Entscheidungsstichwort (Thema)

Rückwirkende Aufhebung eines begünstigenden Verwaltungsakts. atypischer Fall. Ermessensausübung. Überzahlung von Arbeitslosenhilfe. Ermessensentscheidung

 

Orientierungssatz

1. Die Verwaltung soll in typischen Regelfällen den Verwaltungsakt rückwirkend aufheben, während in atypischen Fällen hiervon ganz oder teilweise abgesehen werden kann, was durch die Ausübung pflichtgemäßen Ermessens geschieht (vgl BSG 26.6.1986 7 RAr 126/84 = SozR 1300 § 48 Nr 25).

2. Es lassen sich keine allgemeinen Regeln aufstellen, wann ein atypischer Fall vorliegt. Maßgebend sind vielmehr die Umstände des Einzelfalles unter Berücksichtigung des Sinnes und Zweckes der Aufhebungsnorm und insbesondere einer aus der Aufhebung folgenden Erstattungspflicht nach § 50 Abs 1 SGB 10, sofern diese als eine besondere Härte empfunden werden kann (vgl BSG 24.3.1983 10 RKg 17/82 = SozR 5870 § 2 Nr 30).

 

Normenkette

SGB 10 § 48 Abs 1 S 2 Fassung: 1980-08-18, § 50 Abs 1 Fassung: 1980-08-18; SGB 1 § 60 Abs 1 S 1 Nr 2

 

Verfahrensgang

LSG Niedersachsen (Entscheidung vom 14.05.1985; Aktenzeichen L 7 Ar 174/84)

SG Osnabrück (Entscheidung vom 05.06.1984; Aktenzeichen S 10 Ar 58/84)

 

Tatbestand

Der 1933 geborene Kläger wendet sich gegen die Aufhebung der Bewilligung von Arbeitslosenhilfe (Alhi) für die Zeit vom 1. August 1982 bis 31. Juli 1983 und gegen die Rückforderung der für diesen Zeitraum gezahlten Leistungen in Höhe von 12.572,80 DM.

Der Kläger ist gelernter Bankkaufmann. Er bezog nach Erschöpfung seines Arbeitslosengeldanspruchs ab 1. Juli 1982 Alhi. Auf eine Bewerbung im Mai/Juni 1982 wurde ihm von der D.L. L. AG (L-AG) in Aussicht gestellt, daß er zu einem späteren Zeitpunkt als Spezialist für Hypotheken- und Finanzierungsfragen angestellt werden sollte. Er einigte sich mit der L-AG dahin, daß er zunächst an einer internen Ausbildung im Versicherungswesen und als freier Mitarbeiter tätig werden sollte. Am 10. August 1982 schloß er mit Wirkung vom 1. August 1982 mit der L-AG einen Vertrag über eine Tätigkeit als selbständiger Handelsvertreter gemäß §§ 84 ff Handelsgesetzbuch (HGB), die er am 30. Juli 1983 beendete. Er hat die Aufnahme dieser Tätigkeit der Beklagten nicht angezeigt und in dem Fragebogen zur Alhi vom 11. April 1983 die Frage, ob er eine selbständige Tätigkeit ausübe, verneint. Nachdem die Beklagte von der Tätigkeit des Klägers erfahren hatte, hob sie mit Bescheid vom 12. Oktober 1983 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20. Januar 1984 ihre Entscheidung über die Bewilligung von Alhi unter Hinweis auf § 48 Sozialgesetzbuch - Verwaltungsverfahren - (SGB 10) mit Wirkung vom 1. August 1982 auf und forderte die seit diesem Zeitpunkt gezahlte Alhi in Höhe von 12.572,80 DM gemäß § 50 SGB 10 zurück.

Die Klage hatte keinen Erfolg (Urteil des Sozialgerichts -SG- Osnabrück vom 5. Juni 1984). Das Landessozialgericht (LSG) hat die erstinstanzliche Entscheidung und die Bescheide der Beklagten aufgehoben. Zur Begründung seines Urteils vom 14. Mai 1985 hat es im wesentlichen folgendes ausgeführt: Nach § 48 Abs 1 Satz 2 SGB 10 solle ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung bei Änderung der Verhältnisse in den dort genannten Fällen mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse aufgehoben werden. Nach Nr 2 dieser Bestimmung sei dies der Fall, soweit der Betroffene einer durch Rechtsvorschrift vorgeschriebenen Pflicht zur Mitteilung wesentlicher für ihn nachteiliger Änderungen der Verhältnisse vorsätzlich oder grob fahrlässig nicht nachgekommen sei. Die wesentliche Änderung in den Verhältnissen, die zur Aufhebung der Alhi-Bewilligung ab 1. August 1982 berechtige, sei darin zu erblicken, daß der Kläger von diesem Zeitpunkt an nicht mehr arbeitslos gewesen und damit eine der Anspruchsvoraussetzungen des § 100 Arbeitsförderungsgesetz (AFG) entfallen sei. Nach § 101 Abs 1 AFG sei arbeitslos ein Arbeitnehmer, der vorübergehend nicht in einem Beschäftigungsverhältnis stehe oder nur eine kurzzeitige Beschäftigung ausübe. Der Arbeitnehmer sei jedoch ua dann nicht arbeitslos, wenn er eine Tätigkeit als Selbständiger ausübe, die die Grenzen des § 102 AFG überschreite. Nach § 102 AFG sei kurzzeitig eine Beschäftigung, die auf weniger als 20 Stunden wöchentlich der Natur der Sache nach beschränkt zu sein pflege oder im voraus durch einen Arbeitsvertrag beschränkt sei; gelegentliche Abweichungen von geringer Dauer blieben unberücksichtigt. Der Kläger habe in dem hier in Betracht kommenden Zeitraum eine Tätigkeit als selbständiger Handelsvertreter übernommen. Zwar habe er nach Nr 11 des Vertretervertrages im wesentlichen seine Tätigkeit frei gestalten und seine Arbeitszeit frei bestimmen können. Es müsse jedoch davon ausgegangen werden, daß die Tätigkeit eines Handelsvertreters, der von den Provisionen seinen Lebensunterhalt bestreiten wolle, mindestens 40 Stunden umfassen müsse. Umstände, die die Tätigkeit des Klägers auf weniger als 20 Wochenstunden der Natur der Sache nach beschränkt haben könnten, seien nicht ersichtlich.

Der Kläger sei seiner durch § 60 Abs 1 Nr 2 Sozialgesetzbuch - Allgemeiner Teil - (SGB 1) vorgeschriebenen Pflicht zur Mitteilung der Aufnahme der selbständigen Tätigkeit zumindest grob fahrlässig nicht nachgekommen. Da hiernach die Voraussetzungen des § 48 Abs 1 Satz 2 Nrn 2 und 4 SGB 10 vorlägen, habe die Beklagte grundsätzlich den Bewilligungsbescheid mit Wirkung vom 1. August 1982 aufheben dürfen. Eine entsprechende Verpflichtung habe für sie jedoch nicht bestanden. Der § 48 Abs 1 Satz 1 SGB 10 mache die Aufhebung des Verwaltungsaktes nur für die Zukunft zur Pflicht; Satz 2 schreibe demgegenüber die Aufhebung für die Vergangenheit nicht zwingend vor, sondern räume der Behörde die Möglichkeit ein, unter bestimmten Umständen von der Aufhebung des Verwaltungsaktes für die Vergangenheit abzusehen. Nach dem Inhalt des angefochtenen Verwaltungsaktes habe die Beklagte von dem ihr rechtlich zustehenden Ermessen keinen Gebrauch gemacht; schon aus diesem Grunde sei der Verwaltungsakt rechtswidrig. Es habe auch auf jeden Fall Veranlassung für eine Betätigung des Ermessens bestanden. Der Kläger habe sich wegen hoher Verschuldungen in einer sehr schlechten Vermögenslage befunden. Er habe im gesamten Jahr seiner selbständigen Tätigkeit Provisionen lediglich in Höhe von 4.496,90 DM erzielt bei einem fast gleich hohen Kostenaufwand. Mit der Aufnahme der Tätigkeit habe er versucht, nach langjähriger Arbeitslosigkeit wieder eine Berufstätigkeit zu finden, die ihm das Arbeitsamt nicht habe vermitteln können. Deshalb könne nicht von der Hand gewiesen werden, daß pflichtgemäße Ermessensausübung zu einem anderen Ergebnis geführt hätte, als es in den angefochtenen Verwaltungsakten festgelegt worden sei.

Mit der Revision rügt die Beklagte eine Verletzung des § 48 SGB 10. Sie ist der Auffassung, die Auslegung des Absatzes 1 dieser Vorschrift durch das LSG, wonach der Behörde die Möglichkeit eingeräumt sei, unter bestimmten Umständen von der Aufhebung eines Verwaltungsaktes mit Wirkung für die Vergangenheit im Wege des Ermessens abzusehen, gehe fehl. Eine derartige Auslegung sei vom Gesetzgeber nicht gewollt, denn sonst hätte er eine entsprechende Regelung ausdrücklich getroffen, wie dies vergleichbar in § 45 Abs 2 SGB 10 geschehen sei.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Landessozialgerichts aufzuheben und die Berufung des Klägers zurückzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision der Beklagten zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-).

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Beklagten ist nicht begründet. Das LSG hat zutreffend erkannt, daß die angefochtenen Bescheide rechtswidrig sind und der Klage daher stattzugeben war.

Die Rechtsauffassung des LSG, daß es der Beklagten nach den tatbestandlichen Voraussetzungen des § 48 Abs 1 Satz 2 SGB 10 eröffnet war, die Alhi-Bewilligung für die Zeit ab 1. August 1982 aufzuheben, trifft auf jeden Fall hinsichtlich der Nr 2 dieser Bestimmung zu. Hiernach soll ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung, um den es hier geht, bei wesentlicher Änderung der tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnisse, die bei seinem Erlaß vorgelegen haben, vom Zeitpunkt der Änderung an, also auch rückwirkend, aufgehoben werden, soweit der Betroffene einer durch Rechtsvorschrift vorgeschriebenen Pflicht zur Mitteilung wesentlicher für ihn nachteiliger Änderungen der Verhältnisse vorsätzlich oder grob fahrlässig nicht nachgekommen ist. Das LSG hat zutreffend erkannt, daß das Aufhebungsrecht nach § 48 Abs 1 Satz 2 SGB 10 durch die Verweisung des § 48 Abs 4 SGB 10 auf § 45 Abs 4 SGB 10 nicht eingeschränkt wird (BSG SozR 5870 § 2 Nr 30; Urteil des Senats vom 26. Juni 1986 - 7 RAr 126/84 -).

Die wesentliche Änderung der Verhältnisse liegt hier in der Aufnahme der Tätigkeit des Klägers als Handelsvertreter am 1. August 1982. Dadurch war er von diesem Zeitpunkt an nicht mehr arbeitslos, und es fehlte damit eine Voraussetzung des § 134 Abs 1 Nr 1 AFG für den Anspruch auf Alhi. Nach § 101 Abs 1 Satz 1 Nr 1 AFG, der gemäß § 134 Abs 4 AFG für die Alhi entsprechend gilt, ist ein Arbeitnehmer ua dann nicht arbeitslos, wenn er eine Tätigkeit als Selbständiger ausübt, die die Grenze des § 102 AFG übersteigt, dh, wenn er nicht nur eine kurzzeitige Tätigkeit ausübt. Dies ist nach der hier maßgeblichen, bis zum 31. Dezember 1985 geltenden Fassung des § 102 Abs 1 AFG dann der Fall, wenn die Tätigkeit nicht auf weniger als 20 Stunden wöchentlich der Natur der Sache nach beschränkt zu sein pflegt oder nicht im voraus vertraglich beschränkt ist.

Nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG, an die der Senat gemäß § 163 SGG gebunden ist, da in bezug auf diese Feststellungen zulässige und begründete Revisionsgründe nicht vorgebracht worden sind, war der Kläger nicht nur kurzzeitig tätig. Eine dahingehende Einschränkung seiner Arbeitszeit ist in dem Vertretervertrag nicht enthalten. Die Tätigkeit des Klägers war der Natur der Sache nach, dh nach ihrer Art, dem Umfange der anfallenden Verrichtungen sowie den zeitlichen Umständen für ihre Erledigung auf eine zeitliche Dauer von mindestens 40 Stunden angelegt, wie das LSG festgestellt hat. Damit war die vom Kläger ausgeübte Tätigkeit nicht kurzzeitig und er vom 1. August 1982 an nicht mehr arbeitslos.

Der Kläger hatte gemäß § 60 Abs 1 Nr 2 SGB 1 die Pflicht, die Aufnahme der selbständigen Tätigkeit dem Arbeitsamt mitzuteilen. Diese Pflicht hat er, wie das LSG zutreffend ausgeführt hat, zumindest grob fahrlässig verletzt. Ihm hätte bei Beachtung der einfachsten Sorgfaltspflichten einleuchten müssen, daß er den Abschluß des Vertretervertrages dem Arbeitsamt anzeigen mußte. Er ist gelernter Bankkaufmann und auf Grund seiner früheren Tätigkeit in wirtschaftlichen und geschäftlichen Dingen sowie im Umgang mit Behörden erfahren. Darüber hinaus hat er, wie er durch seine Unterschrift bestätigt hat, im Juni/Juli 1982 anläßlich seines Antrages auf Alhi das Merkblatt Nr 1 für Arbeitslose erhalten, in dem auf die Mitteilungspflichten im einzelnen hingewiesen ist, und zwar zu einer Zeit, als er bereits mit der L-AG in Vertragsverhandlungen stand. Wenn er dennoch der Beklagten seine Tätigkeit als Handelsvertreter nicht angezeigt hat, hat er, wenn nicht gar bewußt und gewollt, also vorsätzlich, auf jeden Fall seine Anzeigepflicht in einem besonders schweren Maße verletzt und damit grob fahrlässig gehandelt.

Dennoch war die rückwirkende Aufhebung der Bewilligung in den angefochtenen Bescheiden rechtswidrig, wie das LSG im Ergebnis zutreffend erkannt hat. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) soll die Verwaltung in typischen Regelfällen den Verwaltungsakt rückwirkend aufheben, während in atypischen Fällen hiervon ganz oder teilweise abgesehen werden kann, was durch die Ausübung pflichtgemäßen Ermessens geschieht (BSGE 59, 111, 114 ff = SozR 1300 § 48 Nr 19 mwN; BSG SozR 1300 § 48 Nr 21; Urteil des Senats vom 26. Juni 1986 - 7 RAr 126/84 -). Aus den Feststellungen des LSG folgt, daß im vorliegenden Falle Anlaß für eine Ermessensentscheidung der Beklagten bestand. Entgegen der Auffassung der Beklagten liegt hier nicht der Fall einer typischen Leistungsüberzahlung vor, die von den Regelungen des § 48 Abs 1 Satz 2 Nr 2 SGB 10 erfaßt wird. Zwar lassen sich keine allgemeinen Regeln aufstellen, wann ein atypischer Fall vorliegt. Maßgebend sind vielmehr die Umstände des Einzelfalles unter Berücksichtigung des Sinnes und Zweckes der Aufhebungsnorm und insbesondere einer aus der Aufhebung folgenden Erstattungspflicht nach § 50 Abs 1 SGB 10, sofern diese als eine besondere Härte empfunden werden kann (BSGE 59, 111, 116 = SozR 1300 § 48 Nr 19; BSG SozR 1300 § 48 Nr 21; BSG SozR 5870 § 2 Nr 30). Zwar ist der Beklagten einzuräumen, daß die Leistungsüberzahlung allein in den Verantwortungsbereich des Klägers fällt und daß er im Hinblick auf die groben Verstöße gegen seine Mitteilungspflicht und auf Grund seines Kenntnisstandes keinen Vertrauensschutz verdient, wie er in § 48 Abs 1 Satz 1 Nr 2 SGB 10 vorgesehen ist. Dennoch erscheint die mit der Aufhebung des Bewilligungsbescheides für die Vergangenheit verbundene Verpflichtung des Klägers zur Erstattung der zu Unrecht erlangten Alhi im vorliegenden Falle als eine besondere Härte.

Das ist allerdings nicht schon deshalb der Fall, weil der Kläger wegen hoher Verschuldung in einer sehr schlechten Vermögenslage war. Das mag die Beklagte berechtigen, nach den gemäß § 152 Abs 2 AFG anzuwendenden Vorschriften der Niederschlagungsanordnung vom 18. Dezember 1969 (ANBA 1970 S 220) die Stundung oder Niederschlagung der Rückforderung zu veranlassen, weil eine Vollstreckung bei dem Kläger keinen Erfolg verspricht. Indessen ist es kein Ausnahmefall, jemanden, der bereits Schulden hat, zur Begleichung weiterer Schulden zu verpflichten, die er durch grobe Pflichtwidrigkeiten oder unredliches Verhalten verursacht hat.

Ob eine besondere Härte darin zu sehen ist, daß der Kläger die ihm gewährte Alhi zurückzahlen soll, obwohl sich an seiner Bedürftigkeit, die gemäß § 134 Abs 1 Nr 3 AFG Anspruchsvoraussetzung für diese Leistung ist, nach den Feststellungen des LSG praktisch nichts geändert hat, weil den durch die Vertretertätigkeit erzielten Provisionen in Höhe von 4.496,90 DM ein fast gleich hoher Kostenaufwand gegenübersteht, kann dahinstehen. Das gilt ebenfalls dafür, daß dann, wenn der Kläger seiner Verpflichtung der Beklagten gegenüber nachgekommen wäre, er anstelle des Anspruches auf Alhi gemäß § 11 Abs 1 Bundessozialhilfegesetz (BSHG) einen Anspruch auf Hilfe zum Lebensunterhalt hätte haben können, den er nachträglich nicht mehr geltend machen kann, weil Sozialhilfe nicht für die Vergangenheit gewährt wird. Selbst wenn man hierin keine besondere Härte sehen will, dann ändert dies nichts daran, daß hier ein atypischer Fall vorliegt.

Es kann nämlich nicht unberücksichtigt bleiben, daß der Kläger durch die Aufnahme der Tätigkeit als Handelsvertreter eine Chance sah, nach langjähriger Arbeitslosigkeit wieder eine feste Stellung zu finden, die ihm das Arbeitsamt nicht vermitteln konnte. Seinem Verhalten lagen also auch Motive zugrunde, die an sich billigenswert sind, was nicht zuletzt die Regelung des § 55a AFG zeigt, der durch das Siebte Gesetz zur Änderung des Arbeitsförderungsgesetzes vom 20. Dezember 1985 (BGBl I 2484) eingefügt worden ist. Daraus ergab sich aus der Sicht des Klägers zugleich eine Zwangslage. Er mußte bei Anzeige seiner Vertretertätigkeit mit dem Entzug der Alhi rechnen und damit, daß er dann mittellos wäre, da er aus seiner Tätigkeit praktisch keinen wirtschaftlichen Vorteil gezogen hat. Er stand subjektiv also vor der Frage, entweder die Anzeige pflichtgemäß zu erstatten und damit auf die in Aussicht gestellte Stellung als Spezialist für Hypotheken- und Finanzierungsfragen von vornherein zu verzichten und weiterhin arbeitslos zu bleiben, oder die Anzeige pflichtwidrig zu unterlassen und damit eine konkrete Chance für die Beendigung der Arbeitslosigkeit zu haben. Dieser Konflikt und die an sich billigenswerten Motive des Klägers kennzeichnen die Atypik des vorliegenden Falles. Er unterscheidet sich dadurch von Sachverhalten, in denen der Betroffene die zu Unrecht bezogene Leistung allein aus Gewinnstreben behalten will oder weil er die Leistung zu Unrecht allein deswegen weiter bezogen hat, weil er seiner Mitteilungspflicht aus grober Fahrlässigkeit nicht nachgekommen ist. Die zusätzlichen Umstände, die hier zu der Überzahlung geführt haben, lassen eine Aufhebung des Bewilligungsbescheides für die Vergangenheit wegen der hieraus folgenden Erstattungspflicht somit als eine besondere Härte erscheinen. Dies hat zur Folge, daß die Beklagte verpflichtet war, eine Ermessensentscheidung darüber zu treffen, ob und ggf inwieweit sie von ihrem Aufhebungsrecht Gebrauch machen will. Daran fehlt es.

Auszugehen ist vom Inhalt des Aufhebungsbescheides in der Gestalt des Widerspruchsbescheides und seiner Begründung. Daraus muß nicht nur erkennbar sein, daß die Beklagte eine Ermessensentscheidung treffen wollte und getroffen hat, sondern auch die Gesichtspunkte, von denen sie bei der Ausübung des Ermessens ausgegangen ist (vgl BSG Urteil vom 26. Juni 1986 - 7 RAr 126/84). Der angefochtene Bescheid in der Gestalt des Widerspruchsbescheides entspricht diesen Voraussetzungen nicht. Sein Inhalt erhellt, daß die Beklagte eine Ermessensentscheidung nicht getroffen hat, weil sie diese auf Grund ihrer Rechtsauffassung, daß die Aufhebung als gebundene Entscheidung zu ergehen habe, gar nicht treffen wollte. Sie gelangt lediglich unter Hinweis auf die tatbestandlichen Voraussetzungen für ihr Aufhebungsrecht nach § 48 Abs 1 Satz 2 Nr 2 SGB 10 und nach § 50 Abs 1 SGB 10 zu der getroffenen Entscheidung.

Erweist sich danach die angefochtene Aufhebung der Alhi ab 1. August 1982 als rechtswidrig, gilt dies in gleicher Weise für die ausgesprochene Rückforderung der zu Unrecht gezahlten Alhi (§ 50 Abs 1 SGB 10). Die Revision der Beklagten muß deshalb zurückgewiesen werden.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1662842

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