Verfahrensgang

LSG Rheinland-Pfalz (Urteil vom 24.06.1992)

 

Tenor

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 24. Juni 1992 wird zurückgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

I

Der 1939 geborene Kläger stammt aus dem Dorf S. K. … bei C. … in der Ukraine, wo er mit seiner Mutter und seinen Geschwistern bis 1943 lebte; sein Vater wurde nach dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion im Juni 1941 verschleppt und in Sibirien interniert. In der Folgezeit arbeitete die Mutter tagsüber, während die Kinder im Kindergarten untergebracht waren. Zu einem nicht mehr feststellbaren Zeitpunkt im Jahr 1942 kam es in der Nähe des Dorfes S. K. … zu Kampfhandlungen. Ob es sich dabei um einen Luftangriff deutscher Flugzeuge auf sowjetische Stellungen oder sowjetischer Flugzeuge auf deutsche Stellungen handelte, läßt sich nicht mehr feststellen. Das Dorf, insbesondere der Kindergarten, wurde nicht von Bomben getroffen. Während der Kampfgeräusche brach im Kindergarten eine Panik aus. Dabei wurde der Kläger unter nicht geklärten Umständen im Gesicht verletzt. Die Verletzung führte zu bleibenden Schäden am linken Auge (Schielstellung, erhebliche Visusminderung). Im April 1974 kam der Kläger in die Bundesrepublik Deutschland; seit 1977 ist er wegen verschiedener Gesundheitsstörungen als Schwerbehinderter anerkannt, zuletzt mit einem Grad der Behinderung (GdB) von 60. Der auf die Sehbehinderung entfallende Einzel-GdB wurde vom Beklagten mit 30 bewertet.

Im November 1989 beantragte der Kläger erstmals Versorgung nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG). Mit Bescheid vom 1. März 1990 lehnte der Beklagte den Antrag mit der Begründung ab, Art und Ursache des geltend gemachten Augenschadens seien nicht bekannt und nicht bewiesen. Das vom Kläger angerufene Sozialgericht (SG) vernahm zwei Geschwister des Klägers als Zeugen und holte ein augenfachärztliches Gutachten ein. Mit Urteil vom 5. Juli 1991 wies es die Klage ab. Die Berufung des Klägers blieb erfolglos (Urteil des Landessozialgerichts ≪LSG≫ vom 24. Juni 1992). Das LSG hat ausgeführt, der Kläger sei zum Zeitpunkt seiner Verletzung nicht interniert gewesen. Er sei auch nicht durch unmittelbare Kriegseinwirkung zu Schaden gekommen. Der seinerzeit im Kindergarten erlittene Körperschaden gehe nur mittelbar auf Kriegseinwirkung zurück. Zu einer Einwirkung von Kampfmitteln, zB Granatsplittern oder Geschossen, sei es nicht gekommen. Durch Kampfhandlungen sei lediglich die Panik im Kindergarten ausgelöst worden. Auch diese habe nicht unmittelbar zur Verletzung geführt, sondern erst über ein weiteres Ereignis, sei es, daß ein Dritter den Kläger, sei es, daß dieser sich selbst verletzt habe.

Gegen dieses Urteil richtet sich die vom LSG zugelassene Revision. Mit dieser rügt der Kläger lediglich eine Verletzung des § 1 Abs 1 und Abs 2 Buchst a iVm § 5 Abs 1 Buchst a BVG. Entgegen der Meinung der Vorinstanzen habe eine unmittelbare Kriegseinwirkung iS dieser Bestimmungen stattgefunden. Zwar hätten die Kampfhandlungen, die im Heimatdorf des Klägers zu hören gewesen seien, auf diesen nicht physisch eingewirkt. Dies sei aber auch nicht erforderlich. Eine psychische Einwirkung reiche aus. Diese habe nach den Feststellungen des LSG vorgelegen, weil die durch den Kampflärm verursachte Panik im Kindergarten ein kollektives Geschehen sei, von dessen Einwirkung ein dreijähriges Kind nicht als ausgeschlossen angenommen werden könne. Auf welche Weise die Panik zu weiteren Verletzungen des Klägers geführt habe, sei keine Frage der Unmittelbarkeit von Kriegseinwirkungen, sondern eine solche des wesentlichen ursächlichen Zusammenhangs zwischen der bereits festgestellten Kriegseinwirkung und der erlittenen Schädigung. Das Bundessozialgericht (BSG) habe in mehreren Entscheidungen eine psychische Einwirkung von Kampfhandlungen als ausreichend für den Schädigungstatbestand des § 1 Abs 2 Buchst a BVG angesehen.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 24. Juni 1992 sowie das Urteil des Sozialgerichts Koblenz vom 5. Juli 1991 und den Bescheid des Beklagten vom 1. März 1990 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, einen Augenschaden als Schädigungsfolge nach dem BVG anzuerkennen und Versorgung nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) „von mindestens 25 vH” zu gewähren,

hilfsweise,

die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.

Der Beklagte beantragt Zurückweisung der Revision.

Er hält das Urteil des LSG für zutreffend. Beide Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

 

Entscheidungsgründe

II

Die Revision des Klägers ist nicht begründet. Das LSG hat zutreffend entschieden, daß der Kläger keinen Anspruch auf Kriegsopferentschädigung hat. Zwar mag die Verletzung, die sein Augenleiden zur Folge hatte, mit Kriegsereignissen in Zusammenhang stehen. Diese Verletzung ist aber keine Schädigung, wie sie das BVG als Voraussetzung für eine Entschädigung beschreibt. Für eine Schädigung durch Kriegseinwirkung fehlt es an der Unmittelbarkeit, die das Gesetz (§ 1 Abs 2 Buchst a BVG) ausdrücklich verlangt. Der Kläger befand sich zur Zeit der Verletzung auch nicht in einer Internierung oder auf der Flucht, in deren Rahmen eine „unmittelbare Einwirkung” nicht vorzuliegen braucht. Das folgt aus den eigenen Angaben des Klägers zu den tatsächlichen Umständen der Verletzung, die das LSG seinen Feststellungen zugrundegelegt hat.

Der mit der Revision allein geltend gemachte Schädigungstatbestand des § 1 Abs 2 Buchst a iVm § 5 Abs 1 Buchst a BVG lag nicht vor. Nach § 1 Abs 2 Buchst a BVG steht einer mit dem militärischen Dienst zusammenhängenden Schädigung eine Schädigung gleich, die durch unmittelbare Kriegseinwirkung herbeigeführt worden ist. Als solche gelten gemäß § 5 Abs 1 Buchst a BVG Kampfhandlungen und damit unmittelbar zusammenhängende militärische Maßnahmen, insbesondere die Einwirkung von Kampfmitteln. Wie das BSG bereits in einer früheren Entscheidung (BSGE 2, 29, 33) ausgeführt hat, wollte das BVG nur solche Kampfhandlungen als unmittelbare Kriegseinwirkung ansehen, die unmittelbar auf den Beschädigten eingewirkt haben. Wirkten die Kampfhandlungen nur auf andere Personen ein, so kann der durch Vermittlung dieser Personen geschädigte Dritte keine Versorgung beanspruchen. Denn er erfüllt selbst keinen Schädigungstatbestand (vgl BSGE 11, 234; SozR 3100 § 1 Nr 29). Ein Fall der unmittelbaren Kriegseinwirkung läßt sich unter Zugrundelegung der unangegriffenen Feststellungen des LSG (§ 163 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫) nicht bejahen. Zu Recht weist der Kläger zwar darauf hin, daß die Kriegseinwirkung, die zu einer gesundheitlichen Schädigung des Betroffenen geführt hat, auch psychischer Natur sein kann. Dies hat das BSG bereits in der zitierten Entscheidung (BSGE 2, 29, 35) ausgesprochen und in weiteren Entscheidungen bekräftigt. Eine derartige psychische Einwirkung hat es zB in einem seelischen Schock gesehen, der auf ein durch Brandbomben verursachtes Feuer zurückging (BSG Urteil vom 13. Mai 1958 – 10 RV 678/56 – BVBl 1959 S 7) oder bei einem seelischen Schock, der durch die Erschießung von Angehörigen vor den Augen des Betroffenen ausgelöst worden war (BSG SozR 3100 § 5 Nr 6) ebenso in psychischen Einwirkungen beim Anblick der unmittelbar zuvor durch Sprengbomben zerstörten Wohnung (Urteil vom 24. Februar 1960 – 9 RV 908/56 – VersB 1960 S 59). In allen diesen Fällen war aber die psychische Kriegseinwirkung auf den Beschädigten selbst erfolgt und hatte bei diesem zu weiteren, gesundheitlichen Schäden geführt. Ein derartiger Geschehensablauf ließ sich im Fall des Klägers gerade nicht feststellen. Denn es ist unaufklärbar geblieben, ob der Kläger selbst durch den Kriegslärm einen psychischen Schock erlitten hat. Selbst wenn dies aber der Fall gewesen sein sollte, hat das LSG jedenfalls nicht feststellen können, daß ein beim Kläger selbst eingetretener Schock zu der Augenverletzung geführt hat. Nach den Grundsätzen der objektiven Beweislast (vgl BSGE 19, 52; Meyer-Ladewig, SGG, 5. Aufl RdNr 19 zu § 103 SGG mwN) geht es zu Lasten des Klägers, daß sich der Tatbestand einer Schädigung durch unmittelbare Kriegseinwirkung nicht feststellen läßt. Die Beweislast entfällt nicht deshalb, weil es sich bei der eingetretenen Panik um ein „kollektives Geschehen” gehandelt hat, bei dem der Kläger aktiv und passiv beteiligt war. Entgegen der Ansicht der Revision handelt es sich bei der Feststellung der Umstände der Augenverletzung nicht um eine Frage des ursächlichen Zusammenhangs, der nur wahrscheinlich sein muß. Denn das Erfordernis der Personengleichheit zwischen demjenigen, auf den die „Einwirkung” stattgefunden hat, und dem Geschädigten betrifft den Schädigungstatbestand und nicht die erst durch diesen ausgelöste Entwicklung zu der geltend gemachten Schädigungsfolge.

Auch sonstige Schädigungstatbestände sind nicht erfüllt. Gemäß § 1 Abs 2 Buchst c BVG steht einer Schädigung infolge des militärischen Dienstes eine Schädigung gleich, die durch eine Internierung wegen deutscher Volkszugehörigkeit herbeigeführt worden ist. Der Kläger war indessen in der fraglichen Zeit nicht interniert. Selbst wenn – was das LSG nicht festgestellt hat – das Heimatdorf des Klägers 1942 innerhalb eines von Sowjettruppen oder Partisanen kontrollierten Gebiets gelegen haben sollte, reichen die vom LSG getroffenen Feststellungen aus, um den Tatbestand der Internierung auszuschließen. Wegen seines geringen Alters konnte der Kläger seinen Aufenthalt ohnehin nicht frei bestimmen. Deswegen kam seine Internierung nur zusammen mit derjenigen eines Elternteils in Betracht. Der Vater des Klägers war zwar seit Kriegsbeginn interniert, der Kläger teilte jedoch nicht seinen Aufenthaltsort. Die Mutter des Klägers war zwar in S. K. … verblieben, unterlag jedoch nach den Festellungen des LSG keinem umfassenden Freiheitsentzug (vgl BSGE 14, 50, 52), weil sie sich jedenfalls außerhalb der Arbeitszeit frei in ihrem Heimatdorf bewegen konnte, ohne ständiger persönlicher Überwachung zu unterliegen. Auch ein Fall des § 1 Abs 2 Buchst a iVm § 5 Abs 1 Buchst c BVG ist nicht gegeben. Nach der zuletzt genannten Vorschrift gelten als unmittelbare Kriegseinwirkungen auch solche Einwirkungen, denen der Beschädigte durch die besonderen Umstände der Flucht vor einer aus kriegerischen Vorgängen unmittelbar drohenden Gefahr für Leib und Leben ausgesetzt war. Das LSG hat jedoch nicht festgestellt, daß dem Kindergarten eine Bombardierung drohte, der sich die Kinder durch Flucht entziehen wollten oder sollten.

Ein Anlaß, die Streitsache entsprechend dem Hilfsantrag des Klägers an das LSG zurückzuverweisen, besteht nicht. Insbesondere ist nicht zu erkennen, daß das LSG seine Pflicht zur Amtsermittlung (§ 103 SGG) verletzt hätte, da angesichts der spärlichen verfügbaren Beweismittel nicht erkennbar ist, in welcher Richtung das LSG weitere Ermittlungen hätte anstellen sollen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1174704

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