Leitsatz (amtlich)

Zur Verwertung eines Gutachtens, das ein anderer als der vom Gericht als Sachverständiger bestellte Arzt erstattet hat, bei der Urteilsfindung.

 

Normenkette

SGG § 128 Abs. 1 Fassung: 1953-09-03

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 1. September 1966 aufgehoben.

Der Rechtsstreit wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Gründe

I

Der Kläger erstrebt Rente wegen Erwerbsunfähigkeit, hilfsweise wegen Berufsunfähigkeit. Sein Antrag vom 17. November 1959 wurde von der Beklagten abgelehnt, weil er weder erwerbs- oder berufsunfähig noch vermindert bergmännisch berufsfähig sei. Der Widerspruch des Klägers wurde zurückgewiesen.

Das Sozialgericht (SG) hat nach Einholung eines nervenfachärztlichen Gutachtens die Beklagte unter Aufhebung ihrer ablehnenden Bescheide verurteilt, dem Kläger vom 1. November 1959 an Rente wegen Erwerbsunfähigkeit zu gewähren. Es hielt ihn wegen einer psychogenen Fehlentwicklung für unfähig, eine regelmäßige Tätigkeit zu verrichten, so daß er erwerbsunfähig sei.

Im Berufungsverfahren hat der Berichterstatter des Landessozialgerichts (LSG) mit Beweisanordnung nach § 106 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) vom 15. Oktober 1964 ein medizinisches Gutachten erfordert und auf Anregung des Klägers durch abändernde Anordnung vom 5. Mai 1965 "Professor Dr. E, Neurologische Universitätsklinik Gießen", zum Sachverständigen bestellt. Das Gutachten vom 15. August 1965, das darauf von der genannten Klinik (Direktor: Prof. Dr. med. F. E) einging, trägt rechts die Unterschrift des Facharztes Dr. K und links die Unterschrift von Oberarzt Dr. K mit dem Zusatz "I. V.".

Das LSG hat das sozialgerichtliche Urteil abgeändert und die Klage abgewiesen. Unter Würdigung der vorliegenden ärztlichen Beurteilungen, u. a. des Gutachtens vom 15. August 1965 könne nicht festgestellt werden, daß der Kläger unfähig sei, leichte Tätigkeiten wie die eines Markenausgebers, Magazinarbeiters, Platzreinigers, Maschinenputzers, Boten oder Pförtners zu verrichten. Demnach sei er weder erwerbs- oder berufsunfähig, noch vermindert bergmännisch berufsfähig. Er habe keinen qualifizierten Beruf erlernt oder ausgeübt. Auszugehen sei von der Tätigkeit eines Fördermanns (Schlepper im Schichtlohn), die er nach freiwilliger Aufgabe der Tätigkeit als Signalist zuletzt im mitteldeutschen Bergbau ausgeübt habe. Als solcher könne er auf die vorgenannten Tätigkeiten im Rahmen der §§ 45, 46, 47 des Reichsknappschaftsgesetzes (RKG) verwiesen werden.

Das LSG hat die Revision nicht zugelassen. Mit der Revision rügt der Kläger als Verstoß gegen § 128 SGG, daß das LSG das Gutachten vom 15. August 1965 als Sachverständigenbeweis gewürdigt habe, obgleich die erstattenden Ärzte Dr. K und Dr. K nicht zu Sachverständigen bestellt worden wären; hierzu sei vielmehr - und zwar auf ausdrücklichen Wunsch des Klägers hin - Prof. Dr. E bestellt worden, der sich in dieser Funktion nicht hätte vertreten lassen und auch den Auftrag nicht hätte weitergeben dürfen. Der Kläger rügt als weiteren Verfahrensmangel, daß das LSG die Prüfung unterlassen habe, ob es für ihn mit seiner eingeschränkten Leistungsfähigkeit an seinem Wohnort oder in dessen näherer Umgebung geeignete Arbeitsplätze überhaupt in nennenswerter Zahl gebe und ob sie ihm zur Verfügung ständen; hierbei seien die Zechenstillegungen und die Ruhrkrise zu berücksichtigen.

Der Kläger beantragt inhaltlich,

unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 14. Juni 1963 zurückzuweisen,

hilfsweise,

das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision als unzulässig zu verwerfen.

Sie hält die Verfahrensrügen des Klägers nicht für begründet. Da der Kläger Prof. Dr. E nicht gemäß § 109 SGG ausdrücklich als Arzt seines Vertrauens benannt habe, sei dessen Beauftragung nicht persönlich zu verstehen. Auch sei das Gutachten vom 15. August 1965 nicht allein Grundlage der angefochtenen Entscheidung. Es bedürfe in der Regel auch keiner Beweiserhebungen darüber, ob es für die Verweisungstätigkeiten Arbeitsplätze in ausreichender Zahl gibt.

Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden.

II

Die Revision ist - obwohl das LSG sie nicht zugelassen hat - statthaft, weil ein Verfahrensmangel des LSG vorliegt und vom Kläger ordnungsgemäß gerügt worden ist (§ 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG).

Wie der 11. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) bereits entschieden hat (Urt. v. 1.12.1964 = SozR Nr. 71 zu § 128 SGG), darf ein Gericht eine schriftliche Äußerung, auch wenn sie inhaltlich den Anforderungen eines "Gutachtens" entspricht, nur dann als Sachverständigenbeweis (schriftliche Begutachtung i. S. der §§ 411 der Zivilprozeßordnung - ZPO -, 106 SGG) würdigen, wenn es den Verfasser der Äußerung vorher zum gerichtlichen Sachverständigen ernannt (§ 404 ZPO), d. h. mit der Erstattung eines Gutachtens beauftragt hat. Der Senat schließt sich dieser Auffassung an. Die Ärzte Dr. K und Dr. K, die den Kläger untersucht und das Gutachten vom 15. August erstattet haben, waren keine gerichtlich ernannten Sachverständigen. Der Auftrag, das Gutachten zu erstatten, war nicht ihnen, sondern durch Anordnung des Berichterstatters vom 5. Mai 1965 Prof. Dr. E erteilt worden. Es kann schon dem Wortlaut der Anordnung nach nicht zweifelhaft sein, daß der Auftrag ihm persönlich, nicht dem Direktor der Neurologischen Universitätsklinik als solchem und damit gegebenenfalls auch seinem Nachfolger oder Vertreter in diesem Amt erteilt worden ist; es kommt hinzu, daß die Wahl gerade dieses Sachverständigen auf ausdrückliche Anregung des Klägers erfolgte. Nur Prof. Dr. E war demnach zum Sachverständigen bestimmt und nur er zur schriftlichen Begutachtung befugt; als gerichtlicher Sachverständiger durfte er sich aber weder durch seinen Oberarzt vertreten lassen noch durfte er den Auftrag an ihn weitergeben. Das LSG konnte auch die Erstattung des Gutachtens durch andere Ärzte nicht stillschweigend nachträglich genehmigen. Wie in dem o. a. Urteil des 11. Senats zutreffend dargelegt wird, würde damit der für den Sachverständigenbeweis vorgeschriebene Verfahrensweg, der mit der Ernennung des Sachverständigen beginnt, umgekehrt werden; die Ernennung zum gerichtlichen Sachverständigen begründet für den Ernannten besondere Pflichten, denen er bereits bei Erstattung des Gutachtens unterworfen sein muß.

Der zu Recht gerügte Verfahrensmangel des LSG liegt darin, daß es das bei den Akten befindliche Gutachten der Arzte Dr. K und Dr. K, die nicht zu gerichtlichen Sachverständigen bestellt waren, bei der Urteilsfindung als Sachverständigenbeweis gewürdigt hat. Der Senat hat allerdings keine grundsätzlichen Bedenken dagegen, daß auch eine ärztliche Äußerung, die dem Gericht auf diesem Wege zugeht, ähnlich wie ein in beigezogenen Akten befindliches oder von einem Beteiligten eingereichtes Gutachten in das Verfahren einbezogen und demgemäß bei der Überzeugungsbildung des Gerichts nach § 128 SGG mit berücksichtigt wird. Dabei muß sich aber das Gericht dessen bewußt sein, daß es sich nicht um ein Sachverständigengutachten nach § 411 ZPO handelt. Wäre sich im vorliegenden Falle das LSG bei der Urteilsfindung dessen bewußt gewesen und hätte es gleichwohl das Gutachten im Rahmen der freien Beweiswürdigung entscheidend verwerten wollen, so hätten dieser Umstand und die dafür maßgebenden Erwägungen irgendwie in den Gründen des angefochtenen Urteils zum Ausdruck gelangen müssen. Da das nicht geschehen ist, ist davon auszugehen, daß das LSG die ärztliche Äußerung als schriftliche Begutachtung nach § 411 ZPO gewürdigt hat. Es handelt sich auch um einen "wesentlichen" Verfahrensmangel i. S. des § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG, weil die angefochtene Entscheidung wesentlich auf diesem Gutachten beruht und nicht ersichtlich ist, wie das LSG entschieden haben würde, wenn es das Gutachten nicht als Sachverständigenbeweis gewürdigt hätte.

Die Revision ist auch begründet. Die angefochtene Entscheidung beruht auf der tatsächlichen Feststellung, der Kläger sei nicht unfähig, leichte Tätigkeiten wie die eines Markenausgebers, Magazinarbeiters, Platzreinigers, Maschinenputzers, Boten oder Pförtners zu verrichten. Die Tauglichkeit zu solchen und ähnlichen Arbeiten schließt aber für den Kläger als früheren Fördermann (Schichtlohnschlepper) Erwerbs- und Berufsunfähigkeit wie auch verminderte bergmännische Berufsfähigkeit aus. Bei der Verweisung auf vollschichtige Tätigkeit in einem so weiten Arbeitsfeld bedarf es auch - entgegen der Ansicht des Klägers - keiner besonderen Feststellung, ob es entsprechende Arbeitsplätze in nennenswerter Zahl gibt. Da die tatsächliche Feststellung zur beruflichen Tauglichkeit auf der fehlerhaften Würdigung des Gutachtens vom 15. August 1965 beruht, bedarf es insoweit einer neuen Beurteilung dieser Frage, die das BSG selbst nicht an Stelle des Tatsachengerichts vornehmen kann. Es kann auch weder das angefochtene Urteil aus anderen Gründen aufrechterhalten noch in der Sache zugunsten des Klägers entscheiden, da die tatsächlichen Feststellungen des LSG, die von dem Verfahrensmangel nicht betroffen werden, hierfür nicht ausreichen. Das angefochtene Urteil mußte daher aufgehoben und der Rechtsstreit an das LSG zurückverwiesen werden.

Im Einverständnis der Beteiligten konnte der Senat durch Urteil ohne mündliche Verhandlung entscheiden (§ 124 Abs. 2 in Verbindung mit §§ 153, 165 SGG).

 

Fundstellen

Haufe-Index 1785224

NJW 1968, 223

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