Entscheidungsstichwort (Thema)

Feststellung des derzeitigen Einkommens eines Selbständigen

 

Leitsatz (amtlich)

1. Das derzeitige Bruttoeinkommen, das sich ein selbständiger Beschädigter bei der Berechnung des Berufsschadensausgleichs anrechnen lassen muß, ist nicht das, was er tatsächlich verdient, sondern das, was er als beschädigter Arbeitnehmer wahrscheinlich verdienen würde.

2. Nach Vollendung des 65. Lebensjahres ist das so bestimmte derzeitige Einkommen ebenso wie das Vergleichseinkommen um 25 vH zu mindern.

 

Orientierungssatz

Für das derzeitige Einkommen beschädigter Selbständiger ist eine relativ feste Größe zugrunde zu legen. Dies ist das Einkommen, das der individuelle Beschädigte als Bewerber um eine unselbständige Berufsstellung erzielen würde. Um das festzustellen, ist es der Verwaltung und auch den Tatsachengerichten erlaubt, in freier Würdigung aller Umstände - evtl unter Heranziehung medizinischer und berufskundlicher Sachverständiger - , unabhängig von dem abstrakten MdE-Grad, das trotz Schädigung verbliebene Leistungsvermögen für eine bestimmte Tätigkeit (evtl auch Teilzeittätigkeit) einzuschätzen.

 

Normenkette

BVG § 30 Abs 5 S 1; BSchAV §§ 5, 8 Abs 1 Nr 1, § 9 Abs 1 Nr 2

 

Verfahrensgang

LSG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 21.09.1987; Aktenzeichen L 11 V 2011/86)

SG Reutlingen (Entscheidung vom 24.04.1986; Aktenzeichen S 9 V 1382/85)

 

Tatbestand

Streitig ist, wie der Berufsschadensausgleich für einen freischaffenden Künstler zu berechnen ist.

Der 1921 geborene Kläger ist nach der Ausbildung an einer staatlichen Akademie der bildenden Künste seit 1946 als Maler und Bildhauer freischaffend tätig. Er bezieht Versorgungsleistungen nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 40 vH unter Berücksichtigung eines besonderen beruflichen Betroffenseins.

Mit Bescheid vom 9. März 1981 bewilligte ihm das Versorgungsamt Berufsschadensausgleich ab Januar 1979 unter Zugrundelegung eines Vergleichseinkommens nach der Besoldungsgruppe A 11 des Bundesbesoldungsgesetzes und eines derzeitigen Bruttoeinkommens von vorläufig 600,-- DM monatlich bis zur Vorlage des Einkommensteuerbescheides für 1979. Dem Begehren des Klägers, sein Vergleichseinkommen nach der Besoldungsgruppe A 15 festzustellen, kam die Versorgungsverwaltung mit Bescheid vom 31. März 1983 nach, berechnete nunmehr aber das derzeitige Bruttoeinkommen nach der Besoldungsgruppe A 14, gemindert um 30 % entsprechend dem Wert der Arbeitsleistung eines leistungsgeminderten Kunsterziehers an höheren Schulen. Das derzeitige Bruttoeinkommen erhöhte sich dadurch von 600,-- DM auf über 3.000,-- DM; der Anspruch auf Berufsschadensausgleich verringerte sich entsprechend.

Im anschließenden Klageverfahren änderte der Beklagte mit Bescheid vom 11. Mai 1984 den Bescheid vom 31. März 1983 insoweit ab, als er sich verpflichtete, den Berufsschadensausgleich erst ab Mai 1983 stufenweise herabzusetzen. Der Kläger nahm daraufhin die Klage zurück.

Mit dem hier angefochtenen Bescheid vom 10. Juni 1985 setzte der Beklagte den Berufsschadensausgleich für die Zeit ab 1. Januar 1983 endgültig fest.

Das Sozialgericht (SG) hat den Beklagten verurteilt, weiterhin als derzeitiges Bruttoeinkommen den jeweiligen vom Finanzamt ermittelten Gewinn zugrunde zu legen (Urteil vom 24. April 1986). Auf die Berufung des Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) die Klage im wesentlichen abgewiesen und den Beklagten lediglich verurteilt, für die Zeit ab 1. Juli 1986 - nach Vollendung des 65. Lebensjahres - als Bruttoeinkommen nur noch 75 % des zuvor auf der Grundlage der Besoldungsgruppe A 14 errechneten Betrages zugrunde zu legen (Urteil vom 21. September 1987). Zur Begründung hat es ausgeführt, bei der Ermittlung des derzeitigen Einkommens sei von der Besoldungsgruppe A 14 auszugehen, weil der Kläger in dem vorangegangenen Verfahren die Klage zurückgenommen habe und deshalb diese Berechnungsweise bindend geworden sei. Es komme allenfalls eine Rücknahme nach § 44 Sozialgesetzbuch -Verwaltungsverfahren (SGB X) - in Betracht, insoweit fehle es aber an einer Entscheidung des Beklagten. Für die Zeit nach Vollendung des 65. Lebensjahres des Klägers habe der Beklagte das errechnete derzeitige Einkommen um 25 % zu kürzen, weil davon auszugehen sei, daß die Schaffenskraft auch bei Selbständigen nach diesem Alter nachlasse, was sich bei Gehaltsempfängern in den Pensionsleistungen von 75 % der Besoldungsbezüge ausdrücke.

Dagegen richten sich die Revisionen des Klägers und des Beklagten.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Landessozialgerichts zu ändern, die Berufung des Beklagten zurückzuweisen und ihn unter Änderung der Bescheide vom 20. Juni, 9. September und 17. Dezember 1986 zu verurteilen, auch über die Vollendung des 65. Lebensjahres hinaus den Berufsschadensausgleich unter Berücksichtigung des vollen Vergleichseinkommens gemäß der Besoldungsgruppe A 15 und des jährlich steuerlich ausgewiesenen Gewinns als derzeitiges Bruttoeinkommen zu berechnen, sowie die Revision des Beklagten zurückzuweisen.

Der Beklagte beantragt,

das Urteil des Landessozialgerichts zu ändern und die Klage in vollem Umfange abzuweisen, sowie die Revision des Klägers zurückzuweisen.

Er hält eine Kürzung auch des fiktiven, nach der Besoldungsgruppe A 14 berechneten derzeitigen Bruttoeinkommens auf 75 % nach Vollendung des 65. Lebensjahres nicht für gerechtfertigt, weil das kreative Schaffen eines selbständigen Künstlers auch über das 65. Lebensjahr hinaus fortbestehe.

Die Beigeladene stellt keinen Antrag.

 

Entscheidungsgründe

Die Revisionen sind insoweit begründet, als das angefochtene Urteil aufzuheben und der Rechtsstreit zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen ist. Der Senat ist nicht der Meinung der Vorinstanzen, wonach die Gerichte aus verfahrensrechtlichen Gründen gehindert seien, den angefochtenen Bescheid vom 10. Juni 1985 in vollem Umfang sachlich zu überprüfen. Die Gerichte haben in eigener Verantwortung darüber zu entscheiden, wie das derzeitige Einkommen des Klägers zu ermitteln ist. Einer umfassenden gerichtlichen Sachentscheidung steht weder entgegen - wie das LSG gemeint hat -, daß der Kläger die Klage gegen den Bescheid vom 31. März 1983 zurückgenommen hat, noch - wie das SG gemeint hat -, daß die umstrittene Frage dieses Rechtsstreits bereits durch den Bescheid vom 9. März 1981 entschieden worden ist.

Es kann unentschieden bleiben, ob durch die Rücknahme der Klage gegen den Bescheid vom 31. März 1983 zunächst feststand, daß das derzeitige Einkommen auf der Grundlage der Besoldung nach A 14 zu ermitteln war. Der Beklagte hat jedenfalls durch den hier angefochtenen Bescheid vom 10. Juni 1985 erneut geprüft und entschieden, wie das derzeitige Einkommen zu ermitteln sei. Er hat damit den Rechtsweg wieder eröffnet. Der Kläger kann entgegen der Meinung des LSG verlangen, daß alle seine Einwendungen gegen die Festlegung seines derzeitigen Einkommens nach der Besoldungsgruppe A 14 in vollem Umfang überprüft werden. Das entspricht auch dem Interesse des beklagten Landes, das sich nicht auf die Bindungswirkung seines früheren Bescheides berufen hat.

Umgekehrt muß sich der Beklagte nicht daran festhalten lassen, daß er in dem Bescheid vom 9. März 1981 zum Ausdruck gebracht hat, das derzeitige Einkommen werde später endgültig nach den Steuerbescheiden festgelegt. Diese damalige Auffassung des Beklagten war nur die Begründung dafür, daß der Berufsschadensausgleich vorläufig festgesetzt wurde. Die Begründung ist aber nicht in Bindungswirkung erwachsen. Die Versorgungsverwaltung hat sich auch nach dem Wortlaut der Gründe ihres Bescheides vom 9. März 1981 nicht zu einer bestimmten Berechnungsweise für das derzeitige Einkommen verpflichtet, sondern nur begründet, warum sie sich damals noch nicht in der Lage sah, dieses Einkommen endgültig festzulegen.

Zutreffend hat der Beklagte später erkannt, daß diese Begründung nicht zutraf, weil für die Berechnung des Berufsschadensausgleichs für Selbständige das derzeitige Einkommen nicht nach Steuerrecht ermittelt, sondern nach Versorgungsrecht festgesetzt wird. Das hatte das Bundessozialgericht (BSG) inzwischen in Fortsetzung der bisherigen Rechtsprechung zu dem derzeitigen Einkommen von gewerblichen Selbständigen auch für das derzeitige Einkommen von freiberuflich Tätigen entschieden (Urteil vom 29. Oktober 1980 - 9 RV 19/80 -, SozR 3641 § 9 Nr 3).

Der Senat hält auch nach erneuter Prüfung daran fest, daß sich der Berufsschadensausgleich für einen Selbständigen unabhängig davon, ob er gewerblich oder freiberuflich tätig ist, nicht nach der Differenz zwischen dem bemißt, was er als gesunder Selbständiger wahrscheinlich verdienen würde und dem, was er als beschädigter Selbständiger tatsächlich verdient. Maßgebend bleibt vielmehr, wie er seine berufliche Arbeitskraft als Unselbständiger auf dem Arbeitsmarkt verwerten könnte - einerseits als Gesunder, andererseits als Geschädigter. Das folgt aus § 5 und § 9 Abs 1 Nr 2 Berufsschadensausgleichsverordnung -BSchAV- (Verordnung zur Durchführung des § 30 Abs 3 bis 6 Bundesversorgungsgesetz -BVG- idF vom 29. Juni 1984, BGBl I, 861, die hinsichtlich der hier einschlägigen Vorschriften gegenüber der früheren Fassung vom 30. Juli 1964, BGBl I, 574, unverändert geblieben ist). Diese Vorschriften entsprechen dem Gesetz.

Es ist allerdings einzuräumen, daß das Gesetz nicht ausdrücklich darauf hinweist, daß Selbständige bei der Berechnung ihres Berufsschadensausgleichs wie Unselbständige zu behandeln sind. Das Gesetz unterscheidet nicht zwischen Selbständigen und Unselbständigen. Die gesetzlichen Regelungen sind aber uneingeschränkt nur für Unselbständige anwendbar.

Das gilt zunächst für die Ermittlung des Vergleichseinkommens, über das hier kein Streit mehr besteht. Für die Ermittlung des Vergleichseinkommens ist vorgeschrieben, daß festgestellt wird, welcher "Berufs- oder Wirtschaftsgruppe der Beschädigte ohne die Schädigung nach seinen Lebensverhältnissen, Kenntnissen und Fähigkeiten und dem bisher betätigten Arbeits- und Ausbildungswillen wahrscheinlich angehört hätte" (§ 30 Abs 5 Satz 1 BVG idF der Bekanntmachung vom 22. Januar 1982, BGBl I, 21). Zugrunde zu legen sind die Durchschnittseinkommen, die sich aus amtlichen Erhebungen des Statistischen Bundesamtes ergeben (§ 30 Abs 5 Satz 2 BVG). Für die Unselbständigen macht diese Ermittlung keine grundsätzliche Schwierigkeit, denn ihr Einkommen ist durch Gesetz, Tarifvertrag oder sonstigen Vertrag festgesetzt. Zeitnahe amtliche Angaben darüber liegen vor. Das Einkommen der Selbständigen ist demgegenüber weitgehend unabhängig von den oben genannten Kriterien, so daß ein Wahrscheinlichkeitsurteil darüber, was der einzelne Beschädigte als gesunder Selbständiger verdient hätte, nicht möglich ist. Ferner hängt das Einkommen der Selbständigen weitgehend von ihren eigenen Entscheidungen und seine Feststellung von ihren eigenen Angaben ab, so daß auch zeitnahe aussagefähige Statistiken und amtliche Angaben über das Durchschnittseinkommen fehlen.

Folglich hat die Bundesregierung den Auftrag des § 30 Abs 5 BVG (iVm § 30 Abs 9 BVG) so verstanden, daß der Wert der beruflichen Arbeit des Selbständigen auf dem Arbeitsmarkt zu ermitteln ist und die Selbständigen somit nach dem Leitbild der Unselbständigen zu behandeln sind. Der Senat hat durch Urteil von heute (9/9a RV 5/87, zur Veröffentlichung vorgesehen) bestätigt, daß das nicht beanstandet werden kann und es mit dem Gesetz zu vereinbaren ist, wenn nach § 5 BSchAV nur die Beamtenbesoldung als Vergleichsgrundlage herangezogen wird. Da der berufliche Erfolg von unübersehbar vielen Umständen abhängt, war es naheliegend, daß sich der Verordnungsgeber auf die wenigen wirklich faßbaren Schätzungsgrundlagen beschränkte: die schulische und berufliche Ausbildung. Darauf kommt es aber bei unselbständig Beschäftigten im Beamtenberuf wesentlich mehr an als in den gewerblichen Berufen.

Für die Heranziehung der Beamtenbesoldung spricht ferner ihre Stetigkeit, Verläßlichkeit und Berechenbarkeit. Dies widerspricht zwar der typischen Einkommenssituation der Selbständigen; für sie sind eher Einkommensschwankungen typisch. Der Berufsschadensausgleich hat aber nicht durchweg den schadensersatzrechtlichen Sinn, möglichst wirklichkeitsgerecht den Einkommensverlust zu ersetzen, sondern auch das sozialstaatliche Ziel, eine angemessene Existenzgrundlage für die Beschädigten und ihre Angehörigen zu sichern. Für diese Sicherung sind aber Stetigkeit, Verläßlichkeit und Berechenbarkeit wesentlich.

Ist es aber gerechtfertigt, entgegen der wirklichen Einkommenssituation von gesunden Selbständigen eine relativ feste Größe, die Beamtenbesoldung, heranzuziehen, dann ist es nicht nur gerechtfertigt, sondern geboten, auch für das derzeitige Einkommen beschädigter Selbständiger eine relativ feste Größe zugrunde zu legen. Das ist nicht, wie der Senat in seinem oben genannten Urteil (SozR 3641 § 9 Nr 3) angedeutet hat, eine Notlösung für die Verwaltungspraxis, sondern eine notwendige Regelung, weil nur dadurch der Sinn und Zweck des Berufsschadensausgleichs erreicht werden kann.

Das - mit Hilfe des Steuerrechts ermittelte - tatsächliche Einkommen eines Beschädigten ist nämlich nicht unbesehen immer der Betrag, den sich ein Beschädigter anrechnen lassen muß. Weil nur der schädigungsbedingte Einkommensverlust Grundlage des Berufsschadensausgleichs sein kann, muß dem Beschädigten unter Umständen mehr angerechnet werden, nämlich das, was er mit den verbliebenen Kräften noch verdienen kann. Bei Unselbständigen unterstellt allerdings das Gesetz im allgemeinen, daß ihr tatsächliches Einkommen auch dem entspricht, was sie verdienen können. Ausnahmen sind besonders geregelt (§ 30 Abs 6 BVG und § 9 Abs 7 BSchAV, zur verschuldeten Arbeitslosigkeit vgl BSG SozR 3100 § 30 Nrn 48 und 64). Das Gesetz geht davon aus, daß grundsätzlich jeder Beschädigte seine noch vorhandene Arbeitskraft voll einzusetzen bereit ist und daß der Arbeitsmarkt, das Tarifrecht und das Beamtenbesoldungsrecht dafür sorgen, daß das, was er tatsächlich verdient, der Betrag ist, den er noch verdienen kann. - Anders ist das bei Selbständigen. Ihr tatsächliches Einkommen hängt nicht nur von der Bereitschaft ab, ihre verbleibende Arbeitskraft voll einzusetzen. Das tatsächliche Einkommen Selbständiger ist von zahlreichen Faktoren abhängig, wie Risikobereitschaft, Arbeits- und Kapitaleinsatz, Konjunktur, strukturelle und regionale Wirtschaftsbedingungen. Bei freischaffenden Künstlern kommen, wie unmittelbar einsichtig ist, noch weitere Faktoren hinzu - Zeitgeschmack, Bekanntheitsgrad uä. Das tatsächliche Einkommen eines beschädigten Selbständigen besagt deshalb nichts Entscheidendes darüber, inwieweit die Schädigungsfolgen dafür ursächlich sind, daß er nicht das Vergleichseinkommen erreicht. Aussagekräftig ist vielmehr der verbliebene Wert der Arbeitskraft. Die Verordnung, die vom Wert der eigenen Arbeitsleistung des Selbständigen spricht, meint daher den Wert des Leistungsvermögens. Es ist damit keine grundsätzlich andere Bewertung gemeint als diejenige, die § 5 BSchAV für die Festlegung des Vergleichseinkommens verlangt. Auch das derzeitige Einkommen eines Selbständigen ist eine Vergleichsgröße. Es ist das Einkommen, das der individuelle Beschädigte als Bewerber um eine unselbständige Berufsstellung wahrscheinlich erzielen würde. Erst diese nach gleichen Kriterien ermittelten Vergleichsgrößen nach § 5 BSchAV und nach § 9 Abs 1 Nr 2 BSchAV erlauben es, soweit es im Rahmen einer pauschalierenden Regelung überhaupt möglich ist, zu einer vertretbaren Einschätzung der durch die Schädigung verursachten Einbuße an wirtschaftlich nutzbarer Arbeitskraft zu gelangen.

Diese Betrachtungsweise verbietet zwar, dem Beschädigten eine bestimmte Tätigkeit mit der entsprechenden Besoldungsgruppe zuzuordnen, ohne nähere Feststellungen über die geistigen und körperlichen Anforderungen der Tätigkeit zu treffen, und davon - evtl entsprechend seiner MdE - einen prozentualen Abschlag vorzunehmen, der im Arbeitsleben nicht vorkommt. Der Verwaltung und auch den Tatsachengerichten ist es aber erlaubt, in freier Würdigung aller Umstände - evtl unter Heranziehung medizinischer und berufskundlicher Sachverständiger -, unabhängig von dem abstrakten MdE-Grad, das trotz Schädigung verbliebene Leistungsvermögen für eine bestimmte Tätigkeit (evtl auch Teilzeittätigkeit) einzuschätzen und dabei auch der Erfahrung Rechnung zu tragen, daß Beschädigte sogar mit einer höheren MdE, als sie der Kläger hat, in vollem Umfange den beruflichen Anforderungen gerecht werden, so daß das Vergleichseinkommen erzielt oder sogar überschritten wird. Dem im Einzelfall dazu erforderlichen höheren Energieaufwand kann - wie im Falle des Klägers bereits geschehen - durch eine nach § 30 Abs 2 BVG erhöhte Grundrente Rechnung getragen werden (vgl dazu BSG SozR 3100 § 30 Nr 29 mwN).

Das LSG hat diese Prüfung noch nicht vorgenommen, sondern sich an das gebunden gefühlt, was die Verwaltung in ihrem früheren Bescheid vom 31. März 1983 für richtig gehalten hat. Da diese Bindung nicht bestand, hat das LSG die Prüfung nachzuholen. Hierbei ist allerdings zu beachten, daß das Ergebnis dieser Prüfung zunächst nicht zu einem Leistungsbetrag führen kann, der geringer ist, als er in dem angefochtenen Bescheid vom 10. Juni 1985 festgesetzt worden ist. Dem steht entgegen, daß die Verwaltung an ihren Bescheid gebunden ist und die Gerichte das sogenannte "Verschlechterungsverbot" zu beachten haben. Falls das LSG eine Einstufung für richtig hält, die für den Kläger ungünstiger ist, hat die Verwaltung allerdings die Befugnis, unter Anwendung des § 48 Abs 3 SGB X den bisher gezahlten Betrag "einzufrieren" (vgl dazu das zur Veröffentlichung vorgesehene Urteil des Senats vom 22. Juni 1988 - 9/9a RV 41/86 -).

Für die Zeit nach der Vollendung des 65. Lebensjahres des Klägers ist das LSG zu Recht davon ausgegangen, daß nicht nur das Vergleichseinkommen, sondern auch das als derzeitiges Bruttoeinkommen festgelegte Einkommen um 25 vH zu kürzen ist. Nur so wird dem durch die Schädigung eingetretenen Verlust an Erwerbs- oder Erwerbsersatzeinkommen hinreichend Rechnung getragen. Daß das Vergleichseinkommen um 25 vH zu kürzen ist, ist in § 8 Satz 1 Nr 1 BSchAV ausdrücklich geregelt. Diese Regelung wird durch die gesetzliche Ermächtigung in § 30 Abs 9 (früher Abs 7) BVG gedeckt (BSG SozR Nr 1 zu § 4 DVO 1964). Dem steht nicht entgegen, daß der Kläger tatsächlich über die Vollendung des 65. Lebensjahres hinaus erwerbstätig geblieben ist. Da bei dem Vergleichseinkommen eines Selbständigen gefragt wird, was er als Beamter wahrscheinlich verdient hätte, ist auch der Tatsache Rechnung zu tragen, daß Beamte im allgemeinen spätestens mit Vollendung des 65. Lebensjahres aus dem aktiven Dienst ausscheiden und anschließend Ruhegehalt von höchstens 75 vH der aktiven Bezüge erhalten. In gleicher Weise ist das nach den oben dargelegten Kriterien ermittelte derzeitige Bruttoeinkommen, die andere Rechengröße, mit Vollendung des 65. Lebensjahres abzusenken. Für den Fall eines vorausgegangenen Nachschadens ist dies in § 8 Satz 1 Nr 1 BSchAV bereits ausdrücklich geregelt und vom Senat als rechtmäßig angesehen worden (BSG SozR 3641 § 8 Nr 1). Aber auch ohne vorangegangenen Nachschaden muß dies gelten, weil es nach der Vollendung des 65. Lebensjahres nur noch um die Ermittlung des Schadens in der Altersversorgung gehen kann. Die Altersversorgung eines zum Vergleich heranzuziehenden beschädigten Arbeitnehmers beträgt aber ebenso wie beim gesunden Arbeitnehmer höchstens 75 vH des letzten Arbeitsentgelts.

Bei dieser Schadensberechnung scheidet jede Anrechnung tatsächlicher Einkünfte aus. Das gilt entgegen der Auffassung des LSG auch für das vom Kläger tatsächlich bezogene Altersruhegeld aus der Rentenversicherung. Das LSG kann sich zwar auf den Wortlaut des § 9 Abs 1 Nr 2 BSchAV stützen, wonach als derzeitiges Bruttoeinkommen die Einnahmen aus einer früheren Tätigkeit gelten. Dazu zählen auch Renten aus den gesetzlichen Rentenversicherungen, allerdings mit Ausnahme der auf freiwilligen, nicht aus dem Einkommen finanzierten Beiträgen beruhenden Rententeilen (vgl § 9 Abs 2 Nr 2 BSchAV). Diese Anrechnung würde neben dem nach den obigen Maßstäben ermittelten schädigungsbedingt geminderten fiktiven Ruhegehalt zu einer Doppelanrechnung führen, weil die fiktive Größe eine Berücksichtigung der konkreten Erwerbsersatzeinkommen ersetzt. Dies ist sachlich gerechtfertigt, weil die tatsächliche Altersversorgung bei Selbständigen ebensowenig wie ihr Erwerbseinkommen etwas darüber besagt, inwieweit die Schädigungsfolgen für die jeweilige Höhe ursächlich sind. Es ist nicht Sinn des Berufsschadensausgleichs bei Selbständigen, eine trotz der Schädigung mögliche, wenn auch verminderte, aber gleichwohl unterlassene Altersvorsorge durch entsprechend höhere Versorgungsleistungen auszugleichen. Neben dem fiktiven geminderten Ruhegehalt bleiben - wie vor Vollendung des 65. Lebensjahres - auch die tatsächlichen Einkünfte außer Betracht, die der Kläger aus seiner fortgesetzten Erwerbstätigkeit bezogen hat. Daraus folgt andererseits wiederum, daß es für den Berufsschadensausgleich keine Bedeutung mehr hat, ob und wann der Kläger seine Erwerbstätigkeit endgültig aufgibt.

Nach erneuter Verhandlung und Entscheidung wird das LSG auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.

 

Fundstellen

BSGE, 283

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