Leitsatz (amtlich)

Unmittelbar geschädigt kann sein, wer ansehen muß, daß seine Eltern durch feindliche Soldaten erschossen werden, und dadurch einen seelischen Schock erleidet.

 

Orientierungssatz

Es wird grundsätzlich eine enge Auslegung des Begriffs der unmittelbaren Kriegseinwirkung insoweit vertreten, als zwischen der Kriegseinwirkung und der Schädigung ein unmittelbarer örtlicher und zeitlicher Zusammenhang bestehen muß.

 

Normenkette

BVG § 1 Abs 1, § 1 Abs 2 Buchst a, § 5 Abs 1 Buchst a, § 5 Abs 1 Buchst d

 

Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 08.02.1979; Aktenzeichen L 7 V 104/78)

SG Münster (Entscheidung vom 02.03.1978; Aktenzeichen S 4 V 119/77)

 

Tatbestand

Mit der     Revision begehrt die Klägerin die Bewilligung von Beschädigtenversorgung aus eigenem Recht, hilfsweise die Erteilung eines Zugunstenbescheides über die entsprechende Leistungsberechtigung, weiter hilfsweise von Waisenversorgung.

Die am 24. August 1934 geborene Klägerin ist deutsche Volkszugehörige, sie lebt in Polen.

Nachdem ein wiederholter Versorgungsantrag abgelehnt worden war, teilte die Klägerin im Dezember 1974 ua mit, sie habe bei der Erschießung ihrer Eltern einen Schock erlitten und leide seitdem an einer Nervenkrankheit. Ihr Widerspruch wurde zurückgewiesen.

Ein abermals gestellter Antrag der Klägerin wurde ein weiteres Mal abgelehnt; der Widerspruch wurde zurückgewiesen. Der Widerspruchsbescheid befaßte sich nur mit den Voraussetzungen für die Gewährung einer Waisenrente im Zugunstenwege. Die hiergegen eingelegte Klage hat das Sozialgericht (SG) abgewiesen.

Die Berufung der Klägerin hat das Landessozialgericht (LSG) zurückgewiesen. Es hat angenommen, daß ein früher bindend gewordener Bescheid vom 20. Februar 1969 die Gewährung von Waisenteilversorgung nicht zu Unrecht abgelehnt habe.

Durch Beschluß des Bundessozialgerichts (BSG) ist die Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung der Frage zugelassen worden, ob die psychischen Auswirkungen, die die Klägerin durch das Erschießen ihrer Eltern erlitten haben will, als eine Schädigung iS des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) zu verstehen sind.

Die Klägerin hat die Revision eingelegt. Sie rügt, daß ihr Antrag auf Versorgung auch im Berufungsverfahren nur als Antrag auf Zahlung einer Waisenrente behandelt und abgelehnt worden sei. Es sei aber zu prüfen gewesen, ob ihr ein Anspruch auf Versorgung aus eigenem Recht zustehe. Sie habe gegenüber der Verwaltung und in der Klageschrift Beschädigtenrente geltend gemacht. Sie habe auch vorgetragen, daß sie miterleben mußte, wie gegen Kriegsende ihre Eltern von russischen Soldaten erschossen worden seien. An den dadurch im Alter von elf Jahren erlittenen psychischen Gesundheitsstörungen leide sie auch heute noch. Entsprechend der Entscheidung des BSG vom 7. November 1979 (9 RVg 1/78) für den Bereich des Gesetzes über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten (OEG) müßten auch im Rahmen des BVG psychische Auswirkungen einer auf einen nahen Angehörigen gerichteten Kriegshandlung als Schädigungsfolge anerkannt werden. Selbst wenn über den Antrag auf Versorgung aus eigenem Recht bereits in einem früheren Verfahren bindend entschieden worden sein sollte, hätte das Berufungsgericht wenigstens darauf eingehen müssen, ob nicht die Voraussetzungen für die Erteilung eines Zugunstenbescheides vorgelegen hätten.

Die Klägerin beantragt,

die vorinstanzlichen Urteile abzuändern, die

angefochtenen Bescheide aufzuheben und den Beklagten

zu verurteilen, der Klägerin Beschädigtenversorgung

zu gewähren,

hilfsweise,

der Klägerin einen Zugunstenbescheid über die

Gewährung von Beschädigtenversorgung oder weiter

hilfsweise jedenfalls von Waisenteilversorgung

zu erteilen.

Der Beklagte beantragt,

die Revision insoweit als unbegründet zurückzuweisen,

als die Klägerin die Verurteilung des Beklagten zur

Gewährung einer Beschädigtenversorgung, hilfsweise

dessen Verpflichtung zur Erteilung eines

Zugunstenbescheides über die Gewährung von

Beschädigtenversorgung beantragt, hilfsweise,

den Rechtsstreit, soweit die Verpflichtung des

Beklagten zur Erteilung eines Zugunstenbescheides

über die Gewährung von Beschädigtenversorgung betrifft,

unter Aufhebung des Berufungsurteils an das

Berufungsgericht zur neuen Verhandlung und Entscheidung

zurückzuverweisen, ferner die Revision insoweit als

unzulässig zu verwerfen, als die Klägerin hilfsweise

die Verpflichtung des Beklagten zur Erteilung eines

Zugunstenbescheides über die Gewährung von

Waisenteilversorgung beantragt.

Der Beklagte hält die Revision für teilweise begründet und meint, daß das Berufungsurteil insoweit aufzuheben und die Sache rückzuverweisen sei, als es keine Entscheidung über die Beschädigtenversorgung aus eigenem Recht enthalte.

Die beigeladene Bundesrepublik Deutschland ist der Meinung, bei dem von der Klägerin behaupteten Sachverhalt handele es sich um eine unmittelbare kriegerische Einwirkung, weil der Schockschaden auf Anwesenheit der Klägerin bei der Erschießung ihrer Eltern zurückgeführt werde.

Die Beteiligten haben einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung zugestimmt (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-).

 

Entscheidungsgründe

Die Revision     der Klägerin ist hinsichtlich des 2. Hilfsantrages wegen einer Waisenteilversorgung unzulässig (§ 160 Abs 1, § 164 Abs 2 Satz 3 SGG). Dieser Anspruch ist gegenüber dem auf eine Teilversorgung aus eigenem Recht selbständig. Ihn trifft die Revisionszulassung wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache nicht. Außerdem ist auch die Revisionsbegründung nicht näher auf diesen Anspruch eingegangen.

Im übrigen ist die Revision zulässig und führt zur teilweisen Aufhebung des Berufungsurteils und zur Zurückverweisung. Für eine Entscheidung über die von der Klägerin gestellten Ansprüche fehlen ausreichende Feststellungen zum Sachverhalt. Das LSG hat im wesentlichen die Tatsachen aufgeführt, die für seine Entscheidung über die Waisenrente von Bedeutung waren. Allerdings war daneben auch im Tatbestand des Urteils der Vortrag der Klägerin aufgeführt, daß sie bei der Erschießung ihrer Eltern einen Schock erlitten habe und seitdem an einer Nervenkrankheit leide. Schon wegen dieser Feststellung hätte das LSG eine Überprüfung des Anspruchs auf Beschädigtenversorgung vornehmen müssen. In der Revision haben sowohl die Klägerin als auch der Beklagte dargelegt, daß das LSG nicht den vollständigen Sachverhalt berücksichtigt habe. Es hätte über die von der Klägerin erhobenen Ansprüche insgesamt entscheiden müssen, weil es an die Fassung bestimmter Anträge nicht gebunden war (§ 123 SGG). Dabei ist es gleichgültig, ob das Begehren der Klägerin auf eine Versorgung aus eigenem Recht schon früher einmal von der Versorgungsverwaltung abgelehnt worden und demzufolge jetzt in einem Zugunstenverfahren zu verfolgen ist. Die - von dem Beklagten im Revisionsverfahren vorgetragenen - näheren Einzelheiten dazu hat das LSG noch festzustellen.

Der Anspruch der Klägerin auf Versorgung aus eigenem Recht könnte nach dem bisher festgestellten Sachverhalt gegeben sein. Die Klägerin leitet ihren Anspruch daraus ab, daß sie als elfjähriges Mädchen hat ansehen müssen, wie ihre Eltern von russischen Soldaten erschossen worden sind. Bei dieser Gelegenheit will sie einen Schock erlitten haben, der zu einem noch andauernden Nervenleiden geführt haben soll.

Nach § 1 Abs 1 BVG erhält auf Antrag wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folge der Schädigung derjenige Versorgung, der unter anderem durch eine militärische oder militärähnliche Dienstverrichtung eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat. Nach § 1 Abs 2 Buchst a BVG steht einer Schädigung in diesem Sinne eine Schädigung gleich, die durch unmittelbare Kriegseinwirkung beigeführt worden ist. Für diese unmittelbaren Kriegseinwirkungen enthält § 5 BVG eine gesetzliche Begriffsbestimmung (BSGE 2, 29, 30). Als unmittelbare Kriegseinwirkungen gelten ua, wenn sie im Zusammenhang mit einem der beiden Weltkriege stehen, Kampfhandlungen und damit unmittelbar zusammenhängende militärähnliche Maßnahmen, insbesondere die Einwirkung von Kampfmitteln (§ 5 Abs 1 Buchst a BVG) und schädigende Vorgänge, die infolge einer mit der militärischen Besetzung deutschen oder ehemals deutschbesetzten Gebietes oder mit der zwangsweisen Umsiedlung oder Verschleppung zusammenhängenden besonderen Gefahr eingetreten sind (§ 5 Abs 1 Buchst d BVG). Auch für § 5 Abs 1 Buchst d BVG ergibt sich das Erfordernis des engen Zusammenhangs aus dem Eingangssatz des § 5 BVG. Der Einmarsch der russischen Soldaten im Januar 1945 in Glockenau, Kreis Oppeln, Oberschlesien und das Erlebnis der Klägerin, daß ihre Eltern vor ihren Augen erschossen wurden, stellen jedenfalls ein Geschehen während der Besetzung dar. Die Gegebenheiten sind als Gewalttätigkeit bzw Willkürakt den der Besetzung eigentümlichen besonderen Gefahren zuzurechnen. Allerdings haben sich diese Akte der Gewalttätigkeit nicht gezielt gegen die Klägerin gerichtet. Diese hat aber nach den tatsächlichen Feststellungen des Berufungsgerichts bei jenen Taten gegen ihre Eltern einen seelischen Schock erlitten. Dazu ist rechtlich zu beachten, daß die besondere Gefahr iS des § 5 Abs 1 Buchst d BVG auch psychisch auf eine Zivilperson eingewirkt haben kann (BSG SozR Nr 40 zu § 1 BVG). Es wird zwar allgemein eine enge Auslegung des Begriffs der unmittelbaren Kriegseinwirkung vertreten. Dies geht auf die geschichtliche Entwicklung und aus dem Zweck des Versorgungsrechts zurück (BSGE 2, 29, 32). Danach ist versorgungsberechtigt grundsätzlich nur, wer selbst einen Schädigungstatbestand erfüllt (BSGE 11, 234, 235; 20, 41, 43 = SozR Nr 68 zu § 1 BVG; BSG SozR 3100 § 1 Nr 5; BSGE 49, 98, 100 = SozR 3800 § 1 Nr 1). Ob der geschützte Personenkreis unter diesem Gesichtspunkt der "Unmittelbarkeit" nach dem OEG ein weiterer ist als nach dem BVG (vgl dazu BSGE 49, 98 ff = SozR 3800 § 2 Nr 1), braucht hier nicht entschieden zu werden. Das Merkmal der "Unmittelbarkeit" in der Kriegsopferversorgung soll verhindern, daß die Schädigungskette ins Endlose weiterläuft. Der Kreis der Versorgungsberechtigten soll in Grenzen gehalten werden. Zwischen Kriegseinwirkung und Schaden muß eine gewisse Nähe bestehen (BSG aaO). Diese Nähe hat das BSG unter dem Gesichtspunkt der Unmittelbarkeit iS § 1 Abs 2 Buchst a iVm § 5 BVG in seiner Entscheidung vom 15. November 1955 (BSGE 2, 29, 32) für eine Beschädigte bejaht, die während zweier Fliegerangriffe einen Schlaganfall erlitt. Es wurde für entscheidend gehalten, daß die Bomben in nächster Nähe gefallen waren und die Schreckwirkung sich spontan - zeitlich direkt - einstellte. Die zeitliche Verbindung wurde sogar in der Entscheidung des BSG vom 13. August 1958 (SozR Nr 19 zu § 5 BVG) bejaht: Bei dem Fliegerangriff hatte sich der Verstorbene im Hauskeller befunden. Als er sich an den Löscharbeiten beteiligen wollte und das Feuer im Hause zu Gesicht bekam, wurde er bewußtlos; alsbald starb er. In dem Urteil war dem BSG für die Frage der Unmittelbarkeit ua bedeutsam, daß der Verstorbene dem Verlauf des Ereignisses nicht als unbeteiligter Zuschauer gegenübergestanden, sondern seine Habe gefährdet gesehen hatte. Die Unmittelbarkeit wurde schließlich auch in der Entscheidung vom 23. Februar 1960 - 9 RV 908/56 - bejaht: Ein Schlaganfall wurde auf die seelische Erschütterung zurückgeführt, die der Betroffene beim Anblick seiner - wenige Minuten vorher - durch Sprengbomben zerstörten Wohnung erlebte. Das BSG meinte, die enge zeitliche Verkettung zwischen Bombenexplosion und der Wahrnehmung ihres Ausgangs rechtfertige die Annahme der Unmittelbarkeit. An dieser Ansicht sah sich das BSG auch nicht deshalb gehindert, weil zwischen dem Kampfgeschehen und dem Gesundheitsschaden ein Zwischenakt, nämlich die Sachvernichtung, lag. Ob in Fällen der vorerwähnten Art an dem jeweils gefundenen Ergebnis weiterhin festzuhalten ist, kann dahin stehen. Jedenfalls ist die Erwägung richtig, daß eine psychische Einwirkung noch als unmittelbar anzusehen ist, wenn sie spontan einen Schrecken oder Schock erzeugt, der dann die Gesundheitsstörung zur Folge hat (BSG SozR Nr 40 zu § 1 BVG).

Dieser unmittelbare örtliche und zeitliche Zusammenhang ist zu bejahen, wenn zB eine Mutter Augenzeuge des auf Kampfhandlungen oder Gewalttätigkeiten der Besatzungssoldaten zurückgehenden Todes der Tochter ist und dabei einen Schock erleidet (vgl auch BSGE 49, 102). Dann ist die Gleichzeitigkeit von Kriegseinwirkung und Entstehen des psychischen Leidens gegeben; die Kriegseinwirkung hat direkten Zugang zu dem Bewußtsein und Gefühl des Angehörigen (BSGE 49, 102). Sie ist von einer bloßen Auswirkung kriegerischen Geschehens zu unterscheiden. Dies muß besonders angenommen werden, wenn Leben oder Gesundheit von Angehörigen betroffen sind ("Personenvernichtung"). Wegen des Kindschaftsverhältnisses zwischen der Klägerin und ihren von den russischen Soldaten getöteten Eltern braucht der Angehörigenbegriff hier nicht näher umschrieben zu werden. Zweifel tauchen auch nicht wegen des direkten zeitlichen Zusammenhangs an der Unmittelbarkeit der kriegerischen Einwirkung auf. Offen ist, ob und welche Folgen durch den erlittenen Schock eingetreten sind.

Darüber, ob Gesundheitsschäden - und gegebenenfalls welche - bei der Klägerin noch bestehen, die auf den im Januar 1945 erlittenen Schock zurückzuführen sind, sind bisher keine Feststellungen getroffen worden. Es ist in dem LSG-Urteil von einer "Nervenkrankheit" die Rede. Das Berufungsgericht setzt sich mit den von der Klägerin vorgelegten ärztlichen Bescheinigungen aus den Jahren 1965, 1975 und 1978 unter dem Gesichtspunkt eines Anspruchs nach § 45 Abs 3 BVG auf Waisenrente auseinander. Diese Tatsachenfeststellungen bilden keine ausreichende Entscheidungsgrundlage dafür, um über die Kausalität im Rahmen eines Anspruchs nach § 1 BVG durch das Revisionsgericht entscheiden zu können. Deshalb ist das Berufungsurteil insoweit aufzuheben, als über den Anspruch auf die Gewährung von Beschädigtenversorgung nicht entschieden wurde.

Dem Berufungsgericht bleibt die Entscheidung über eine Kostenerstattung vorbehalten.

 

Fundstellen

Breith. 1983, 60

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