Beteiligte

…, Kläger und Revisionsbeklagter

…, Beklagte und Revisionsklägerin

 

Tatbestand

I.

Die Beteiligten streiten darüber, ob der Kläger einen Arbeitsunfall erlitten hat und von der Beklagten zu entschädigen ist.

Der Kläger ist als Nebenerwerbslandwirt Mitglied der beklagten Berufsgenossenschaft (BG). Hauptberuflich ist er Chemiearbeiter und bei der Beigeladenen krankenversichert.

Am 22. August 1984 verunglückte er beim Apfelpflücken. Er stürzte von der Leiter zu Boden und zog sich eine offene Unterschenkeltrümmerfraktur links zu. An diesem Tage wollte der Kläger die letzten ca 20 kg Klaräpfel von dem Baum pflücken, von dem er an den vorhergehenden Tagen schon eine Menge von ca 3 1/2 Zentnern geerntet hatte. Die Hauptmenge war für den Verkauf bestimmt, die Restmenge sollte dem privaten Verbrauch zugeführt und - soweit sie nicht alsbald hätte verzehrt werden können - an die Schweine verfüttert werden.

Die Beklagte lehnte eine Entschädigung des Unfalls als Arbeitsunfall ab (Bescheid vom 8. März 1985). Das Pflücken einer geringen Menge Äpfel zum alsbaldigen Verbrauch stelle keine landwirtschaftliche Tätigkeit im Sinne eines betrieblichen Aberntens dar, sondern sei als eigenwirtschaftliche, dem privaten Lebensbereich zuzurechnende Tätigkeit anzusehen, für die in der gesetzlichen Unfallversicherung grundsätzlich kein Versicherungsschutz bestehe. In ihrem Widerspruchsbescheid vom 18. Juni 1985 führte die Beklagte ergänzend aus, es sei auch unerheblich, daß es sich um den Rest der Ernte gehandelt habe. Das Sozialgericht (SG) Freiburg hat die Klage mit Urteil vom 7. Februar 1986 abgewiesen, weil die unfallbringende Tätigkeit nicht der Landwirtschaft, sondern der Beschaffung von Nahrungsmitteln für den nicht mitversicherten Haushalt gedient habe.

Das Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg hat dieses Urteil aufgehoben und die Beklagte unter Aufhebung der angefochtenen Bescheide dem Grunde nach verurteilt, den Kläger wegen der Folgen des Arbeitsunfalles vom 22. August 1984 nach den gesetzlichen Vorschriften zu entschädigen (Urteil vom 9. April 1987). Bei dem Apfelpflücken habe es sich um einen einheitlichen Erntevorgang gehandelt, der nicht anders zu beurteilen sei, als wenn der Kläger die Ernte an einem einzigen Tag durchgeführt und von dem Erntegut schließlich einen Teil zum persönlichen Verzehr entnommen hätte. Bei der Restmenge von 20 kg habe es sich zwar um eine geringfügige, für den alsbaldigen Verzehr bestimmte Menge gehandelt, doch stehe dem eigenwirtschaftlichen Charakter der unfallbringenden Tätigkeit das betriebliche Interesse an der Aberntung des gesamten Fruchtstandes zumindest gleichwertig gegenüber.

Die Beklagte hat die vom LSG zugelassene Revision eingelegt. Sie meint, die Frage des Versicherungsschutzes müsse sich nach der Zweckbestimmung der unfallbringenden Tätigkeit richten. Beim Pflücken geringer Obstmengen zum alsbaldigen Verzehr könne nach dem Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 27. Januar 1976 (SozR 2200 § 776 Nr 2) nicht von einer landwirtschaftlichen Tätigkeit im Sinne einer planmäßigen Aberntung gesprochen werden. Im übrigen komme - wie das LSG zutreffend ausgeführt habe - Versicherungsschutz nach § 777 Nr 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) nicht in Betracht, weil die Haushaltung des Klägers nicht mitversichert sei.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 9. April 1987 aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Freiburg vom 7. Februar 1986 zurückzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision der Beklagten zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend und meint, das von der Beklagten zitierte Urteil des BSG sei eher geeignet, seine Ansicht zu stützen.

Die Beigeladene beantragt ebenfalls,

die Revision der Beklagten zurückzuweisen.

Sie vertritt die Ansicht, daß es grundsätzlich unerheblich sei, ob das gewonnene Obst für den eigenen Haushalt oder zur Verwertung im Handel bestimmt sei. Abzustellen sei vielmehr darauf, ob es sich um eine Erntetätigkeit gehandelt habe, die unfallversicherungsrechtlich stets geschützt sei.

 

Entscheidungsgründe

II.

Die Revision der Beklagten ist nicht begründet. Der erkennende Senat ist mit dem LSG der Auffassung, daß der Kläger einen Arbeitsunfall erlitten hat und dementsprechend zu entschädigen ist.

Nach § 548 Abs 1 Satz 1 RVO ist ein Arbeitsunfall ein Unfall, den ein Unternehmer erleidet, der Mitglied einer landwirtschaftlichen BG ist (§ 539 Abs 1 Nr 5 RVO). Dieses Mitgliedschaftsverhältnis ist hier gegeben. Streitig ist der Umfang des Versicherungsschutzes. Dieser erstreckt sich gemäß § 539 Abs 1 Nr 5 RVO ("soweit") iVm § 776 Abs 1 Nr 1 RVO ua auf das Unternehmen der Landwirtschaft. Zur Landwirtschaft wird nach allgemeiner Auffassung im wesentlichen die Bodenbewirtschaftung gezählt (BSG SozR Nr 7 zu § 776 RVO). Ein bedeutsamer Teil der auf die Gewinnung von Bodenerzeugnissen gerichteten Bodenbewirtschaftung ist deren Aberntung. Das Ernten von Früchten eines Baumes ist regelmäßig als Abschluß der von dem Ernteberechtigten ausgeübten landwirtschaftlichen Tätigkeit zu betrachten (RVA EuM 25, 27; BSGE 19, 117, 118; SozR 2200 § 776 Nr 2; Urteil des erkennenden Senats vom 26. Mai 1937 - 2 RU 25/86 -, HV-INF0 1987, 1443 - 1446). Diese Tätigkeit ist daher im allgemeinen gemäß § 776 Abs 1 Nr 1 RVO geschützt.

Im Einzelfall beurteilt sich der Versicherungsschutz für die unfallbringende Verrichtung nach den zu §§ 548 ff RVO entwickelten allgemeinen Grundsätzen unter Beachtung der aus § 777 Nr 1 RVO folgenden Besonderheit für den landwirtschaftlichen Haushalt (vgl Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 10. Aufl S 494, 494c). Danach ist maßgeblich, ob die unfallbringende Tätigkeit im Betriebsinteresse oder zu privaten Zwecken vorgenommen wurde. Das Reichsversicherungsamt (RVA) und einige Instanzgerichte haben in diesem Zusammenhang das Pflücken geringer Mengen Obst zum alsbaldigen Verzehr dem eigenwirtschaftlichen Bereich zugeordnet (RVA EuM 25, 27; LSG Rheinland-Pfalz SGb 1971, 283, Breithaupt 1982, 759 und 1984, 40; Bayerisches LSG vom 17. Juli 1984 - L 3 U 47/84 -). Der - für die Unfallversicherung nicht mehr zuständige - 8. Senat des BSG hat entschieden, daß das "Holen" von Gemüse für das darauffolgende Abend- oder Mittagessen der Befriedigung von Haushaltsbedürfnissen diene und darum kein Abernten zum Zwecke ordnungsgemäßer Ausübung des landwirtschaftlichen Betriebs sei (BSG SozR 2200 aaO). Die Literatur hat sich dieser Auffassung angeschlossen (vgl Brackmann aaO S 494b; Lauterbach/Watermann, Unfallversicherung, 3. Aufl, Anm 5 Buchst a zu § 776); hierauf beruft sich die Revision.

Dabei übersieht sie jedoch, daß weder die "geringe Obstmenge" noch der "alsbaldige Verzehr" allein als die entscheidenden Kriterien anzusehen sind. Dies ergibt sich zum einen daraus, daß die Erntetätigkeiten unabhängig davon unter Versicherungsschutz stehen, ob die geernteten Früchte anschließend im eigenen Betrieb, im eigenen Haushalt, durch Verkauf oder durch Vernichtung verwertet werden (vgl BSG SozR Nr 1 zu § 915 aF RVO; Lauterbach/Watermann aaO; Urteil des erkennenden Senats vom 26. Mai 1987 aaO mwN). Zum anderen darf auch die Menge des geernteten Obstes nicht isoliert betrachtet werden. Entscheidend ist vielmehr, ob das Obst im Rahmen einer planvollen landwirtschaftlichen Betriebstätigkeit geerntet wird. Dieses Erfordernis hat der erkennende Senat in einem Fall bejaht, in welchem ein Nebenerwerbslandwirt einen Rest von ca 6 kg Kirschen pflücken wollte, um das Obst, wie den früheren Ernteertrag, überwiegend als Vorrat einzuwecken und zum kleineren Teil "so zu essen" (Urteil vom 26. Mai 1987 aaO).

In diesem Sinne sind die von der Revision zitierten Entscheidungen des RVA und des BSG zu verstehen. So hatte das RVA (EuM 25, 27) über einen Fall zu entscheiden, in dem der verunglückte Kläger bei der Besichtigung seiner Getreidefelder an einem Kirschbaum vorbei kam, von dem er zur Erfrischung seiner Kinder einige Kirschen pflückte; darin sah das RVA keine ordnungsmäßige Ausübung einer landwirtschaftlichen Erntetätigkeit. Dasselbe gilt für das Urteil des 8. Senats vom 27. Januar 1976 (SozR 2200 § 776 Nr 2), mit dem die Frage verneint wurde, ob auch das "Holen" von Gemüse aus dem Garten für das Abend- oder Mittagessen unter den Begriff des "Erntens" fällt. Dort hat es sich schon dem Wortlaut nach nicht um ein "Ernten" gehandelt, sondern um eine Befriedigung der jeweiligen Bedürfnisse des Haushalts. Handelt es sich dagegen um das Pflücken einer Restmenge Obst im Rahmen einer planmäßigen Erntetätigkeit, kann der Versicherungsschutz nicht unter dem Gesichtspunkt der Geringfügigkeit oder des Verwendungszweckes verneint werden.

Im vorliegenden Fall hat das LSG deshalb zutreffend entschieden, daß der Kläger die restlichen 20 kg Äpfel in ordnungsgemäßer Ausübung des Betriebes gepflückt hatte. Nach den unangegriffenen Feststellungen des LSG sollte der Obstbaum mit den reif gewordenen Klaräpfeln vollständig abgeerntet werden. Daß sich dieser Vorgang auf mehrere Tage erstreckte, ist angesichts der Gesamtmenge von über 3 1/2 Zentnern Äpfel und der nebenberuflichen Betriebstätigkeit des Klägers charakteristisch. Der kurzen zeitlichen Unterbrechung zwischen dem Pflücken der Haupt- und dem Pflücken der Restmenge kommt deshalb keine Bedeutung zu. Vielmehr hat das LSG auch insofern zutreffend ausgeführt, daß es sich um einen einheitlichen Erntevorgang gehandelt hat, der nicht anders zu beurteilen ist, als wenn der Kläger die Ernte an einem einzigen Tag durchgeführt und dem Erntegut schließlich einen Teil von 2,0 kg für den alsbaldigen Verzehr entnommen hätte. Ob es sich bei dieser Restmenge um eine geringfügige gehandelt hat, braucht deshalb ebensowenig entschieden zu werden wie die Frage, ob der Haushalt des Klägers als solcher als Teil des landwirtschaftlichen Unternehmens (§ 777 Nr 1 RVO) versichert ist.

Die Revision war deshalb gemäß § 170 Abs 1 Satz 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) als unbegründet zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Abs 1 und 4 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI518015

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