Leitsatz (amtlich)

1. Wenn ein Sachverständiger ein Gutachten durch einen anderen Arzt anfertigen läßt, muß er selbst eindeutig die volle Verantwortung übernehmen.

2. Ein Gutachten, das nicht vom beauftragten Sachverständigen erstattet wurde, kann nicht ohne weiteres als Urkunde verwertet werden (Weiterführung von BSG 1967-08-23 5 RKn 99/66 = SozR Nr 81 zu § 128 SGG).

 

Orientierungssatz

Der vom Gericht beauftragte Sachverständige hat das Gutachten grundsätzlich persönlich zu erbringen. Schaltet er zur Erstellung des Gutachtens zB einen anderen Arzt ein, kann das Gutachten im Prozeß nur dann als Gutachten verwertet werden, wenn der beauftragte Arzt eindeutig zu erkennen gibt, daß er die Verantwortung übernimmt. Allein der Zusatz "Einverstanden" ist dafür nicht ausreichend.

 

Normenkette

SGG § 128 Abs 1 Fassung: 1953-09-03, § 118 Abs 1 Fassung: 1974-12-20; ZPO § 404 Abs 1, § 407 Abs 1, §§ 415-416

 

Verfahrensgang

LSG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 05.11.1982; Aktenzeichen L 8 V 2250/79)

SG Stuttgart (Entscheidung vom 23.10.1979; Aktenzeichen S 16 V 2916/76)

 

Tatbestand

Die Klägerin beantragte im November 1973 eine Neufeststellung ihres Versorgungsanspruches nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG). Nach ihrer Meinung haben sich die als Internierungsfolgen ohne Rentenanspruch anerkannten "Gelenkschmerzen nach Gelenk- und Muskelrheumatismus" (Bescheide vom 2. Februar 1954 und 1. Oktober 1976) verschlimmert; deshalb stehe ihr eine Beschädigtenrente zu. Das Sozialgericht (SG) hat den Beklagten verurteilt, "entartende Veränderungen der Kniegelenke, Periarthritis humero-scapularis beiderseits" anstatt "Gelenkschmerzen" anzuerkennen und der Klägerin ab 1. November 1973 Grundrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 30 vH zu gewähren; soweit die Klägerin Rente entsprechend einer höheren MdE begehrte, hat es die Klage abgewiesen (Urteil vom 23. Oktober 1979). Das Landessozialgericht (LSG) hat auf die Berufung des Beklagten die Klage bezüglich der Verurteilung zur Rentengewährung abgewiesen und die Anschlußberufung der Klägerin zurückgewiesen (Urteil vom 5. November 1982). Es hat nicht die Überzeugung gewonnen, daß sich die Schädigungsfolgen an den Schulter- und Kniegelenken wesentlich verschlimmert hätten. Zusätzliche Veränderungen am Skelett und an den Gelenken des ganzen Körpers seien nicht durch ein entzündliches Geschehen in der Internierung verursacht worden; es handele sich um degenerative Erscheinungen. Diese Beurteilung ergebe sich ua aus dem von Prof. Dr. M./ Dr. W.  erstatteten Gutachten; da es zweifelhaft sei, ob dies der vom Gericht beauftragte Sachverständige - Prof. Dr. M.- erstattet habe, könne das Beweismittel jedenfalls im Wege des Urkundenbeweises berücksichtigt werden.

Die Klägerin rügt mit der - vom Bundessozialgericht (BSG) zugelassenen - Revision als Verfahrensfehler eine Verletzung der §§ 103, 106, 118 Sozialgerichtsgesetz (SGG) iVm §§ 404, 407, 410, 411 Zivilprozeßordnung (ZPO). Das LSG hätte das von Dr. W.  angefertigte Gutachten, an dem der gerichtlich beauftragte Prof. Dr.M. nicht ordnungsmäßig mitgewirkt habe, nicht als solches Beweismittel bewerten dürfen. Prof. Dr. M. , der mit einem unzureichenden Zusatz unterschrieben habe, hätte das Gutachten aufgrund eigener Untersuchungen erstatten müssen. Das Berufungsgericht hätte das Gutachten auch nicht als Urkundenbeweis verwerten dürfen.

Die Klägerin beantragt, den Beklagten unter Aufhebung des LSG-Urteils sowie des Bescheides vom 30. September 1976 zu verurteilen, der Klägerin wegen Verschlimmerung der anerkannten Schädigungsfolgen Rente nach einer MdE um 50 vH ab 1. November 1973 zu gewähren, hilfsweise, den Rechtsstreit zur erneuten Sachaufklärung und Verhandlung an das LSG zurückzuverweisen.

Der Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision hat Erfolg. Entsprechend dem Hilfsantrag der Klägerin ist das angefochtene Urteil aufzuheben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Es fehlt an den erforderlichen Tatsachenfeststellungen für eine Entscheidung darüber, ob im Zustand der bei der Klägerin anerkannten Schädigungsfolgen nachträglich eine wesentliche Änderung eingetreten ist, die nunmehr einen Rentenanspruch begründet (§ 48 Sozialgesetzbuch - Verwaltungsverfahren -SGB X-; § 30 Abs 1 BVG; BSGE 53, 235, 236 ff = SozR 1300 § 48 Nr 2; zu § 44 SGB X für Übergangsfälle: BSGE 54, 223, 226 ff = SozR 1300 § 44 Nr 3).

Das Berufungsgericht hat sich die Überzeugung, eine rentenbegründende Verschlimmerung sei nicht erwiesen, nicht aufgrund eines ordnungsmäßigen Beweisverfahrens gebildet (§ 153 Abs 1 SGG, §§ 155, 103, 106 Abs 3 Nr 5 und Abs 4 SGG, § 118 Abs 1, § 128 Abs 1 Satz 1 SGG). Das Urteil stützt sich ua maßgebend auf das schriftliche "Gutachten", das unter dem 13. November 1981 von Dr. W., Orthopädische Universitätsklinik T., verfaßt wurde. Dieses Beweismittel durfte weder als Gutachten nach § 118 Abs 1 Satz 1 SGG iVm §§ 402 ff ZPO noch in der geschehenen Weise als Urkunde nach § 118 Abs 1 Satz 1 SGG iVm §§ 415 ff ZPO zur Grundlage der Entscheidung gemacht werden.

Als Gutachten hätte dieses Beweismittel von Prof. Dr. M. , dem Direktor der Orthopädischen Universitätsklinik, als dem vom Gericht beauftragten Sachverständigen persönlich erstattet werden müssen (§ 404 Abs 1, §§ 407, 410, 411 Abs 1 ZPO); der Verfasser Dr. W. konnte nicht nachträglich zum Sachverständigen bestellt werden (BSG SozR Nr 71 zu § 128 SGG = Breithaupt 1965, 263; SozR Nrn 81 und 93 zu § 128 SGG; BVerwG Buchholz 310 § 98 VwGO Nr 15). Prof. r.M. hat zwar das "Gutachten", das seinen Briefkopf trägt, mit dem Zusatz "Einverstanden" unterschrieben. Er hat aber dadurch nicht hinreichend an der Erstattung mitgewirkt (vgl Friederichs, Der medizinische Sachverständigenbeweis im sozialgerichtlichen Verfahren in: Festgabe für Grüner, 1982, S 137, 145). Auf eine durch die Klägerin veranlaßte Anfrage des LSG hat Prof. Dr. G. als Leitender Oberarzt der Klinik in Vertretung des Klinikdirektors schriftlich erklärt, es könne selbstverständlich davon ausgegangen werden, daß der Zusatz "Einverstanden" im Sinne eines Einverständnisses mit dem Gutachten aufgrund eigener Urteilsbildung zu verstehen sei. Damit übernahm aber nicht Prof. Dr.M. persönlich in der gebotenen Weise die volle Verantwortung für das Gutachten. Es ist unklar geblieben, ob ihm bewußt geworden ist, daß er seine Angaben unter der Strafdrohung der §§ 153 ff Strafgesetzbuch -StGB- machen sollte und als Sachverständiger vereidigt werden konnte (§ 410 Abs 1 Satz 2 ZPO). Er hätte sich wohl in gewissem Umfange eines anderen Arztes als Hilfskraft bedienen können (BSG SozR Nr 73 zu § 128 SGG; BVerwG Buchholz 310 § 98 VwGO Nr 9; vgl dazu auch BGH NJW 1969, 196). Doch brachte er weder im "Gutachten" selbst noch nachträglich zum Ausdruck, daß er die von Dr. W. als Hilfskraft vorgenommenen Untersuchungen für ausreichend halte, um darauf die eigene volle Zustimmung zu der Beurteilung zu gründen, und daß er für die Bewertung die Klägerin nicht hätte persönlich sehen müssen. Der gerichtlich bestellte Sachverständige kann den Auftrag nicht aus eigener Machtvollkommenheit auf einen anderen Arzt übertragen (BSG SozR Nrn 73, 81 und 93 zu § 128 SGG). Wenn in üblicher Weise - wie hier - ein einzelner Arzt, zB ein Klinikchef, zum Sachverständigen bestellt worden ist, kann er auch nicht eigenmächtig die Verantwortung für ein Gutachten gemeinsam mit einem Mitarbeiter übernehmen.

Dr. W. wurde auch nicht erkennbar als Vertreter des Klinikdirektors, der das Gutachten hätte erstatten dürfen, tätig. Erstens ist nirgends vermerkt, daß er damals diese Vertreterstellung gehabt hätte, die später Prof. Dr. G. einnahm. Zweitens bekundete Prof. Dr.M. gerade durch seine Unterschrift, daß er die Erstattung des Gutachtens nicht vollauf seinem Vertreter übertragen wollte.

Ob ein "Gutachten", das nicht von dem gerichtlich bestellten Sachverständigen erstattet wurde, im Wege des freien Beweises verwertet werden kann (BSG SozR Nr 81 zu § 128 SGG), braucht hier nicht entschieden zu werden. Das LSG hat von einer solchen Beweismittelverwertung außerhalb des Sachverständigen- und des Urkundenbeweises ausdrücklich keinen Gebrauch gemacht.

Der Verfahrensfehler, auf dem das Berufungsurteil beruhen kann, ist nicht durch die Verwendung des "Gutachtens" als Urkunde geheilt.

Das LSG durfte das "Gutachten", das als solches bis zum Ende des Berufungsverfahrens nicht vorschriftsmäßig zustande gekommen war, nicht "im Wege des Urkundenbeweises" mit vollem Beweiswert eines Gutachtens im Rechtssinn berücksichtigen, wie es das getan hat. Allgemein mögen zwar schriftliche Bekundungen von Ärzten, soweit sie keine gültigen Gerichtsgutachten sind, insbesondere solche, die im Verwaltungsverfahren als Gutachten eingeholt waren (§ 12 Abs 1 Satz 3 des Gesetzes über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung; neuerdings § 21 Abs 1 und 3 SGB X), als Urkunden iS des § 118 Abs 1 Satz 1 SGG iVm §§ 415 ff ZPO verwertet werden können (BSG SozEntsch BSG I/4, § 103 SGG Nr 11). Dann haben sie aber einen anderen Beweiswert und eine andere Beweiskraft, somit einen anderen Aussagewert als ein Gutachten im Rechtssinn (Rosenberg/Schwab, Zivilprozeßrecht, 13. Aufl 1981, § 122 I und III, § 124 I; vgl zum Unterschied von Zeugen- und Urkundenbeweis: RGZ 46, 410, 412). Das hat das LSG nicht beachtet. Eine solche Verwertung darf jedenfalls nicht zur Umgehung der Vorschriften über den selbständigen Sachverständigenbeweis führen, wie es hier geschehen ist. Das Berufungsgericht hat das nicht vorschriftsmäßig beschaffte "Gutachten" bloß formelhaft als "Urkunde" bezeichnet, jedoch nicht unter Beachtung der begrenzten Beweiskraft einer Urkunde ernsthaft als solche behandelt, sondern uneingeschränkt und ohne weiteres wie ein Gutachten iS der §§ 402 ff ZPO. Der Senat kann dahingestellt bleiben lassen, ob Vorschriften über den Sachverständigenbeweis in solchen Fällen nicht rechtswidrig umgangen werden, falls ein Gericht sich an die Vorschriften über die Beweiskraft von Urkunden (§§ 415 ff, insbesondere § 416 ZPO) hält und in den Entscheidungsgründen darlegt, warum die in der Urkunde aufgezeichneten Tatsachen und Meinungsäußerungen zu dem Schluß berechtigen, sie hätten den gleichen Beweiswert wie entsprechende Bekundungen in einem ordnungsmäßig zustande gekommenen Gutachten. Das LSG hatte gerade über Urkundenbeweise und frühere Gutachten hinaus eine erneute Beweiserhebung durch Prof. Dr.M. als Sachverständigen für geboten erachtet. Dann durfte es sich nicht damit begnügen, die ärztlichen Äußerungen, die nicht als solche eines Sachverständigen gewertet werden dürfen, wie eine Urkunde ohne weitere Würdigung zu werten. Im Berufungsurteil fehlen Überlegungen, die einen einem Gutachten zukommenden Beweiswert rechtfertigen. Schon deshalb, weil das LSG nicht korrekt ermittelt hat, ob Prof. r.M. die mitgeteilten Befunde und Beurteilungen in vollem Umfang selbst verantwortet, ist offengeblieben, wie das Gericht zu seiner Überzeugung gelangt ist, die über die Beweiskraft von Urkunden hinausgeht. Auch darf die sachkundige Beurteilung, die ein Gutachten als eigenständiges Beweismittel kennzeichnet, nicht ohne weiteres wie eine Urkunde, die einen anderen Beweiswert hat, verwertet werden.

Das LSG hat nunmehr die gebotene Sachaufklärung in der vorgeschriebenen Weise zu betreiben und auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden.

 

Fundstellen

NJW 1985, 1422

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