Beteiligte

Kläger und Revisionsbeklagter

Beklagte und Revisionsklägerin

 

Tatbestand

I

Die Beteiligten streiten nur noch darüber, ob die Beklagte die Bewilligung von Kindergeld für den Sohn Joseph (J.) des Klägers für die Zeit von November 1980 bis Juli 1981 rückwirkend aufheben und die auf diesen Zeitraum entfallenden Leistungen in Höhe von 2.040,-- DM zurückfordern durfte.

Der Kläger bezog von der Beklagten für seine 1962, 1965 und 1971 geborenen Kinder J., Rosemarie und Manfred seit 1. Januar 1975 Kindergeld. Die Beklagte berücksichtigte J., der im Oktober 1979 und im Mai 1980 zwei Unfälle erlitten hatte, zunächst nur bis Ende August 1980. Nach Vorlage eines ärztlichen Attestes, wonach J. nach diesem Zeitpunkt nicht fähig gar, sich ohne Hilfe seiner Eltern selbst zu unterhalten, änderte sie mit Bescheid vom 5. März 1981 ihre bisherigen Verwaltungsentscheidungen und berücksichtigte J. gemäß § 2 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 Bundeskindergeldgesetz (BKGG) über August 1980 hinaus.

Mit Bescheid vom 17. Juli 1981 bewilligte die Landesversicherungsanstalt Oberbayern (LVA) aufgrund eines am 15. Januar 1981 gestellten Antrages dem Sohn des Klägers eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit (EU) auf Zeit für die Dauer vom 9. November 1980 bis 31. Juli 1982 in Höhe von zunächst 1.001, 30,-- DM monatlich. Für die Zeit vom 9. November 1980 bis 31. August 1981 ergab sich eine Nachzahlung von 10.071, 70,-- DM. Ab 1. September 1981 zahlte die LVA monatlich 1.041, 90,-- DM aus. Mit Bescheid vom 7. Januar 1982 hob die Beklagte, die von der Rentengewährung im November 1981 erfahren hatte, ihren Bescheid vom 5. März 1981 mit Wirkung vom November 1980 auf und forderte das aufgrund der Berücksichtigung von J. für die Zeit von November 1980 bis Dezember 1981 gezahlte Kindergeld in Höhe von 3.240,-- DM zurück. Der hiergegen erhobene Widerspruch blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 27. Januar 1982).

Mit der Klage hat sich der Kläger zuletzt nur noch gegen die Aufhebung der Bewilligung von Kindergeld für die Monate November 1980 bis einschließlich August 1981 und die Rückforderung der Leistungen für diesen Zeitraum gewendet. Das Sozialgericht (SG) hat der Klage in vollem Umfang stattgegeben und die Berufung, soweit die Aufhebung der Bewilligung des Kindergeldes streitig ist, zugelassen. Auf die Berufung der Beklagten sind das erstinstanzliche Urteil hinsichtlich des Monats August 1981 aufgehoben und die Klage insoweit abgewiesen worden. Im übrigen hat das Landessozialgericht (LSG) die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Durch Bewilligung der EU-Rente sei im Juli 1981 die Unterhaltsbedürftigkeit des J. weggefallen. Damit hätten auch nicht mehr die Voraussetzungen für die Weitergewährung des Kindergeldes gemäß § 2 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 BKGG vorgelegen, so daß die Beklagte berechtigt und verpflichtet gewesen sei, gemäß § 48 Abs. 1 Satz 1 Zehntes Buch des Sozalgesetzbuches (SGB X) ihren Bewilligungsbescheid vom 5. März 1981 für die Zukunft aufzuheben. Die Beklagte habe nach § 48 Abs. 1 Satz 2 SGB X ihren Bewilligungsbescheid grundsätzlich auch rückwirkend aufheben dürfen, jedoch nur für die Zeit ab Änderung der Verhältnisse. Diese Änderung sei indessen frühestens im Juli 1981, nämlich mit der Bekanntgabe des Bescheides über die Gewährung einer EU-Rente für J. eingetreten. Denn wenn der Unterhaltsanspruch für das unterhaltsbedürftige behinderte Kind wegen einer eigenen Rente aus der gesetzlichen Sozialversicherung wegfalle, so komme es nicht auf den Zeitpunkt der Entstehung des Rentenanspruchs i.S. der §§ 38, 40 des Ersten Buchs des Sozialgesetzbuches (SGB I) an, sondern auf den Zeitpunkt der Zustellung des Rentenbescheides. Der kraft Gesetzes entstandene, aber möglicherweise umstrittene oder ungewisse Rentenanspruch befähige das Kind noch nicht zur Bestreitung seines eigenen Unterhaltes. Die Beklagte könne ihren gegenteiligen Standpunkt nicht auf die Regelung in § 48 Abs. 1 Satz 3 SGB X stützen. Insbesondere lasse sich der Fall des § 2 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 BKGG (Berücksichtigung eines behinderten Kindes) nicht mit dem Fall des § 2 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 und Satz 2 BKGG (Berücksichtigung eines in Ausbildung stehenden Kindes) vergleichen. Für den Monat August 1981 hätten die Voraussetzungen des § 48 Abs. 1 Satz 2 SGB X vorgelegen, so daß auf die Berufung der Beklagten das erstinstanzliche Urteil insoweit habe aufgehoben werden müssen.

Mit ihrer Revision rügt die Beklagte einen Verstoß gegen § 48 Abs 1 Satz 2 SGB X i.V.m. § 2 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 BKGG. Entgegen der Annahme des LSG habe für J. in der Zeit von November 1980 bis Juli 1981 kein Anspruch auf Kindergeld nach § 2 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 BKGG bestanden. Die genannte Vorschrift verlange nämlich, daß Unterhaltsbedürftigkeit wegen der Behinderung vorliegen müsse. Dies sei hier aber nicht der Fall gewesen. J. hätte seinerzeit einen materiell-rechtlichen, zur Bestreitung seines Lebensunterhalts ausreichenden Rentenanspruch gehabt, wenn dieser zeitgerecht vom Rentenbeginn an erfüllt worden wäre. Die Aufhebung der Kindergeldbewilligung mit Wirkung vom 1. November 1980 sei nicht etwa deswegen unzulässig gewesen, weil die laufende Rentenzahlung erst zum 1. September 1981 aufgenommen worden sei. § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB X stelle für die Aufhebung nicht auf den Zeitpunkt ab, zu dem das Einkommen erstmals geflossen sei, sondern auf den Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse. Nach § 48 Abs. 1 Satz 3 SGB X gelte in Fällen, in denen Einkommen oder Vermögen auf einen zurückliegenden Zeitraum aufgrund der besonderen Teile des SGB "anzurechnen sei", der Beginn des "Anrechnungszeitraumes" als Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse. Deshalb führe die für den Unterhalt ausreichende Rente eines behinderten Kindes nicht erst vom Beginn der laufenden Rentenzahlung, sondern schon vom Entstehen des Rentenanspruchs an (§ 40 Abs. 1 SGB I) zum Wegfall des Kindergeldanspruchs. Die nachgezahlte Rente müsse somit auf den zurückliegenden Zeitraum i.S. von § 48 Abs. 1 Satz 3 SGB X "angerechnet" werden. Die angefochtenen Verwaltungsentscheidungen seien aber auch nicht deshalb rechtswidrig, weil sie, die Beklagte, es unterlassen habe, im Rahmen einer Ermessensentscheidung darüber zu befinden, ob von der rückwirkenden Aufhebung der Kindergeldbewilligung abzusehen sei. Hier liege kein Ausnahmefall vor, sondern eine für die Anwendung von § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 und Satz 3 SGB X typische Fallgestaltung. Im übrigen sei - trotz des Urteils des erkennenden Senats vom 24. März 1983 - 10 RKg 17/82 - (SozR 5870 § 2 Nr. 30) - noch nicht abschließend geklärt, ob den Behörden und Versicherungsträgern bei der Anwendung des § 48 Abs. 1 Satz 2 SGB X in atypischen Fällen ein Ermessensspielraum zustehe. Der 7. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) habe dies in seinem Urteil vom 12. April 1984 - 7 RAr 34/83 - verneint. Das SG München vertrete in einem Urteil vom 27. Juli 1983 - S 34/Al 145/81, S 34/Al 196/81 - die Ansicht, daß die Verwaltung, immer wenn ein Ausnahmefall vorliege, auch eine Ausnahme machen müsse.

Die Beklagte beantragt, das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 11. November 1983, soweit die Berufung der Beklagten zurückgewiesen wurde, sowie das Urteil des Sozialgerichts München vom 22. Juli 1982 aufzuheben und die Klage in vollem Umfange abzuweisen.

Der Kläger beantragt schriftsätzlich, die Revision zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

II

Der erkennende Senat ist richtig besetzt; denn die ehrenamtlichen Richter sind ordnungsgemäß berufen worden (vgl. den zur Veröffentlichung bestimmten Beschluß des 1. Senats des BSG vom 26. September 1985 - 1 S 12/85 -).

Die Revision der Beklagten führt zur teilweisen Aufhebung des angefochtenen Urteils des LSG und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht, weil die Tatsachenfeststellungen zur Entscheidung über die Rechtmäßigkeit der Bescheide der Beklagten vom 7. und 27. Januar 1982, soweit sie noch angefochten sind, nicht ausreichen.

Zwischen den Beteiligten ist zu Recht unstreitig, daß die Beklagte den Bewilligungsbescheid vom 5. März 1981 für die Zukunft nach § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X aufheben durfte. Nach dieser Vorschrift ist der Verwaltungsakt mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die beim Erlaß eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt. Der Bescheid vom 5. März 1981 ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung; denn mit ihm wurde dem Kläger über August 1980 hinaus für seinen Sohn J. Kindergeld als regelmäßig wiederkehrende Leistung bewilligt. Seit dem Erlaß dieses Verwaltungsaktes ist auch eine wesentliche Änderung in den tatsächlichen und rechtlichen Verhältnissen eingetreten. Ob dies der Fall ist, richtet sich nach dem materiellen Recht. Wesentlich sind alle Änderungen, die dazu führen, daß die Behörde unter den nunmehr objektiv vorliegenden Verhältnissen den Verwaltungsakt nicht hätte erlassen dürfen. Die LVA Oberbayern hat mit Bescheid vom 17. Juli 1981 dem Kläger eine Rente wegen EU auf Zeit für die Dauer vom 9. November 1980 bis 31. Juli 1982 in Höhe von zunächst 1.001, 80 DM bewilligt. Dadurch entfielen - wie zwischen den Beteiligten ebenfalls zu Recht unstreitig feststeht - die Voraussetzungen für die Weitergewährung des Kindergeldes für J. Nach § 2 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 BKGG in der hier anwendbaren Fassung vor Änderung durch Art. 1 Nr. 1 des 9. Gesetzes zur Änderung des BKGG vom 22. Dezember 1981 (BGBl. I S. 1566) - in Kraft getreten am 1. Januar 1982 (Art. 5 des 9. Gesetzes zur Änderung des BKGG) - BKGG a.F. - werden Kinder, die das 18. Lebensjahr vollendet haben, nur berücksichtigt, wenn sie wegen körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung außerstande sind, sich selbst zu unterhalten. Spätestens vom Zeitpunkt der Rentenzahlung an war J. imstande, sich selbst i.S. von § 2 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 BKGG a.F. zu unterhalten. Denn im Rahmen dieser Vorschriften sind nicht nur eigene Einkünfte aus einer, Erwerbstätigkeit, sondern auch eine eigene Rente wegen EU zu berücksichtigen (BSG, Urteil vom 27. April 1978 - 8/12 RKg 14/77 - SozR 5870 § 2 Nr. 10; Wickenhagen/Krebs, BKGG, Komm., § 2 RdNr. 18; Käss/Schroeter, BKGG, Komm., § 2 Anm. 13). Die bewilligte Rente reichte auch aus, um den Lebensunterhalt des J. sicherzustellen.

Für die Entscheidung, ob die Beklagte indessen die Bewilligung des Kindergeldes auch rückwirkend für die Monate ab November 1980 aufheben durfte, reichen die festgestellten Tatsachen nicht aus. Nach der hier allein in Betracht kommenden Vorschrift des § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB X soll der Verwaltungsakt mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse aufgehoben werden, soweit nach Antragstellung oder Erlaß des Verwaltungsaktes Einkommen oder Vermögen erzielt worden ist, das zum Wegfall oder zur Minderung des Anspruchs geführt haben würde. Wie schon dargelegt wurde, hat J. nach Erlaß des Bescheides vom 5. März 1981 Einkommen erzielt, das zum Wegfall des Anspruchs auf Kindergeld geführt haben würde (§ 2 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 BKGG a.F. i.V.m. § 9 Abs. 1 BKGG). Dabei kommt es nicht darauf an, daß die Rente wegen EU dem J. gewährt worden ist und nicht der Kläger selbst als Kindergeldanspruchsberechtigter das Einkommen erzielt hat; denn die Vorschrift des § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB X stellt lediglich darauf ab, daß das Erzielen von Einkommen oder Vermögen zum Wegfall oder zur Minderung des Anspruchs geführt haben würde (Urteil des erkennenden Senats vom 24. März 1978, a.a.O.).

Die Änderung der Verhältnisse ist aber nicht erst mit dem Tag der Bekanntgabe des Bewilligungsbescheides oder der Auszahlung der EU-Rente eingetreten. Als Zeitpunkt der Änderung muß vielmehr der 1. November 1980 angenommen werden.

Dabei kann dahinstehen, ob mit der Beklagten anzunehmen ist, daß die Voraussetzungen für den Anspruch auf Kindergeld von diesem Zeitpunkt an schon deshalb entfallen waren, weil J. nunmehr nicht mehr wegen der Behinderung, sondern infolge der Verzögerung bei der Rentenbewilligung außerstande war, sich selbst zu unterhalten.

Daß die wesentliche Änderung am 1. November 1980 eingetreten ist, folgt jedenfalls aus der Anwendung des § 48 Abs. 1 Satz 3 SGB X auf die Fälle des § 2 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 BKGG a.F. und n.F., in denen der Unterhaltsbedarf infolge einer Rentengewährung entfällt und damit der Anspruch auf Kindergeld erlischt. Nach § 48 Abs. 1 Satz 3 SGB X gilt als Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse in Fällen, in denen Einkommen oder Vermögen auf einen zurückliegenden Zeitraum aufgrund der besonderen Teile dieses Gesetzbuches anzurechnen ist, der Beginn des Anrechnungszeitraumes. Die Norm bezweckt, den Bezug von Sozialleistungen auch für einen Zeitraum rückgängig zu machen, für den die Änderung der Verhältnisse, z.B. die Bewilligung einer anderen Leistung, noch nicht eingetreten war. Dies geschieht im Wege der Fiktion ("gilt"). Nach ihrem Wortlaut setzt die Vorschrift voraus, daß das erzielte Einkommen i.S. von § 48 Abs. 1 Satz 3 SGB X nach Bestimmungen in besonderen Teilen des SGB anzurechnen ist. Eine solche Regelung enthält beispielsweise § 183 Abs. 5 Satz 1 RVO. § 48 Abs. 1 Satz 3 SGB X ist jedoch nicht nur dann anzuwenden, wenn besondere Teile des SGB dies ausdrücklich vorschreiben, indem sie Begriffe wie "anrechnen" oder "kürzen" verwenden. Nach dem Sinn und Zweck der Vorschrift soll insbesondere auch in den Fällen ein früherer Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse fingiert werden, in denen rückwirkend eine Sozialleistung bewilligt wird, die bei "rechtzeitiger" Bewilligung die Gewährung einer anderen Sozialleistung ausgeschlossen hätte. Ein solcher Fall liegt hier vor. Die Berücksichtigung eines behinderten Kindes nach § 2 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 BKGG a.F. und n.F. setzt einen Unterhaltsbedarf voraus. Hat das Kind Anspruch auf eine Rente und wird diese sofort mit der Entstehung des Rentenanspruchs bewilligt, so entfällt - bei entsprechender Höhe der Rente - der Anspruch auf Kindergeld. Erfolgt die Bewilligung der Rente rückwirkend für einen bestimmten Zeitraum, so kommt es zu einem Doppelbezug von Sozialleistungen, der grundsätzlich vermieden werden soll. Dieser Doppelbezug kann rückgängig gemacht werden, indem die Bewilligung des Kindergeldes für die Vergangenheit aufgehoben wird. Das BKGG schließt dies nicht aus. Beginn des Anrechnungszeitraums i.S. von § 48 Abs. 1 Satz 3 SGB X ist in solchen Fällen der Beginn des Bezugszeitraums der rückwirkend bewilligten zweiten Sozialleistung.

Richtig ist zwar, daß hier der Unterhaltsbedarf im zurückliegenden Zeitraum zunächst mit dem Kindergeld bestritten werden mußte und daß die andere Sozialleistung - die Rente wegen EU - nicht zur Verfügung stand. Das ist aber auch bei den vom Gesetz ausdrücklich geregelten Fällen der Anrechnung von Sozialleistungen, z.B. der Kürzung des Krankengeldes um den Betrag der nachträglich bewilligten Rente wegen BU (§ 183 Abs. 5 Satz 1 RVO), nicht anders. § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB X bringt zum Ausdruck, daß der Verbleib der Leistung dann nicht als gerechtfertigt anzusehen ist, wenn nachträglich Einkommen oder Vermögen erzielt worden ist, das zum Wegfall oder zur Minderung der Anspruchsberechtigung geführt haben würde. Diese Intention des Gesetzes läßt sich am besten verwirklichen, wenn der Begriff "anrechnen" in § 48 Abs. 1 Satz 3 SGB X erweiternd ausgelegt wird.

Sind damit die Voraussetzungen für eine rückwirkende Aufhebung des Bewilligungsbescheides vom 5. März 1981 an sich gegeben, so steht aber noch nicht fest, ob die angefochtenen Bescheide rechtmäßig sind. Nach § 48 Abs. 1 Satz 2 SGB X s o l l der Verwaltungsakt mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse aufgehoben werden, soweit einer der in den Nrn. 1 bis 4 genannten Tatbestände vorliegt. Der Gesetzgeber hat bewußt das Wort "soll" und nicht das Wort "muß" verwendet (vgl. dazu BT-Drucks. 8/2034, S. 35). Die Behörde ist daher nicht in jedem Falle gezwungen, einen Verwaltungsakt bei Änderung der Verhältnisse rückwirkend aufzuheben. Dies muß zwar in der Regel geschehen. Ausnahmsweise kann aber davon abgesehen werden (vgl. hierzu BSG SozR 5870 § 2 Nr. 30; BSGE 35, 267, 270; Wiesner in Schroeder-Printzen/Engelmann/Wiesner/von Wulffen, § 48 Anm. 6; Pickel, Das Verwaltungsverfahren, Komm. zum SGB X, § 48 Anm. 4; s. ferner BVerwGE 12, 284, 285 zu § 115 Abs. 1 Bundesbeamtengesetz - BBG -). Der Behörde wird dadurch ein Ermessen eingeräumt (Urteil des erkennenden Senats vom 24. März 1983, a.a.O.; BVerwGE 12, 284, 287; 20 117, 118; 49, 16, 23; Jahn, SGB X, Komm., § 48 RdNr. 16). Das Ermessen erstreckt sich allerdings nur auf die Frage, was im Ausnahmefalle zu geschehen hat, nämlich ob der Verwaltungsakt ganz oder teilweise aufgehoben oder von einer Aufhebung abgesehen werden soll. Dagegen ist die Frage, ob ein Ausnahmefall vorliegt, nicht Teil der Ermessensentscheidung (vgl. hierzu BVerwGE 12, 284, 287 ff.). Das "soll" enthält keine doppelte Ermessenseinräumung (in welchen Fällen und in welchem Umfang); das Ermessen ist vielmehr nur hinsichtlich des Umfangs eingeräumt und setzt erst ein, wenn ein atypischer Fall vorliegt. Anderenfalls müßte die Behörde bei der Anwendung des § 48 Abs. 1 Satz 2 SGB X stets zunächst eine Ermessensentscheidung darüber treffen, ob ein atypischer Fall vorliegt oder nicht und dies auch begründen (vgl. § 35 Abs. 1 SGB X; Engelmann in Schroeder-Printzen/§ 35 Anm. 2.2.). Diese Auffassung hätte die weitere Konsequenz: Jede Aufhebung eines Verwaltungsakts nach § 48 Abs. 1 Satz 2 SGB X wäre auch bei einem typischen Fall rechtswidrig, wenn in der Verwaltungsentscheidung nichts zur Frage einer möglichen Atypik des Falles gesagt ist. Dies würde die Handhabung des § 48 Abs. 1 Satz 2 SGB X erheblich erschweren und die gerichtliche Überprüfbarkeit der Verwaltungsentscheidungen für Ausnahmefälle in sonst nicht üblicherweise einschränken.

Der erkennende Senat weicht mit der hier vertretenen Auslegung des § 48 Abs. 1 Satz 2 SGB X nicht von dem Beschluß des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes vom 19. Oktober 1971 - GmS-OGB 3/70 - (NJW 1972, 1411) ab. Der Gemeinsame Senat hatte über die Auslegung des § 131 Abs. 1 Satz 1 der Abgabenordnung (AO) zu entscheiden, in der zwischen einem unbestimmten Rechtsbegriff ("unbillig") und der Folge "können" eine unlösbare Verbindung besteht. In dem zitierten Beschluß ist angenommen worden, daß in solchen Fällen der unbestimmte Rechtsbegriff in den Ermessensbereich hineinragt und damit zugleich Inhalt und Grenzen der pflichtgemäßen Ermessensausübung bestimmt (GmS, NJW 1972, 1413 - sog. Koppelungsvorschrift -). Eine derartige enge unlösbare Verbindung ist jedoch nicht stets beim Zusammentreffen eines unbestimmten Rechtsbegriffs mit einer Ermessenseinräumung anzunehmen (vgl. z.B. BSGE 32, 46, 50f. und 43, 153, 158). Es kommt nämlich auf den Zweck der jeweiligen Vorschrift und die Art der verwendeten unbestimmten Rechtsbegriffe an. Die Fragen, ob ein atypischer Fall vorliegt und die Behörde von der rückwirkenden Aufhebung des Verwaltungsakts absehen soll, sind nicht unlösbar miteinander verbunden, sondern können und müssen auch nach dem Zweck der Vorschrift getrennt behandelt werden. Der Gesetzgeber wollte es nicht in die nur beschränkt überprüfbare Ermessensentscheidung der Verwaltung stellen, ob ein Ausnahmefall gegeben ist.

Wann ein atypischer Fall vorliegt, in dem die Behörde eine Ermessensentscheidung darüber zu treffen hat, ob der Verwaltungsakt mit Dauerwirkung rückwirkend aufgehoben wird, kann nicht allgemein gesagt werden. Es wird dabei stets auf den Zweck der jeweiligen Regelungen des § 48 Abs. 1 Satz 2 SGB X und die Umstände des Einzelfalles ankommen. Diese müssen in Hinblick auf die mit der rückwirkenden Aufhebung des Verwaltungsakts verbundenen Nachteile, insbesondere der aus § 50 Abs. 1 SGB X folgenden Pflicht zur Erstattung der erbrachten Leistungen, vom Normalfall z.B. derart abweichen, daß der betroffene Leistungsempfänger in besondere Bedrängnis gerät. Hierfür genügt aber nicht die mit jeder Rückforderung verbundene Härte. Liegt ein Ausnahmefall vor, so bleibt der Behörde - entgegen der im Urteil des SG München vom 27. Juli 1983, S. 34/Al 145/81, S. 34/Al 196/81, vertretenen Ansicht - die Möglichkeit, den Verwaltungsakt gleichwohl rückwirkend aufzuheben. Bei Ausnahmefällen bestimmter Art mag sich das Ermessen auf Null reduzieren und für die Behörde dadurch. die Möglichkeit zu einer Aufhebung des Verwaltungsakts für die Vergangenheit entfallen. Das muß aber nicht immer der Fall sein. Es sind durchaus atypische Fälle denkbar, in denen ein Ermessensspielraum verbleibt.

Der erkennende Senat ist nicht verpflichtet, im Hinblick auf das Urteil des 7. Senats des BSG vom 12. April 1984 - 7 RAr 34/83 - die Rechtssache wegen der Auslegung des § 48 Abs. 1 Satz 2 SGB X dem Großen Senat des BSG vorzulegen. Der 7. Senat hat auf Anfrage mit Beschluß vom 27. August 1985 u.a. mitgeteilt, daß seine Ausführungen zu § 48 Abs. 1 SGB X nicht zu den tragenden Gründen des Urteils vom 12. April 1984 gehören. Eine Abweichung i.S. von § 42 SGG liegt damit nicht vor (BSGE 51, 23, 25).

Ob im vorliegenden Falle eine zur Ermessensausübung verpflichtende Atypik gegeben ist, konnte der Senat aufgrund der vom LSG getroffenen Tatsachenfeststellungen nicht entscheiden. Anhaltspunkte für das Vorliegen eines Ausnahmefalles ergeben sich einmal aus dem Widerspruchsschreiben des Klägers vom 12. Januar 1982. Zum anderen könnte der Fall aber auch deshalb atypisch sein, weil die Beklagte nach den Feststellungen des LSG erst im November 1981 davon erfuhr, daß dem J. eine Rente wegen EU auf Zeit bewilligt worden war. Möglicherweise ist die Nachzahlung für die Zeit vom 9. November 1980 bis 31. August 1981 zum Zeitpunkt der Anhörung des Klägers bereits verbraucht gewesen. Sollte das der Fall sein, so könnten die rückwirkende Aufhebung des Bewilligungsbescheides vom 5. März 1981 und die Rückforderung eines Betrages von über 2.000,-- DM den Kläger in besondere Bedrängnis bringen. Das LSG wird hierzu und zu den wirtschaftlichen Verhältnissen des Klägers zum Zeitpunkt des Erlasses der angefochtenen Bescheide ergänzende Feststellungen treffen müssen.

Die abschließende Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens bleibt dem LSG vorbehalten.10 RKg 3/84

Bundessozialgericht

Verkündet am

6. November 1985

 

Fundstellen

BSGE, 111

NJW 1987, 1222

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