Orientierungssatz

Selbstmord - fiktive Wartezeiterfüllung - Arbeitsunfall:

1. Ein Selbstmordversuch ist eine eigene Handlung des (potentiellen) Selbstmörders. Sie beruht auf einem Entschluß, dh einer willentlichen Entscheidung des Betreffenden zur Selbstvernichtung und setzt insofern stets eine gewisse Planmäßigkeit voraus. Die aus einer solchen Aktion dem Individuum entstehenden Beeinträchtigungen in körperlich-geistig-seelischer Beziehung sind daher unmittelbar nicht durch ein von außen einwirkendes Ereignis, sondern durch einen allein in der Individualsphäre des Versicherten liegenden Umstand verursacht und insoweit für § 1252 RVO unerheblich.

2. Ein Selbstmordversuch kann nach der Rechtsprechung des BSG nur dann Folge eines Unfalls iS des § 1252 Abs 2 RVO sein, wenn die versuchte Selbsttötung durch ein von außen her einwirkendes Ereignis - etwa durch einen psychischen Schock (vgl BSG vom 18.12.1986 4a RJ 9/86 = SozR 2200 § 1252 Nr 6) - verursacht worden ist.

3. Der Begriff des Arbeitsunfalles in § 1252 Abs 1 Nr 1 RVO ist mit dem Begriff des Arbeitsunfalles in der gesetzlichen Unfallversicherung identisch.

 

Normenkette

RVO § 1252 Abs. 2 Fassung: 1972-10-16, Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1972-10-16, § 548 Abs. 1 S. 1

 

Verfahrensgang

Bayerisches LSG (Entscheidung vom 18.11.1986; Aktenzeichen L 5 Ar 725/85)

SG München (Entscheidung vom 27.06.1985; Aktenzeichen S 4 Ar 1054/83)

 

Tatbestand

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob dem Sohn der Kläger als deren Erblasser bis zu seinem Tod Rente wegen Erwerbsunfähigkeit zustand.

Der 1959 geborene, schwerbehinderte Kläger des ersten und zweiten Rechtszuges (MdE: 100 vH) war nach dem Besuch der Grund- und Hauptschule von September 1977 bis April 1980 - mit Unterbrechungen - in verschiedenen Berufssparten versicherungspflichtig beschäftigt. Danach war er nicht mehr erwerbstätig.

Wegen depressiven Syndroms und paranoid-halluzinatorischer Psychose aus dem schizophrenen Formenkreis war er in den Jahren 1979 bis 1981 wiederholt in stationärer Behandlung. Am 26. Januar 1981 entwich er aus dem Bezirkskrankenhaus H   , in das er zuvor vom M  -P     -I        für Psychiatrie in M       überwiesen worden war, besuchte seinen in Berlin lebenden Bruder und kehrte am 30. Januar 1981 wieder nach H    zurück. Am 1. Februar 1981 unternahm er in H    einen Selbstmordversuch, indem er sich eine unbekannte Substanz - möglicherweise Heroin - injizierte. In der Folge davon erlitt er einen langdauernden Herz- und Atemstillstand, welcher zu einer schweren hypoxischen Hirnschädigung mit Nekrose der Stammganglien führte und einen fortgeschrittenen Demenzprozeß auslöste.

Am 19. August 1981 beantragte der Kläger des ersten und zweiten Rechtszuges bei der Beklagten, ihm medizinische Rehabilitationsmaßnahmen zu gewähren. Am 19. November 1982 beantragte er, ihm wegen der Folgen des Selbstmordversuchs Rente wegen Erwerbsunfähigkeit zu bewilligen. Nach erfolgloser Durchführung eines stationären Heilverfahrens lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 18. Februar 1983 die Rente ab, weil für den Kläger bis zum Eintritt des Versicherungsfalles nur 31 Kalendermonate Versicherungszeit vorlägen, die Wartezeit von 60 Monaten somit nicht erfüllt sei. Den dagegen erhobenen Widerspruch leitete sie dem zuständigen Sozialgericht (SG) als Klage zu.

Durch Urteil vom 27. Juni 1985 wies das SG die Klage ab. Die Berufung gegen dieses Urteil blieb erfolglos (Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts -LSG- vom 18. November 1986): Die Wartezeit sei mit Rücksicht auf die Versicherungszeit von bloß 31 Kalendermonaten nicht erfüllt und gelte auch weder nach Abs 1 Nr 1 noch nach Abs 2 des § 1252 Reichsversicherungsordnung (RVO) als erfüllt, da der Kläger nicht infolge eines Arbeitsunfalles oder eines Unfalles erwerbsunfähig geworden sei. § 539 Abs 1 Nr 17a RVO sei nicht anzuwenden. Wesentliche Ursache eines bei der stationären Behandlung eingetretenen Unfalles müßten, um den Versicherungsschutz auszulösen, diejenigen Risiken sein, denen der Versicherte bei der stationären Behandlung ausgesetzt sei. Der Senat habe nicht festzustellen vermocht, daß die Risiken, denen der frühere Kläger bei der stationären Behandlung im Kreiskrankenhaus H    ausgesetzt gewesen sei, den Selbstmordversuch und dessen Folgen wesentlich mitbedingt hätten. Auch über § 1252 Abs 2 RVO sei der Anspruch auf Rente nicht zu begründen, da ein Unfall iS der Vorschrift zu verneinen sei. Nach der in Rechtsprechung und Schrifttum allgemein anerkannten Definition des Begriffes Unfall sei darunter nur ein von außen auf den Versicherten einwirkendes Ereignis, nicht aber ein aus innerer Ursache, dh aus dem Versicherten selbst kommendes Ereignis zu verstehen. Gerade das sei aber hier der Fall; der Selbstmordversuch beruhe allein auf der krankhaft-depressiven Veranlagung des Klägers, mithin einer inneren Ursache. Das werde insbesondere deutlich, wenn man berücksichtige, daß dem zu beurteilenden Selbstmordversuch bereits mehrere andere Versuche vorausgegangen seien.

Der Kläger des ersten und zweiten Rechtszuges ist am 25. April 1987 verstorben. Mit Schriftsatz vom 18. Mai 1987 haben die Kläger zu den Gerichtsakten angezeigt, daß sie den Rechtsstreit aufnehmen und fortsetzen.

Die Kläger haben das Urteil des LSG mit der vom Senat zugelassenen Revision angefochten. Sie rügen die Verletzung materiellen Rechts.

Die Kläger beantragen,

die Beklagte unter Aufhebung der Urteile des Bayerischen Landessozialgerichts vom 18. November 1986 und des Sozialgerichts München vom 27. Juni 1985 sowie des Bescheides der Beklagten vom 18. Februar 1983 zu verurteilen, den Klägern die dem verstorbenen Sohn Christoph aufgrund des Antrags vom 19. November 1982 bzw 19. August 1981 zustehende Erwerbsunfähigkeitsrente zu zahlen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen hilfsweise, den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

 

Entscheidungsgründe

Die kraft Zulassung durch den erkennenden Senat statthafte, form- und fristgerecht eingelegte und damit zulässige Revision der Kläger ist nicht begründet. Dem Sohn der Kläger stand zu seinen Lebzeiten kein Anspruch auf Rente wegen Erwerbsunfähigkeit zu.

Nach § 1247 Abs 1 RVO in der vor dem Haushaltsbegleitgesetz 1984 vom 22. Dezember 1983 (BGBl I 1532) geltenden und im vorliegenden Fall anzuwendenden Fassung erhält Rente wegen Erwerbsunfähigkeit der Versicherte, der erwerbsunfähig ist, wenn die Wartezeit erfüllt ist. Daß der Sohn der Kläger nach seinem Selbstmordversuch im Februar 1981 erwerbsunfähig war, ist zwischen den Beteiligten nicht streitig und gemäß § 163 Sozialgerichtsgesetz (SGG) für das Revisionsgericht bindend festgestellt, da keine zulässigen und begründeten Revisionsgründe dagegen vorgebracht sind.

Der Anspruch des früheren Klägers ist nicht schon durch § 1277 Abs 1 Satz 1 RVO ausgeschlossen. Hiernach hat keinen Anspruch auf Rente wegen Berufsunfähigkeit oder wegen Erwerbsunfähigkeit, wer sich absichtlich berufsunfähig oder erwerbsunfähig macht. An einer solchen Absicht fehlt es bei der - auf "Selbstvernichtung" zielenden - versuchten Selbsttötung (vgl BSGE 21, 163, 165 = SozR Nr 1 zu § 1277 RVO; BSG SozR 2200 § 1252 Nr 6).

Der Anspruch auf Rente ist zu verneinen, weil die Wartezeit nicht erfüllt ist. Nach § 1247 Abs 3 Satz 1 RVO ist die Wartezeit für die Rente wegen Erwerbsunfähigkeit erfüllt, wenn

a) vor Eintritt der Erwerbsunfähigkeit eine Versicherungszeit von 60 Kalendermonaten oder b) vor der Antragstellung insgesamt eine Versicherungszeit von 240 Kalendermonaten zurückgelegt ist.

Das war beim Sohn der Kläger, der vor Eintritt der Erwerbsunfähigkeit nur 31 Kalendermonate versicherungspflichtig beschäftigt war, nicht der Fall. Daß die von ihm geleisteten Beiträge nicht im Zustand der Erwerbsunfähigkeit entrichtet wurden, hat das LSG unangegriffen und damit für das Revisionsgericht gemäß § 163 SGG bindend festgestellt.

Wie das Berufungsgericht zutreffend ausgeführt hat, kann die Wartezeit auch nicht nach § 1252 Abs 1 Nr 1 oder Abs 2 RVO als erfüllt gelten. Der erste Tatbestand erfordert, daß der Versicherte infolge eines Arbeitsunfalles berufsunfähig geworden oder gestorben ist, der zweite, daß der Versicherte vor Ablauf von 6 Jahren nach Beendigung einer Ausbildung infolge eines Unfalles erwerbsunfähig geworden oder gestorben ist. Das in beiden Fällen gemeinsam vorausgesetzte Merkmal des Unfalles war beim Sohn der Kläger nicht erfüllt. Der Selbstmordversuch und die daraus resultierenden schweren Gesundheitsbeeinträchtigungen waren weder selbst Unfall noch Folgen eines Unfalles.

Der Begriff des Arbeitsunfalles in § 1252 Abs 1 Nr 1 RVO ist mit dem Begriff des Arbeitsunfalles in der gesetzlichen Unfallversicherung identisch. Wie der 4a Senat des Bundessozialgerichts (BSG) im Urteil vom 18. Dezember 1986 (SozR 2200 § 1252 Nr 6 mwN) zutreffend dargetan hat, besteht keine Veranlassung, unter Unfall iS von § 1252 Abs 2 RVO anderes als in anderen Rechtsgebieten, insbesondere anderes als im Recht der gesetzlichen Unfallversicherung (§ 548 Abs 1 Satz 1 RVO) zu verstehen. Nach der allgemein vertretenen Auffassung ist daher Unfall zu definieren als ein von außen her auf den Menschen einwirkendes, körperlich schädigendes, plötzliches, dh zeitlich begrenztes Ereignis. Dabei ist - wie der 4a Senat zu Recht ausgeführt hat - die Wendung "körperlich schädigendes Ereignis" nicht eng zu verstehen, dh erfaßt wird nicht nur die gesundheitliche Schädigung eines Menschen im Bereich des Körperlich-Organischen, sondern in gleicher Weise auf dem Gebiet des Psychisch-Geistigen. Den Gegensatz dazu und mithin von § 1252 Abs 1 Nr 1 und Abs 2 RVO nicht mitumfaßte Sachverhalte bilden innere, "körpereigene" Zustände und Vorgänge im Menschen, die möglicherweise den Begriffen der Krankheit oder Behinderung unterfallen.

Ein Selbstmordversuch ist - wie schon die sprachliche Bedeutung des Wortes zu erkennen gibt - eine eigene Handlung des (potentiellen) Selbstmörders. Sie beruht auf einem Entschluß, dh einer willentlichen Entscheidung des Betreffenden zur Selbstvernichtung und setzt insofern stets eine gewisse Planmäßigkeit voraus. Die aus einer solchen Aktion dem Individuum entstehenden Beeinträchtigungen in körperlich-geistig-seelischer Beziehung sind daher unmittelbar nicht durch ein von außen einwirkendes Ereignis, sondern durch einen allein in der Individualsphäre des Versicherten liegenden Umstand verursacht und insoweit für § 1252 RVO unerheblich.

Eine andere Beurteilung ist freilich angebracht, wenn der Selbstmordversuch sich selbst als Folge eines Unfalles darstellt. Dies setzt die Feststellung von Tatsachen voraus, mit denen der Selbstmordversuch in rechtlich zurechenbarem ursächlichem Zusammenhang steht. Dies kann etwa, wie der 5a Senat mit Urteil vom 24. November 1982 entschieden hat (BSG SozR 2200 § 589 Nr 6), eine Berufskrankheit oder - so im Fall des zitierten Urteils des 4a Senats vom 18. Dezember 1986 - ein psychischer Schock sein. Trifft ein solches außerhalb der Individualsphäre liegendes Ereignis mit körpereigenen Ursachen zusammen, so ist nach der für das Sozialversicherungsrecht geltenden Verursachungstheorie die Wertentscheidung dahin zu treffen, ob beide Ursachen wesentlich für den Unfall waren und folglich als Ursachen im Rechtssinn anzusehen sind, oder ob vielmehr die körpereigene Ursache von so überragender Bedeutung für Art und Schwere des Ereignisses war, daß sie allein als wesentliche Ursache im Rechtssinn für den Unfall anzusehen ist (BSG SozR 2200 § 548 Nr 81).

Beim Sohn der Kläger lag nach den unangegriffenen und damit für das Revisionsgericht gemäß § 163 SGG bindenden Feststellungen des LSG ein derartiges mitwirkendes äußeres Ereignis nicht vor. Das LSG hat nicht nur festgestellt, daß allein die krankhaft-depressive Veranlagung des Sohnes der Kläger Ursache des Selbstmordversuchs gewesen ist. Es hat vielmehr auch festgestellt, daß aus dem Bereich des Krankenhauses, in dem sich der Sohn der Kläger aufhielt, kein spezifischer Einfluß auf den Versicherten ausgeübt wurde, der den aus seiner krankhaften Veranlagung vorhandenen Antrieb zum Selbstmord verstärkt hätte. Hiermit hat das LSG in für das Revisionsgericht verbindlicher Weise zugleich auch verneint, daß der Tod des Sohnes der Kläger durch ein bloßes Unterlassen unausgesetzter Beobachtung und Überwachung des Patienten herbeigeführt wurde. Die diesbezüglichen, der Revisionsbegründung zugrundeliegenden gegenteiligen Tatsachenbehauptungen sind mit den von der Revision nicht mit Verfahrensrügen angegriffenen Feststellungen des LSG nicht zu vereinbaren und daher für das Revisionsgericht unbeachtlich. Es kann daher dahingestellt bleiben, ob eine Garantenstellung des Krankenhauspersonals iS der von der Revision vertretenen Rechtsauffassung gegeben war oder nicht.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1653916

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