Verfahrensgang

LSG Baden-Württemberg (Urteil vom 23.04.1990)

 

Tenor

Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 23. April 1990 wird zurückgewiesen.

Kosten sind auch im Revisionsverfahren nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

I

Die Klägerin beansprucht Witwenbeihilfe nach ihrem 1973 verstorbenen Ehemann, dem für die Zeit von April 1971 bis Juli 1973 Berufsschadensausgleich (BschA) bewilligt worden war. Insoweit hatte der Beklagte zur Beendigung eines Rechtsstreits ein Anerkenntnis abgegeben, das er nunmehr als rechtswidrig bezeichnet; es dränge sich ihm daher nicht auf, daß alle tatsächlichen Voraussetzungen für eine Witwenbeihilfe gegeben seien. Nach einer ersten Ablehnung der Witwenbeihilfe (bestätigt durch Urteil des Landessozialgerichts ≪LSG≫ vom 29. Mai 1979) stellte die Klägerin im Mai 1987 erneut einen Antrag auf Gewährung von Witwenbeihilfe mit der Begründung, die Einkommensverhältnisse des Verstorbenen seien seit 1968 unverändert gewesen, so daß ihm der Anspruch auf BSchA für mehr als fünf Jahre zugestanden habe; diese Verhältnisse seien offenkundig. Auch dieser Antrag war ohne Erfolg (Bescheid vom 12. November 1987 und Widerspruchsbescheid vom 18. April 1988). Auf die Klage ist Witwenbeihilfe zugesprochen worden (Urteil des Sozialgerichts ≪SG≫ vom 23. November 1988). Dieses Urteil ist auf die Berufung des Beklagten geändert worden. Das LSG hat die Klage abgewiesen, weil im Rahmen von § 44 Sozialgesetzbuch – Verwaltungsverfahren -(SGB X) nicht zu beanstanden sei, daß sich der Beklagte hinsichtlich einer tatsächlichen schädigungsbedingten Beeinträchtigung der Hinterbliebenenversorgung der Klägerin auf die Bindungswirkung des früheren Ablehnungsbescheides berufe. Der Verstorbene habe weder für fünf Jahre BSchA bezogen, noch habe ein solcher Anspruch offensichtlich bestanden. Denn es sei nicht ersichtlich, daß der Verstorbene ohne Schädigung als selbständiger Landwirt ein höheres Einkommen oder eine höhere Rente erwirtschaftet hätte. Das fälschlicherweise abgegebene Anerkenntnis ändere hieran nichts. Dem Anerkenntnis komme keine Bindungswirkung für einen davor liegenden Zeitraum zu (Urteil des LSG vom 23. April 1990).

Die Klägerin hat die vom LSG zugelassene Revision eingelegt, die sie darauf stützt, daß der anerkannte Anspruch offensichtlich auch in der Zeit vor 1971 bestanden habe, weil sich die tatsächlichen Verhältnisse nicht geändert hätten.

Die Klägerin beantragt,

das angefochtene Urteil zu ändern und die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Reutlingen vom 23. November 1988 zurückzuweisen.

Der Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil schon deshalb für richtig, weil das abgegebene Anerkenntnis rechtswidrig gewesen sei, so daß es in seinen Wirkungen nicht über die Witwenbeihilfe in die Zukunft erstreckt werden dürfe.

Beide Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

 

Entscheidungsgründe

II

Die Revision der Klägerin ist nicht begründet. Sie hat keinen Anspruch nach § 44 SGB X iVm § 48 Bundesversorgungsgesetz (BVG), denn die Voraussetzungen für eine Witwenbeihilfe liegen nicht vor.

Nach § 48 Abs 1 Satz 2 BVG erhält die Witwe eines Beschädigten, der nicht an den Folgen der Schädigung gestorben ist, Witwenbeihilfe, wenn der Beschädigte durch die Folgen der Schädigung gehindert war, eine entsprechende Erwerbstätigkeit auszuüben und dadurch die aus der Ehe mit dem Beschädigten hergeleitete Witwenversorgung insgesamt gemindert ist. Unabhängig davon, ob eine solche konkrete Minderung feststellbar ist, wird nach § 48 Abs 1 Satz 2 Halbsatz 1 BVG (seit der Fassung durch das Haushaltsstrukturgesetz-AFG vom 18. Dezember 1975 ≪BGBl I 3113≫) Witwenbeihilfe gewährt, wenn der Beschädigte mindestens fünf Jahre Anspruch auf BSchA hatte; dann gelten die Voraussetzungen der Vorschrift als erfüllt. Diese Neufassung des Gesetzes gilt auch für Todesfälle vor dem 1. Januar 1976, soweit erstmals Ansprüche begründet werden (Art 2 § 2 Abs 2 HStruktG-AFG).

Tatsächlich hat der Verstorbene nicht für fünf Jahre BSchA bezogen. Hierauf allein kann die Ablehnung der Witwenbeihilfe jedoch nicht gestützt werden. Denn nach dem Sinn der unwiderlegbaren Rechtsvermutung des § 48 Abs 1 Satz 2 Halbsatz 1 BVG ist nicht erforderlich, daß der Beschädigte rechtzeitig, also mindestens fünf Jahre vor seinem Ableben einen Antrag auf BSchA gestellt und daher die Leistung auch 5 Jahre lang bezogen hat. Es müssen lediglich die gesetzlichen Voraussetzungen klar erkennbar bestanden haben, so daß es sich der Verwaltung aufdrängen muß, daß alle tatsächlichen Voraussetzungen bereits mindestens fünf Jahre vor dem Tod gegeben waren (BSG SozR 3100 § 48 Nrn 15 und 16).

Wie das LSG zutreffend entschieden hat, liegen die gesetzlichen Voraussetzungen für einen BSchA im vorliegenden Fall nicht klar zu Tage. Zwar ist das Einstufungsgerüst, das dem BSchA zugrunde gelegt worden ist, beim Beschädigten als Statusfeststellung bindend geworden (BSGE 39, 14 = SozR 3640 § 4 Nr 2; BSGE 42, 283 = SozR 3100 § 40a Nr 4; bestätigt durch SozR 3 – 3100 § 30 Nr 3). Trotz dieser Bindungswirkung kann sich der Beklagte aber darauf berufen, daß er das damals abgegebene Anerkenntnis über den BSchA für rechtswidrig hält, weil dieser Anspruch nicht nur vom Einstufungsgerüst, sondern auch vom anrechenbaren Bruttoeinkommen abhängt. Für seine Rechtsauffassung kann sich der Beklagte auf nach dem Anerkenntnis ergangene Rechtsprechung zum BSchA bei Selbständigen berufen (vgl BSGE 64, 283 = SozR 3100 § 30 Nr 76). Danach ist bei Selbständigen nicht das anzurechnen, was sie tatsächlich verdienen, sondern was sie als beschädigte Arbeitnehmer verdient hätten. Auf dieser rechtlichen Grundlage ist das damalige Anerkenntnis nicht abgegeben worden; es erscheint angesichts der späteren Rechtsprechung rechtlich zweifelhaft, ob es hätte abgegeben werden dürfen. Diese begründeten Zweifel genügen, um die Rechtsvermutung des § 48 Abs 1 Satz 2 BVG auf den Zeitraum zu beschränken, in dem tatsächlich BSchA zuerkannt war. Eine Erstreckung des Anspruchs drängt sich nicht auf.

Wie der Senat bereits entschieden hat, soll die Vermutung als eine Beweiserleichterung und eine Verwaltungsvereinfachung dienen. Dieser Zweck schränkt den Anwendungsbereich der Norm auf solche Fälle ein, in denen der Sachverhalt klar erkennbar zu Tage liegt und weder rechtlich noch tatsächlich Zweifel bestehen (vgl BSG SozR 3100 § 48 Nr 15). Der Zweck des Gesetzes wird verfehlt, wenn allein wegen des Anspruchs auf Witwenbeihilfe frühere Feststellungen einer berichtigenden Überprüfung unterzogen werden müßten oder wenn Rechtsfragen für zurückliegende Zeiträume deshalb neu geprüft und entschieden werden müßten, weil es am tatsächlichen Bezug von Leistungen, den das Gesetz zur Verwaltungsvereinfachung an sich verlangt, gefehlt hat. Die Verwaltung soll sich nur dann nicht auf einen kürzeren Bezugszeitraum für den BSchA berufen, wenn sie zugestandenermaßen bei früherer Antragstellung für den gesamten Fünfjahreszeitraum Leistungen gewährt hätte. Hat der Verstorbene weniger als 5 Jahre BSchA bezogen, kann sich bei ernstlichen Zweifeln an der Rechtmäßigkeit einer früheren BSchA-Bewilligung die Witwe ebensowenig auf die gesetzliche Vermutung berufen wie in den Fällen, in denen zur Feststellung des BSchA eine weitere Sachaufklärung erforderlich würde.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1175089

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