Entscheidungsstichwort (Thema)

Unternehmen der Landwirtschaft. Erntearbeit. Kirschenpflücken. Verwertung der Früchte

 

Orientierungssatz

1. In einem landwirtschaftlichen Unternehmen steht das Abernten von Früchten unabhängig davon unter Versicherungsschutz, ob diese hernach im eigenen Betrieb, im eigenen Haushalt, durch Verkauf oder durch Vernichtung verwertet werden, wenn nur die Erntetätigkeit selbst planvolle landwirtschaftliche Betriebstätigkeit ist.

2. Ein Nebenerwerbslandwirt steht beim Abernten von Obst unter dem Schutz der landwirtschaftlichen Unfallversicherung, wenn es dem planmäßigen Abschluß der Gewinnung von Bodenerzeugnissen dient; das Ernten von geringen Mengen zum baldigen Verzehr ist dagegen dem eigenwirtschaftlichen, nicht unfallversicherungsrechtlich geschützten Bereich zuzurechnen.

 

Normenkette

RVO § 539 Abs 1 Nr 5, § 777 Nr 1

 

Verfahrensgang

LSG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 24.04.1986; Aktenzeichen L 10 U 2590/85)

SG Freiburg i. Br. (Entscheidung vom 02.08.1985; Aktenzeichen S 3 U 210/85)

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten darüber, ob der Kläger einen Arbeitsunfall erlitten hat. Sozialgericht (SG) und Landessozialgericht (LSG) haben dies bejaht.

Der Kläger ist als Nebenerwerbslandwirt Mitglied der beklagten Berufsgenossenschaft (BG). Am Unfalltag, einem Sonntag, pflückte er zwischen 19.00 und 20.00 Uhr Kirschen auf seinen landwirtschaftlich genutzten Grundstücken. Bereits vier Tage zuvor hatte der Kläger den größten Teil der Kirschen abgeerntet und die Leiter am Baum stehen lassen. Nunmehr sollte ein Rest von ca 6 kg gepflückt werden, um das Obst, wie den früheren Ernteertrag, überwiegend als Vorrat einzuwecken und zum kleineren Teil "so zu essen". Nachdem der Kläger ca 3 kg Kirschen gepflückte hatte, stürzte er von der Leiter und zog sich schwere Verletzungen zu.

Die Beklagte lehnte durch Bescheid vom 5. Oktober 1984 die Entschädigung des Unfalls als Arbeitsunfall ab. Beim Ernten geringer Mengen Obst handele es sich in der Regel um eine unversicherte hauswirtschaftliche Tätigkeit. Auf den abschlägigen Widerspruchsbescheid der Beklagten vom 19. Dezember 1984 erhob der Kläger Klage beim SG. Dieses hat durch Urteil vom 2. August 1985 festgestellt, die Beklagte sei für den Arbeitsunfall des Klägers entschädigungspflichtig. Auch das Abernten geringer Mengen Kirschen im Rahmen ordnungsgemäßer Bewirtschaftung der Obstbäume stehe unter Versicherungsschutz.

Das LSG hat die Berufung der Beklagten durch Urteil vom 24. April 1986 zurückgewiesen. Das Kirschenpflücken sei eine planvolle landwirtschaftliche Betriebstätigkeit gewesen und kein spontanes Pflücken zum sofortigen Verzehr. Das LSG hat die gesetzliche Krankenkasse, bei welcher der Kläger Mitglied ist, zum Rechtsstreit beigeladen.

Die Beklagte hat die vom LSG zugelassene Revision eingelegt. Sie meint, die unfallbringende Tätigkeit des Klägers sei nicht als Erntetätigkeit zu werten. Die geringe Menge noch zu pflückender Kirschen sei ausschließlich zur Verwendung im Haushalt bestimmt gewesen. Dazu zählten Eigenverzehr und Einwecken. Der Haushalt des Klägers sei aber nicht mitversichert.

Die Beklagte beantragt, das Urteil des Landessozialgerichts Baden- Württemberg vom 24. April 1986 sowie das Urteil des Sozialgerichts Freiburg vom 2. August 1985 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger stellt keinen Antrag; er schließt sich der von SG und LSG vertretenen Auffassung an.

Die Beigeladene stellt ebenfalls keinen Antrag.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz -SGG-) einverstanden erklärt.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist nicht begründet. Der erkennende Senat ist mit SG und LSG der Auffassung, daß der Kläger einen Arbeitsunfall erlitten hat.

Nach § 548 Abs 1 Satz 1 Reichsversicherungsordnung (RVO) ist ein Arbeitsunfall ua ein Unfall, den ein Unternehmer erleidet, der Mitglied einer landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaft (BG) ist (§ 539 Abs 1 Nr 5 RVO). Dieses Mitgliedschaftsverhältnis ist hier gegeben. Streitig ist der Umfang des Versicherungsschutzes. Dieser erstreckt sich gemäß § 539 Abs 1 Nr 5 RVO ("soweit") iVm § 776 Abs 1 Nr 1 RVO ua auf das Unternehmen der Landwirtschaft. Der Begriff des "Unternehmens der Landwirtschaft" ist im Gesetz selbst nicht beschrieben. Zur Landwirtschaft wird nach allgemeiner Auffassung im wesentlichen die Bodenbewirtschaftung gezählt (vgl RVA AN 37, 301; BSG SozR Nr 7 zu § 776 RVO). Ein bedeutsamer Teil der auf die Gewinnung von Bodenerzeugnissen gerichteten Bodenbewirtschaftung ist deren Aberntung. Das Ernten von Früchten eines Baumes ist regelmäßig als Abschluß der von dem Ernteberechtigten ausgeübten landwirtschaftlichen Tätigkeit zu betrachten (RVA EuM 25, 27; BSGE 19, 117). Es handelt sich insoweit um eine typisch landwirtschaftliche Tätigkeit, die dem Unternehmen dient und für das Unternehmen erforderlich ist (BSG, SozR 2200 § 776 Nr 2). Sie ist daher im allgemeinen gem § 776 Abs 1 Nr 1 RVO geschützt.

Im Einzelfall beurteilt sich der Versicherungsschutz für die unfallbringende Verrichtung nach den zu den §§ 548 ff RVO entwickelten allgemeinen Grundsätzen unter Beachtung der aus § 777 Nr 1 RVO folgenden Besonderheit für den landwirtschaftlichen Haushalt (Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 10. Aufl, S 494, 494c, 480p). Danach ist maßgeblich, ob die unfallbringende Tätigkeit im Betriebsinteresse oder zu privaten Zwecken vorgenommen wurde. Das Reichsversicherungsamt (RVA) und einige Instanzgerichte haben in diesem Zusammenhang das Pflücken geringer Mengen Obst zum alsbaldigen Verzehr dem eigenwirtschaftlichen Bereich zugeordnet (RVA EuM 25, 27; LSG Rheinland-Pfalz SGb 1971, 283; Breithaupt 1982, 759; und 1984, 40; Bayerisches LSG vom 17. Juli 1984 - L 3 U 47/84 -). Der 8. Senat des BSG hat entschieden, daß das Ernten von Gemüse für das darauffolgende Abend- oder Mittagessen der Befriedigung von Haushaltsbedürfnissen diene und darum kein Abernten zum Zwecke ordnungsgemäßer Ausübung des landwirtschaftlichen Betriebs sei (BSG SozR 2200 aaO). Die Literatur hat sich dieser Auffassung angeschlossen (Brackmann, aaO, S 494b; Lauterbach/Watermann, Unfallversicherung, 3. Aufl, Anm 5 Buchst a zu § 776; Boller SV 1969, 212, 214); das LSG hat sie seiner Entscheidung richtig zugrunde gelegt.

Das LSG hat in dem vorliegenden Streitfall zutreffend entschieden, daß der Kläger das fragliche Kirschenpflücken zur planvollen endgültigen Aberntung seines Obstbaums unternommen hat. Nach den unangegriffenen Feststellungen, die für den Senat bindend sind (§ 163 SGG), pflückte der Kläger zum Unfallzeitpunkt den an seinem Kirschbaum verbliebenen Rest reifer Früchte. Er hatte das Abernten vier Tage zuvor begonnen und nicht beendet; er hatte vielmehr die benutzte Leiter stehen lassen, um die Arbeit später fortzusetzen. Das LSG weist mit Recht darauf hin, daß die Verteilung der landwirtschaftlichen Arbeiten auf mehrere Feierabende bzw Wochenenden charakteristisch ist für die Betriebstätigkeit des Nebenerwerbslandwirts. Die Beklagte hat dagegen zulässige und begründete Revisionsgründe nicht vorgebracht. Sie räumt ein, daß der Kläger das Pflücken zunächst lediglich "in der Hauptsache" und dann in einer "kleineren Menge" durchgeführt hat. Aufgrund der dargestellten Umstände war das Pflücken ein planmäßiges Abernten, welches dem Unternehmen diente und aus Betriebsinteresse heraus unternommen wurde.

Entgegen der Meinung der Beklagten kommt es auf die wirtschaftliche Verwertung der Ernte, hier: Verwendung im Haushalt, für die rechtliche Bewertung der Erntetätigkeit jedenfalls nicht in dem Sinne an, wie dies die Revision geltend macht. Soweit sie sich auf Rechtsprechung beruft, derzufolge der "alsbaldige Verzehr geringer Obstmengen" (RVA aaO) das vorhergehende Abpflücken als eigenwirtschaftliche Tätigkeit kennzeichnet, braucht der Senat dazu keine Stellung zu nehmen; denn im vorliegenden Rechtsstreit geht es um einen anderen Sachverhalt. Das LSG hat festgestellt, daß die Kirschen überwiegend als Wintervorrat eingeweckt werden sollten. Diese konservierende Verarbeitung begründet die Annahme, daß ein alsbaldiger Verzehr gerade nicht beabsichtigt war. Die Be- und Verarbeitung eigener Erzeugnisse im unmittelbaren Anschluß an deren Gewinnung wird dagegen üblicherweise zur landwirtschaftlichen Betriebstätigkeit gerechnet (BSGE 27, 233; 235/236; BSG SozR Nr 1 zu § 915 aF RVO; BSG SozR 2200 § 776 Nr 1; BSG Urteil vom 15. Juni 1976 - 2 RU 141/75 -). Dabei kann hier offenbleiben, ob jede mögliche Verarbeitung von Früchten in der gesetzlichen Unfallversicherung versichert ist (BSG vom 15. Juni 1976 aaO). Jedenfalls aber steht das Abernten der Früchte unabhängig davon unter Versicherungsschutz, ob diese hernach im eigenen Betrieb, im eigenen Haushalt, durch Verkauf oder durch Vernichtung verwertet werden (BSG SozR Nr 1 zu S 915 aF RVO; Lauterbach/Watermann aaO, Anm 5 Buchst a zu § 776; RVA-Mitglieder, Handbuch der Unfallversicherung, Bd 2, 3. Aufl 1909, Anm 9 zu § 1 LUVG; LSG Hamburg Urteil vom 24. April 1967 - IV UBf 68/66 -; Boller aaO S 213), wenn nur die Erntetätigkeit selbst planvolle landwirtschaftliche Betriebstätigkeit war. Dies war aufgrund der oben dargestellten Umstände der Fall. Nicht zu entscheiden war, ob der Haushalt des Klägers als solcher als Teil des landwirtschaftlichen Unternehmens (§ 777 Nr 1 RVO) versichert ist.

Die Revision war gemäß § 170 Abs 1 Satz 1 SGG als unbegründet zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1666193

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