschaft sei auch daran gelegen gewesen, daß ihr Prüfer die Verpflegungsspesen möglichst gering hielt. In der Essenseinnahme könne daher nicht eine so eindeutige und nachhaltige Hinwendung zu rein persönlichen Belangen erblickt werden, daß der Versicherungsschutz entfallen müßte. - Den medizinischen Zusammenhang zwischen dem Tod und der Lebensmittelvergiftung hat das LSG. in Übereinstimmung mit dem SG. bejaht; es hat als hinreichend wahrscheinlich erachtet, daß die vermutliche Lebensdauer des Ehemannes der Klägerin durch die Vergiftung um mindestens ein Jahr verkürzt worden sei.

Das LSG. hat die Revision zugelassen.

Das Urteil ist der Beklagten am 22. Mai 1959 zugestellt worden. Hiergegen hat sie am 11. Juni 1959 Revision eingelegt und diese gleichzeitig sowie mit Schriftsatz vom 3. Juli 1959, der am 9. Juli 1959 beim BSG. eingegangen ist, begründet.

Die Revision rügt Verletzung des § 542 der Reichsversicherungsordnung (RVO). Sie führt aus: Eine Essenseinnahme könne nur ausnahmsweise in einem rechtlich wesentlichen inneren Zusammenhang mit der versicherten Arbeitstätigkeit stehen. Besondere Umstände, die in dem zu entscheidenden Falle zum Versicherungsschutz führen könnten, lägen nicht vor, jedenfalls seien sie nicht rechtsirrtumsfrei festgestellt. Das LSG. habe die Grenzen des Rechts der freien Beweiswürdigung überschritten, indem es weitgehend mit Vermutungen und Unterstellungen gearbeitet habe. Dies gelte z. B. für die Feststellung, die Deutsche Treuhandgesellschaft habe "zweifellos ein Interesse daran gehabt, daß ihr Prüfer die Arbeit in Stuttgart schnell beendete, also in der Mittagspause keine unnötige Zeit mit dem Aufsuchen von Speiselokalen verbrauchte". In Wahrheit sei es der Arbeitgeberin des Verstorbenen gleichgültig gewesen, wo dieser sein Mittagessen einnahm. Sie habe keine Veranlassung gehabt, ihm eine ausreichende Mittagspause zu versagen. Unrichtig sei auch die Feststellung, der Deutschen Treuhandgesellschaft sei "sicherlich daran gelegen gewesen, daß ihr Prüfer die Verpflegungsspesen möglichst gering hielt". Der Ehemann der Klägerin habe feste Tagegelder bezogen, aus denen er seine Verpflegungskosten zu bestreiten gehabt habe. In dieser Hinsicht hätte das LSG. den Sachverhalt durch Befragen der Beteiligten und der Deutschen Treuhandgesellschaft aufklären müssen. - Schließlich ist die Revision der Auffassung, es fehle an einer ausreichenden Grundlage für die Feststellung des LSG., die Lebensmittelvergiftung habe das Leben des Ehemannes der Klägerin um mehr als ein Jahr verkürzt. Sie weist daraufhin, daß nur der Sachverständige Dr. N eine Verkürzung um mehr als ein Jahr angenommen habe. Dessen Gutachten hält sie jedoch insofern für widersprüchlich, als er einerseits ausführe, die Erkrankung der Hirnhaut habe sich während der letzten Tage deutlich gebessert, andererseits aber sage, der Ehemann der Klägerin habe die Besserung wegen des durch die Komplikationen eingetretenen Todes nicht erlebt.

Die Beklagte beantragt,

die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und die Klage abzuweisen,

hilfsweise,

die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG. zurückzuverweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Zu der Frage, ob die Lebensmittelvergiftung als Arbeitsunfall anzusehen ist, bezieht sie sich im wesentlichen auf das angefochtene Urteil. Gegenüber den Verfahrensrügen der Revision vertritt sie die Auffassung, das LSG. habe mit Recht und ohne daß eine weitere Sachaufklärung erforderlich gewesen wäre, festgestellt, die Deutsche Treuhandgesellschaft sei an der schnellen Erledigung der Prüfungsarbeiten interessiert gewesen; denn die Summe der Spesen sei naturgemäß niedriger, wenn die Anzahl der Arbeitstage geringer sei. Den von der Revision gerügten Widerspruch im Gutachten des Dr. N hält die Klägerin nicht für gegeben.

II

Die Revision ist durch Zulassung statthaft (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -), auch form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden, also zulässig. Sie hatte auch Erfolg.

Bei der Beurteilung der Rechtsfrage, ob die Lebensmittelvergiftung des Ehemannes der Klägerin als Arbeitsunfall im Sinne des § 542 RVO anzusehen ist, ist das LSG. mit Recht von dem anerkannten Grundsatz ausgegangen, daß die Nahrungsaufnahme im allgemeinen der rein persönlichen Sphäre des Versicherten zuzurechnen ist (vgl. RVA., AN. 1907 S. 472 Nr. 2193; Handbuch der Unfallversicherung Bd. 1 S. 111; RVO-Mitgl. Kommentar, § 544 S. 56; Lauterbach, Unfallversicherung, 2. Aufl. S. 68; BSG., Urt. vom 30.6.1960 - 2 RU 111/58 -). Demgemäß hat das Reichsversicherungsamt (RVA.) in einer Schädigung durch verdorbene Speisen nur dann einen Arbeitsunfall gesehen, wenn sich ein besonderer Zusammenhang zwischen der Nahrungsaufnahme und der versicherten Beschäftigung feststellen ließ (vgl. Nachweise im RVO-Mitgl Kommentar, § 544 Anm. 4 I D 2 b S. 56). Einen solchen Zusammenhang hat z. B. das Landesarbeitsgericht Leipzig in einer Entscheidung vom 30. Mai 1941 für den Fall angenommen, daß ein Arbeiter durch ein in der Werkskantine seines Betriebes eingenommenes verdorbenes Essen in seiner Gesundheit geschädigt wurde (EuM. Bd. 49 S. 8). Als Merkmale für einen rechtlich wesentlichen Zusammenhang hat das Landesarbeitsgericht unter Hinweis auf "die neuzeitliche Auffassung von Betrieb und Betriebsgemeinschaft" vor allem herausgestellt, daß gemeinsame Mahlzeiten in einer Werkskantine kameradschaftsfördernd wirken und - was für die damalige Kriegszeit von erheblicher Bedeutung war - daß die Betriebsangehörigen nur in der Gemeinschaftsverpflegung die Vorteile der Sonderzuweisungen an Werksküchen mitgenießen könnten. Ob dieser Auffassung für die Esseneinnahme in Werkskantinen in der Gegenwart zuzustimmen ist, brauchte der Senat nicht zu entscheiden, weil der Ehemann der Klägerin, wie das LSG. mit Recht ausgeführt hat, nicht zu der Belegschaft gehörte, für welche die Kantine eingerichtet war. Die Beantwortung der Frage nach dem Vorliegen eines Arbeitsunfalls hängt entscheidend davon ab, ob die Esseneinnahme mit der versicherten Tätigkeit des Ehemannes der Klägerin, also mit der für die Deutsche Treuhandgesellschafts als seine Arbeitgeberin ausgeübten Prüftätigkeit in einem rechtlich wesentlichen inneren Zusammenhang stand. Dieses Erfordernis ist nicht schon deshalb erfüllt, weil der Ehemann der Klägerin in den Räumen und möglicherweise unter Benutzung von Betriebseinrichtungen der Zentraleuropäischen Versicherungs-AG. tätig zu sein hatte und es unter diesen Umständen nahe lag, zur Einnahme des Mittagessens die Kantine des zu prüfenden Unternehmens aufzusuchen. Der erkennende Senat hat bereits in dem vom LSG. angeführten Urteil vom 30. Juli 1958 (BSG. 8 S. 48) entschieden, daß auf einer Dienstreise der Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung nicht schon deshalb ohne weiteres gegeben ist, weil der Beschäftigte gezwungen ist, sich in einer fremden Stadt aufzuhalten, vielmehr muß auch in einem solchen Falle die unfallbringende Betätigung mit dem Beschäftigungsverhältnis in einem rechtlich wesentlichen Zusammenhang stehen. Ein solcher Zusammenhang wird allerdings, wie der Senat a. a. O. weiter ausgeführt hat, am Ort der auswärtigen Beschäftigung in der Regel eher anzunehmen sein als am Wohn- oder Betriebsort.

Prüft man den vorliegenden Streitfall unter dem vorstehend dargelegten rechtlichen Gesichtspunkt, so liegt es nach dem Sachverhalt und der Lebenserfahrung allerdings nicht fern, daß der Ehemann der Klägerin aus Gründen, die sich aus seinem Beschäftigungsverhältnis zur Deutschen Treuhandgesellschaft ergaben, veranlaßt worden war, das Mittagessen am 2. Mai 1956 in der Kantine der Zentraleuropäischen Versicherungs-AG. einzunehmen. Dies wäre z. B. der Fall, wenn das zu prüfende Unternehmen durchgehende Arbeitszeit hatte, der Prüfer wegen der erforderlichen Zusammenarbeit mit Bediensteten des Betriebes oder der Benutzung von Betriebseinrichtungen gehalten war, die Arbeitszeit voll auszunutzen, und es in der Nähe der Arbeitsstätte keine Gastwirtschaft gab, in der sich die Nahrungsaufnahme annähernd so zeitsparend gestaltete wie in der Werkskantine. Ein besonderer Grund zur Benutzung der Kantine könnte auch vorliegen, wenn sich unweit der Arbeitsstätte zwar Gaststätten befanden, ihre Preise aber so hoch waren, daß es für den Ehemann der Klägerin nach seiner Besoldung und seinen Spesensätzen unzumutbar gewesen wäre, von solchen Gelegenheiten Gebrauch zu machen. Möglicherweise war der Ehemann der Klägerin auch ortsfremd und ihm deshalb die Lage von Speiselokalen unbekannt. Sollte er am 1. Mai 1956 erst spät in Stuttgart eingetroffen sein und die Prüftätigkeit am 2. Mai schon früh begonnen haben, so könnte das Aufsuchen der Kantine am Mittag des 2. Mai so zu erklären sein, daß es als Zwischenlösung bis zum Auffinden einer geeigneten Speisewirtschaft gedacht war. Schließlich könnte ein besonderer Anlaß zur Benutzung der Kantine darin zu suchen sein, daß der Ehemann der Klägerin im Interesse seiner Tätigkeit darauf angewiesen war, eine nähere persönliche Verbindung zu gewissen Bediensteten des Unternehmens zu erhalten, und daß er diese am leichtesten bei privaten Gesprächen am Mittagstisch finden zu können glaubte. Von Bedeutung hierfür werden etwaige Wünsche oder Anweisungen der Treuhandgesellschaft sein, wobei die Möglichkeit nicht ohne weiteres auszuschließen ist, daß der Arbeitgeberin eine allzu enge Verbindung zwischen ihrem Prüfer und den leitenden Bediensteten des Unternehmens gerade unerwünscht war.

Die tatsächlichen Umstände, auf die es nach den vorangegangenen Ausführungen für die Entscheidung des Rechtsstreits ankommen könnte, sind bisher weitgehend ungeklärt. Das LSG. hat einen rechtlich wesentlichen inneren Zusammenhang zwischen der Lebensmittelvergiftung des Klägers und seiner Prüftätigkeit vor allem damit begründet, es habe im Interesse der Treuhandgesellschaft gelegen, daß der Ehemann der Klägerin keine unnötige Zeit mit dem Aufsuchen von Speiselokalen versäumt und die Verpflegungsspesen möglichst niedrig gehalten habe.

Diese Feststellungen und Erwägungen sind jedoch, wie die Revision mit Recht gerügt hat, nicht frei von Verstößen gegen verfahrensrechtliche Vorschriften. Unnötige Zeit mit dem Aufsuchen von Speiselokalen hätte der Ehemann der Klägerin nur versäumt, wenn in unmittelbarer Nähe der Geschäftsräume der Zentraleuropäischen Versicherungs-AG. keine Gaststätte vorhanden gewesen, das Aufsuchen eines anderen Speiselokals also mit einem nennenswert höheren Zeitaufwand verbunden gewesen wäre, wenn außerdem die Dienstgestaltung bei der Zentraleuropäischen Versicherungs-AG. die Ausnutzung ersparter Zeit ermöglicht und der Ehemann der Klägerin auf Grund dienstlicher Weisungen der Deutschen Treuhandgesellschaft oder entsprechend seinen Arbeitsgewohnheiten diese Zeit mit Arbeit ausgenutzt hätte. Ohne nähere Erforschung des Sachverhalts in der angedeuteten Richtung (§ 103 SGG) durfte das LSG. somit nicht den oben angeführten Schluß ziehen. Fehlerhaft, weil auf unzureichender Sachaufklärung beruhend, ist auch die Feststellung des LSG., die Deutsche Treuhandgesellschaft sei daran interessiert gewesen, die Verpflegungsspesen ihres Prüfers niedrig zu halten. Diese Erwägung träfe zu, wenn der Ehemann der Klägerin keinen festen Spesensatz erhalten hätte, ihm vielmehr der tatsächliche Aufwand erstattet worden wäre. Eine dahingehende Sachaufklärung hat das LSG. jedoch unterlassen. Es trifft allerdings zu, daß auch bei festen Spesen deren Summe niedriger gewesen wäre, wenn der Ehemann der Klägerin durch zeitsparende Gestaltung der Esseneinnahme die Gesamtprüfzeit hätte verkürzen können. Dies läßt sich jedoch nicht beurteilen, weil - wie bereits ausgeführt wurde - nicht feststeht, inwieweit der Ehemann der Klägerin in der Lage und bereit war, die durch die Kantinenbenutzung möglicherweise ersparte Zeit zur Intensivierung seiner Prüftätigkeit zu nutzen.

Läßt man die von der Revision mit Recht angegriffenen und deshalb das BSG. nicht bindenden Feststellungen (§ 163 SGG) außer Betracht, so reicht der sonstige Sachverhalt nicht aus, einen rechtlich wesentlichen Zusammenhang zwischen der Esseneinnahme und der versicherten Tätigkeit des Ehemannes der Klägerin zu begründen. Hinsichtlich der Frage, ob die Lebensmittelvergiftung als Arbeitsunfall zu werten ist, entbehrt der Rechtsstreit somit noch der Entscheidungsreife.

Unbegründet ist dagegen das Vorbringen der Revision insoweit, als es sich gegen die Ausführungen des LSG. über den medizinischen Zusammenhang zwischen der Lebensmittelvergiftung und dem Tode des Versicherten richtet. Daß die Lebensmittelvergiftung das Grundleiden des Klägers, nämlich die Erkrankung der harten Hirnhaut, kompliziert und damit eine Mitursache für den Eintritt des Todes gesetzt hat - insoweit handelt es sich um eine tatsächliche Feststellunge des Berufungsgerichts -, zieht die Revision nicht in Zweifel. Sie beanstandet jedoch die ebenfalls auf dem Gebiet des Tatsächlichen liegende Feststellung, der Eintritt des Todes sei durch die Lebensmittelvergiftung um mindestens ein Jahr beschleunigt worden. Die hiergegen gerichteten Angriffe sind unbegründet. In den von der Beklagten eingeholten Gutachten ist die Frage, um wieviel früher der Tod durch die Einwirkung der Nahrungsmittelvergiftung eingetreten ist, offen geblieben Dagegen hat der vom SG. angehörte Sachverständige Dr. N die Beschleunigung des Ablebens um mindestens ein Jahr mit hinreichender Wahrscheinlichkeit bejaht. Diesem Gutachten durfte sich das LSG. - wie geschehen - in freier richterlicher Beweiswürdigung (§ 128 Abs. 1 SGG) anschließen. Entgegen der Auffassung der Revision liegt kein Widerspruch darin, daß Dr. N ausgeführt hat, der akute Schub der Erkrankung der harten Hirnhaut habe sich während der letzten Tage gebessert, der Versicherte habe jedoch die Besserung wegen des durch die Komplikationen eingetretenen Todes nur nicht erlebt. Diese Ausführungen sind mit hinreichender Deutlichkeit so zu verstehen - und das LSG. hat sie offensichtlich auch in diesem Sinne verstanden -, daß der Erkrankte weder am 29. Mai 1956 noch im Laufe des folgenden Jahres an der Hirnhauterkrankung gestorben wäre, wenn nicht die Lebensmittelvergiftung zu einer Verschlimmerung des Grundleidens und zu weiteren Komplikationen (Beckenvenenthrombose, Darmlähmung und Lungenembolie) geführt hätte.

Aus den angeführten Feststellungen hat das LSG. ohne Rechtsirrtum den Schluß gezogen, die Lebensmittelvergiftung habe eine rechtlich wesentliche Teilursache für den Eintritt des Todes gebildet. Wie der Senat bereits im Urteil vom 30. Juni 1960 - 2 RU 86/56 - ausgeführt hat, ist der Begriff der rechtlich wesentlichen Ursache ein Wertbegriff. Die Frage, ob eine Mitursache für den Erfolg wesentlich ist, beurteilt sich nach dem Wert, den ihr die Auffassung des täglichen Lebens gibt. Bei einer solchen Bewertung können Anschauungen nicht unbeachtet bleiben, die sich im Laufe einer längeren Zeit in den in erster Linie betroffenen Kreisen gebildet haben. Ähnlich, wie z. B. im Falle des § 608 RVO eine Änderung im Gesundheitszustand des Verletzten in der Regel als wesentlich gilt, wenn die Minderung der Erwerbsfähigkeit sich um mindestens 10 v. H. erhöht oder vermindert hat (vgl. RVA., EuM. Bd. 22 S. 220 und die in den Fußnoten angeführten weiteren Entscheidungen), hat sich auch für die Abgrenzung der rechtlich wesentlichen Teilursache von der "Gelegenheitsursache" in der Rechtsprechung und im Schrifttum der gesetzlichen Unfallversicherung die - von keinem der Beteiligten - beanstandete - Auffassung durchgesetzt, daß eine rechtlich wesentliche Teilursache jedenfalls dann vorliegt, wenn sie den Tod um mindestens ein Jahr beschleunigt hat. Dies hat der erkennende Senat bereits im Urteil vom 14. März 1958 (SozR. RVO § 542 Bl. Aa 5 Nr. 10) unter Anführung zahlreicher Nachweise ausgesprochen. An dieser Auffassung hält der Senat fest. Ihr stehen auch die Entscheidungen des 8. Senats vom 20. März 1956 (BSG. 2 S. 265 (271)) und des 11. Senats vom 23. Juni 1960 - 11 RV 1320/59 - nicht entgegen, in denen für das Gebiet des Versorgungsrechts der ursächliche Zusammenhang zwischen einer Schädigung im Sinne des BVG und dem Eintritt des Todes bejaht wird, wenn der Tod ohne die Schädigung "innerhalb einer absehbaren Zeitspanne" nicht eingetreten wäre. Da in der Entscheidung des 8. Senats die zum Teil auch vom 2. Senat im Urteil vom 14. März 1958 (a. a. O.) angeführte, auf eine Beschleunigung des Ablebens um etwa ein Jahr abstellende Rechtsprechung grundsätzlich gebilligt wird und der 11. Senat sich auf die o. a. Entscheidung des 8. Senats stützt, darf angenommen werden, daß auch diese Senate in einer Zeitspanne von mindestens einem Jahr keine "absehbare Zeitspanne" sehen wollen.

Da es noch weiterer Feststellung zu der Frage bedarf, ob ein Arbeitsunfall vorliegt, konnte das BSG. in der Sache nicht selbst entscheiden. Deshalb wurde das angefochtene Urteil mit den ihm zugrundeliegenden Feststellungen aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG. zurückverwiesen (§ 170 Abs. 2 SGG).

Über die Kosten des Revisionsverfahren wird in dem abschließenden Urteil zu entscheiden sein.

 

Fundstellen

BSGE, 247

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