Entscheidungsstichwort (Thema)

Gutachten in "Wir-Form". Zweifel an der persönlichen Gutachtenerstellung

 

Leitsatz (amtlich)

Bestehen verständliche Zweifel, ob der beauftragte Sachverständige die volle zivil- und strafrechtliche Verantwortung für ein Gutachten trägt, bei dem eine andere Person mitgewirkt hat, muß das Gericht dafür sorgen, daß diese Zweifel durch eine ausdrückliche Erklärung des Sachverständigen beseitigt werden.

 

Orientierungssatz

1. Fassen der beauftragte Sachverständige und seine Hilfsperson das Gutachten in "Wir-Form" ab, so liegt kein Gutachten im Rechtssinne des vom Gericht allein beauftragten Sachverständigen vor.

2. Wann Zweifel an der persönlichen Beteiligung des Sachverständigen bestehen, läßt sich nicht verallgemeinernd darstellen. Jedenfalls drängen sie sich aber auf, wenn nach Eingang eines schriftlichen Gutachtens sofort von einem Beteiligten gerügt wird, es fehle an der Einhaltung der in der Beweisanordnung geforderten Förmlichkeiten.

 

Normenkette

SGG §§ 103, 128 Abs 1 S 2, § 118 Abs 1 S 1; ZPO § 404 Abs 1, § 407 Abs 1, § 410 Abs. 1, § 411

 

Verfahrensgang

Bayerisches LSG (Entscheidung vom 01.03.1984; Aktenzeichen L 7 V 275/80)

SG Augsburg (Entscheidung vom 26.06.1980; Aktenzeichen S 11 V 40/80)

 

Tatbestand

Der 1911 geborene Kläger bezieht Leistungen nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG). Im Streit ist der Antrag des Klägers auf Neufeststellung mit dem Ziel einer Anhebung der MdE von 70 auf 90 vH.

Das Sozialgericht (SG) hat nach Beweiserhebung die Klage abgewiesen. Im Berufungsverfahren sind auf Antrag des Klägers nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ein internistisches und ein chirurgisches Gutachten eingeholt worden. Anschließend hat das Landessozialgericht (LSG) von Amts wegen ein Gutachten von dem Chefarzt der II. Orthopädischen Klinik der H      -Stiftung - Dr. G. T  - eingeholt, das am 10. August 1983 in der "Wirform" erstattet und von Dr. U      und Dr. T       unterzeichnet worden ist. Die Berufung ist zurückgewiesen worden. In den Entscheidungsgründen hat das LSG unter Bezugnahme auf BSG SozR Nrn 73 und 93 zu § 128 SGG den Einwand des Klägers zurückgewiesen, es fehle an dem Vermerk "aufgrund eigener Überprüfung und Urteilsbildung einverstanden", das Gutachten dürfe daher nicht verwertet werden. Nach Auffassung des LSG ist das Gutachten in Gemeinschaftsarbeit erstellt worden.

Der Kläger hat die - vom Senat zugelassene - Revision eingelegt und zur Begründung ausgeführt: Das Gutachten von Dr. T       habe im Rechtsstreit nicht verwendet werden dürfen, weil das Gutachten nicht von ihm, dem vom Gericht bestellten Sachverständigen, sondern von Dr. U      erstattet worden sei. Dr.T       habe nicht in der nach der Beweisanordnung gebotenen Form beurkundet, daß er aufgrund eigener Überprüfung und Urteilsbildung die volle Verantwortung übernehme. Der Sachverhalt sei auf der Grundlage früherer Gutachten abschließend zu entscheiden.

Der Kläger beantragt,

das angefochtene Urteil abzuändern und nach den zweitinstanzlichen Anträgen zu erkennen, hilfsweise, den Rechtsstreit an das LSG zurückzuverweisen.

Der Beklagte beantragt,

im Hinblick auf das Urteil des Bundessozialgerichts vom 28. März 1984 - 9a RV 29/83 - nach Sachlage zu entscheiden.

Beide Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision hat Erfolg. Entsprechend dem Hilfsantrag des Klägers ist das angefochtene Urteil aufzuheben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Das Berufungsgericht hat seine Überzeugung, seit dem letzten maßgeblichen Gutachten sei keine Verschlimmerung eingetreten und daher die Gewährung höherer Versorgungsbezüge nicht gerechtfertigt, nicht aufgrund eines ordnungsgemäßen Beweisverfahrens gewonnen (§ 153 Abs 1 SGG, §§ 155, 103, 106 Abs 3 Nr 5 und Abs 4 SGG, § 118 Abs 1, § 128 Abs 2 Satz 1 SGG). Denn das Urteil stützt sich maßgeblich auf das schriftliche Gutachten, das unter dem 10. August 1983 von Dr. T       und Dr. U      verfaßt worden ist. Dieses Beweismittel durfte nicht als Sachverständigengutachten - und nur als solches hat es das LSG berücksichtigt - verwertet werden. Die schon im Berufungsverfahren geäußerten Einwendungen des Klägers gegen dieses Gutachten sind - entgegen der Auffassung des LSG - berechtigt. Der Kläger hat sie rechtzeitig vorgebracht und ausweislich seiner Schriftsätze bis in die mündliche Verhandlung hinein nicht auf sie verzichtet (vgl hierzu Beschluß des BSG vom 30. Dezember 1987 - 5a BKn 10/86 -).

Als Sachverständigengutachten hätte dieses Beweismittel nur verwertet werden dürfen, wenn es der vom Gericht beauftragte Sachverständige persönlich erstattet hätte (§ 118 Abs 1 Satz 1 SGG, § 404 Abs 1, §§ 407, 410, 411 Abs 1 Zivilprozeßordnung -ZPO-). Ersichtlich war dies dem LSG bewußt; in der Beweisanordnung ist dem Sachverständigen auch vorgezeichnet worden, in welcher Form zu verfahren sei, wenn eine Hilfskraft hinzugezogen werde. Die Beweisanordnung vom 10. November 1982 enthält folgenden Zusatz: Falls Sie verhindert sein sollten, das Gutachten persönlich zu erstatten, werden Sie gebeten, das Gutachten mit dem Vermerk "aufgrund eigener Überprüfung und Urteilsbildung einverstanden" gegenzuzeichnen. Insoweit hat sich das LSG in Übereinstimmung mit der Entscheidung des Senats vom 28. März 1984 - 9a RV 29/83 - (SozR 1500 § 128 Nr 24 mit ausführlichen Nachweisen) befunden. Im angefochtenen Urteil weicht das LSG jedoch von diesen seinen eigenen Auflagen und den tragenden Grundsätzen der angeführten Entscheidung ab. Aus dem Gutachten selbst muß entnommen werden können, daß der Klinikdirektor persönlich die volle zivil- und strafrechtliche Verantwortung für das Gutachten übernimmt mit der Bedeutung, daß er unter der Strafdrohung der §§ 153 ff Strafgesetzbuch steht und vereidigt werden kann (§ 410 Abs 1 Satz 2 ZPO). Denn der gerichtlich bestellte Sachverständige kann weder den Auftrag einem anderen Arzt übertragen noch eigenmächtig sich in die Verantwortung für ein Gutachten mit einem Mitarbeiter teilen (BSG aaO).

Dies ist hier jedoch geschehen. Das LSG hat zu Unrecht aus der formelhaften -nicht einmal lückenlosen - Verwendung des "wir" sowie aus der Tatsache, daß das Gutachten unter dem Briefkopf der Orthopädischen Klinik der H      -Stiftung erstattet worden ist, auf eine Gemeinschaftsarbeit geschlossen, für die beide Gutachter die volle Verantwortung für das ganze Gutachten übernommen hätten. In der genannten Entscheidung ist aber bereits klargestellt, daß dem Briefkopf nur ein geringer Beweiswert zukommt. Dies wird hier noch besonders deutlich, weil selbst im Briefkopf durch das Diktatzeichen erkennbar wird, daß Dr. U      das Sachverständigengutachten schriftlich abgefaßt hat. Etwas anderes war auch nach dem umfangreichen Schriftwechsel zwischen dem Gericht und Dr. U      nicht zu erwarten. Es war Dr. U     , der sowohl gegenüber dem Gericht als auch gegenüber den Vorgutachtern tätig geworden ist. Er hat Röntgenaufnahmen angefordert; er hat sich als derjenige bezeichnet, der die Untersuchung durchgeführt, einen Teil des Gutachtens bereits diktiert hat, jedoch noch weitere Unterlagen benötigt. Nur mit ihm hat das Gericht korrespondiert; ihn hat es gegenüber einem Vorgutachter sogar fälschlich als denjenigen bezeichnet, der mit der Gutachtenserstellung beauftragt sei (Bl 145 GA).

Unter diesen Umständen liegt es auf der Hand, daß das LSG ohne tatsächliche Grundlagen von einer Gemeinschaftsarbeit bei der Erstellung des Gutachtens spricht. Aus dem aktenkundigen Verlauf wird die Mitwirkung von Dr. T erstmals und nur bei der Unterschrift erkennbar. In einem solchen Fall bestehen - auch ohne entsprechende Rüge des Betroffenen - Zweifel an der persönlichen Verantwortung des Sachverständigen. Es kann daher nicht darauf verzichtet werden, daß der gerichtlich bestellte Sachverständige die Übernahme der vollen Verantwortung für das Gutachten mindestens in der Form verdeutlicht, wie es in der genannten Entscheidung gefordert wird.

Wann Zweifel an der persönlichen Beteiligung des Sachverständigen bestehen, läßt sich nicht verallgemeinernd darstellen. Jedenfalls drängen sie sich aber auf, wenn nach Eingang eines schriftlichen Gutachtens sofort von einem Beteiligten gerügt wird, es fehle an der Einhaltung der in der Beweisanordnung geforderten Förmlichkeiten. Diese sollen im Regelfall dem Gericht die Gewißheit vermitteln, der bestellte Sachverständige habe seine gerichtliche Aufgabe auch wahrgenommen. Verstößt das schriftliche Gutachten schon hiergegen, muß sich das Gericht anderweitig rückversichern. Damit ist nicht abschließend festgestellt, daß der Zusatz "aufgrund eigener Überprüfung und Urteilsbildung einverstanden" alle diesbezüglichen Einwände eines Untersuchten ausschließt. Es werden ihm nur tatsächlich seltener Argumente zu Gebote stehen, die schriftlich bekräftigte Verantwortlichkeit des Sachverständigen zu erschüttern.

Ob das Gutachten iS einer Urkunde hätte verwertet werden können, bedarf hier keiner Erörterung, weil das LSG davon ausdrücklich abgesehen hat. Den Verfahrensfehler zu beheben, stehen dem LSG verschiedene Mittel zu Gebote. Bei seiner erneuten Entscheidung wird es auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu befinden haben.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1659579

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