Tenor

Das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 10. Juli 1963 wird mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben; die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht Berlin zurückverwiesen.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

Dem Rentenanspruch, den der Versicherte wegen Erwerbsunfähigkeit erhoben hatte, ist die Beklagte mit dem Einwand entgegengetreten, die Leistung sei ausgeschlossen, weil der Versicherte, der durch Alkoholmißbrauch seine Arbeitskraft zerstört habe, sich „absichtlich erwerbsunfähig gemacht” habe (§ 1277 Abs. 1 Satz 1 der Reichsversicherungsordnung – RVO –).

Der Versicherte verfiel seit Mitte 1957 immer mehr dem Alkohol. Während eines mehrwöchigen Heilstättenaufenthalts um die Jahreswende 1957/58 waren nennenswerte Schäden des Zentralnervensystems noch nicht beobachtet worden. Mitte 1960, zu Beginn einer zweiten Heilstättenbehandlung, war indessen das Delirium tremens eingetreten. Die Wahnbildungen klangen zwar nach einiger Zeit wieder ab, eine Störung des Gedächtnisses, der Merk- und Orientierungsfähigkeit blieb aber zurück. Wenige Tage nachdem der Versicherte im Herbst 1960 aus der Heilanstalt entlassen worden war, zeigte sich die ganze Hoffnungslosigkeit des fortgeschrittenen Hirnleidens in Gestalt des Korsakow-Syndroms. Im März 1962 starb der Versicherte.

Die bereits vorher erhobene Klage wird von zwei Söhnen – den Erben – des Versicherten weiter verfolgt.

Das Sozialgericht (SG) Berlin (Urteil vom 10. Juli 1963) hat den ablehnenden Verwaltungsakt aufgehoben und die Beklagte verurteilt, die Rente bis zum Ablauf des Sterbemonats zu zahlen. Es hält die Beklagte nicht für berechtigt, die Leistung zu verweigern. Es fehle jeder tatsächliche Anhalt dafür, daß der Versicherte seine Erwerbsunfähigkeit planmäßig angestrebt habe. Ein Trinker lasse sich erfahrungsgemäß allein von der Gier nach Alkohol treiben.

Gegen dieses Urteil, gegen welches das SG die Berufung zugelassen hat, hat die Beklagte Sprungrevision eingelegt.

Sie beantragt;

das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Kläger beantragen,

die Revision zurückzuweisen.

Die Revision ist zulässig und begründet.

Die Revision tritt der Feststellung des Instanzrichters entgegen, daß der Versicherte lediglich das Opfer seiner Trunksucht geworden sei. Sie meint, der krankhafte Hang zum Alkohol könne durchaus mit dem Bestreben nach dem Rentengewinn gepaart sein. Das wirtschaftliche Zweckstreben sei freilich nicht der erste Anlaß dafür gewesen, daß der Versicherte sich dem Trunke ergeben habe. Der Gedanke an die Rente könne aber hernach geweckt worden sein und die Haltlosigkeit des Alkoholikers gefördert haben. Spätestens nach der ersten Heilstättenbehandlung habe dem Versicherten klar sein müssen, wohin die Dinge trieben, wenn er sich weiter gehen lasse. Das hätten ihm gewiß die behandelnden Ärzte eindringlich vor Augen gestellt. Damals sei der Versicherte noch imstande gewesen, die Anforderungen des Lebens zu begreifen und von der Vernunft regierte Entschlüsse zu fassen. Von dieser Zeit an habe er sich aber nicht nur dem Genuß des Alkohols hemmungslos hingegeben, sondern auch mit vollem Bewußtsein den Gesundheitsschaden und den völligen Verlust der Arbeitskraft auf sich genommen. Damit seien seine Vorstellungen und sein Wille zugleich – zumindest auch – auf die Berufsunfähigkeit und Erwerbsunfähigkeit gerichtet gewesen. Mit diesen Gegebenheiten werde der Tatbestand des § 1277 RVO Verwirklicht. Der Versicherungsfall sei absichtlich herbeigeführt worden.

Diesen Erwägungen ist nachzugehen, mag auch die abweichende Ansicht des Tatsachenrichters am ehesten mit derjenigen Anschauung zu vereinbaren sein, die man bei erster Betrachtung der äußeren und inneren Seite des Sachverhalts gewinnt. Es kann jedoch nicht ohne weiteres der Annahme der Vorinstanz gefolgt werden, daß der Trinker immer nur von seiner Begierde getrieben werde, daß er nicht auch den Verlust seines körperlichen und geistigen Leistungsvermögens voraussehe und wolle. Es kann nicht ein für allemal gesagt werden, daß der Trinker eine solcher Entwicklung wenn er sich ihrer überhaupt bewußt werde – allenfalls in Kauf nehme. Diese Annahme ist nicht ohne eine genauere Erforschung des Geschehensablaufs gutzuheißen.

Die Würdigung des Tatsachenrichters entbehrt der zureichenden Sachaufklärung; sie beruht ferner auch auf einem zu eng verstandenen Begriff der Absicht in § 1277 Abs. 1 Satz 1 RVO. Es mag noch hinzukommen, daß nicht deutlich genug zwischen dem bedingten Vorsatz (Eventualdolus) und demjenigen Vorsatz unterschieden worden ist, bei dem der Handelnde das sichere Bewußtsein hat, daß sein Verhalten unausweichlich auf den Zustand der Berufsunfähigkeit oder Erwerbsunfähigkeit hinsteuert.

Was unter „absichtlich” in § 1277 Abs. 1 Satz 1 RVO zu verstehen ist, wird man dem Sprachgebrauch des täglichen Lebens ebensowenig mit Gewißheit entnehmen können wie der in Gesetz verwendeten Bezeichnung. Das Wort Absicht ist weder im allgemeinen noch in der Gesetzessprache einheitlich und eindeutig festgelegt. Selbst auf einzelnen Rechtsgebieten, wie im Strafrecht, ist damit nicht durchweg dasselbe gemeint; mal wird der Ausdruck in einer engeren, mal in einer weiteren Bedeutung, zum Beispiel gleichsinnig mit „vorsätzlich” oder „wissentlich” oder im Sinne eines besonderen Tatmotivs benutzt (vgl. BGH St 9, 142, 144). Ober den Inhalt, den dieser Begriff in § 1277 Abs. 1 Satz 1 RVO hat, geben der gedankliche Zusammenhang, in den diese Vorschrift hineingestellt ist, und die Gesetzesgeschichte Aufschluß.

In der bis zum 31. Dezember 1956 geltenden Fassung der RVO (§ 1261 Abs. 1 Satz 1 RVO aF) hieß es, daß keinen Anspruch auf Rente hat, „wer sich vorsätzlich invalide macht”. Der Terminus „vorsätzlich” wurde 1957 durch „absichtlich” ersetzt, um – wie es im Schriftlichen Bericht des Bundestagsausschusses für Sozialpolitik heißt – „Unklarheiten zu beseitigen, die in der Praxis aufgetreten sind, wenn die Berufsunfähigkeit die Folge eines versuchten Selbstmordes ist” (BT-Drucks. zu 3080 – 2. Wp. – S. 16 zu § 1281). Mit dieser Bemerkung wird auf die Rechtsprechung des Reichsversicherungsamtes (RVA) angespielt, das den Rentenanspruch für verwirkt ansah, wenn bei einem mißglückten Selbstmordversuch die Invalidität verursacht worden war (RVA AN 1899 S. 285; 1912 S. 823; 1915 S. 426; 1916 S. 337). Das RVA ging von der Überlegung aus, daß der auf die völlige Selbstvernichtung gerichtete Wille den Entschluß mit umfasse, die Unversehrtheit des Körpers anzugreifen. Die Tötung sei anders als durch Verletzung des Körpers nicht vorstellbar. Zur Verwirklichung des Vorsatzbegriffs sei es nicht nötig, daß der Versicherte die Entwicklung seines Handelns in allen Phasen vorauserkannt und vorausbedacht habe. – Dem RVA ist wiederholt entgegengehalten worden, daß es voreilig verallgemeinernd schlußfolgere und der Wirklichkeit des Einzelfalls nicht gerecht werde. Für den Vorsatz komme es nicht auf die objektive Beurteilung des Tatgeschehens, sondern darauf an, ob der Täter vorher selbst das Ausbleiben des angestrebten Todes und zugleich den Eintritt der Invalidität in sein Bewußtsein aufgenommen habe.

Diese Kritik hat sich der Gesetzgeber des Rentenreformgesetzes zu eigen gemacht. Diese hinter der jetzigen Gesetzesfassung stehende Meinung ist auch für die Deutung des Absichtsbegriffs in § 1277 Abs. 1 Satz 1 RVO zu beachten. Daraus folgt, daß man von Absicht nicht schon sprechen darf, wenn der Versicherte lediglich mit der Möglichkeit oder auch naheliegenden Wahrscheinlichkeit rechnet, daß seine Arbeits- und Erwerbsfähigkeit zerstört werde. Daß der Versicherte sich einen derartigen nachteiligen Ausgang des von ihm in Bewegung gebrachten Sachablaufs als möglich vorgestellt und ihn innerlich zwar nicht wünscht, aber billigt, laßt seine Handlungsweise noch nicht als eine absichtliche erscheinen. Er muß vielmehr wissen, daß die Folge seines Tuns unentrinnbar, notwendig ist, und er muß sie dennoch wollen (BGH St 7, 363, 369 f; BGH in NW 1963, 916). Das aber verwirklicht den Begriff der Absicht.

Der Handlungswille des Versicherten braucht nicht geradezu auf das Ziel seiner Berufsunfähigkeit oder Erwerbsunfähigkeit gerichtet zu sein (Absicht im engeren Sinn, vgl. dazu die Interpretation von Schönke/Schröder, 10. Aufl. StGB § 59 Anm. IV 1). Daß es dem Versicherten direkt darauf ankommen müsse, berufsunfähig oder erwerbsunfähig zu werden, ist nicht erforderlich. Vielmehr genügt das Bewußtsein, daß das aus anderer Ziel vor Stellung angetriebene Verhalten auch zur Erfüllung dieser Tatbestände führt. Das „wirklich tragende Motiv” kann ein anderes sein. Der Zustand der Berufsunfähigkeit oder Erwerbsunfähigkeit braucht bloß das unerläßliche Mittel, Zwischenziel oder die unvermeidliche Nebenwirkung des primär verfolgten Zweckes zu sein – sofern nur der Versicherte diese Ende klar vor Augen hat und in seinen Willen mit aufnimmt –. Auch der bestimmte, aber mittelbare Vorsatz wird mithin dem Absichtsbegriff des § 1277 Abs. 1 RVO unterzuordnen sein. Es ist dem Gesetz und seiner Vorgeschichte nicht zu entnehmen, daß ausschließlich an eine einschränkende Zuspitzung auf den Unmittelbaren Vorsatz gedacht war, daß nur der speziell und in erster Linie von dem Wunsch, erwerbsunfähig zu sein, gekennzeichnete Wille maßgebend sein soll. Die Gesetzesänderung und Einführung des Absichtsbegriffs in § 1277 Abs. 1 Satz 1 RVO wird man als Reaktion des Gesetzgebers auf die von ihm als zu weitgehend empfundene Rechtsanwendung durch das RVA zu werten haben. Deshalb wird man jedoch nicht in das entgegengesetzte Auslegungsextrem verfallen dürfen. Das wäre schon um deswillen verfehlt, weil unter gewissen Umständen der Ausfall der Rente auch für den unvorhergesehenen und ungewollten Versicherungsfall angedroht wird. Hat sich nämlich der Versicherte die Berufsunfähigkeit oder Erwerbsunfähigkeit beim Begehen einer Handlung, die nach strafgerichtlichem Urteil ein Verbrechen oder ein vorsätzliches Vergehen ist, zugezogen, so kann die Rente ganz oder teilweise versagt werden (§ 1277 Abs. 2 RVO).

Das angefochtene Urteil läßt nun nicht erkennen, daß es den gegebenen Sachverhalt auf der Grundlage des – vorstehend erläuterten – Absichtsbegriffes geklärt und gewürdigt hat. Der Tatsachenrichter hat sich bei seiner Entscheidung ohne tieferes Eindringen in die Fallbesonderheiten von dem Bilde leiten lassen, das zuträfe, wenn der Trinker stets nur unmerklich in den Zwang, dem er nicht mehr widerstehen kann, hineingleiten würde. Es ist aber auch in Betracht zu ziehen, daß ein Trinker, der unter den Einfluß geistiger Entartung und Schwäche gerät, noch eine mehr oder weniger lange Periode durchlebt, in der er – vielleicht durch ärztliche Belehrung und Ermahnung aufgeklärt – die Unvermeidlichkeit der Folgen seines Tuns klar voraussieht und dennoch nicht von seinem Tun abläßt, obgleich er noch über genügend ungebrochene Widerstandskraft verfügt, um seinen Willen den Anforderungen der Situation gemäß nach vernünftigen Erwägungen bestimmen zu können.

Um das Verhalten des Versicherten unter diesem Blickwinkel abschließend und einwandfrei beurteilen zu können, fehlen die genauen Einblicke in den Sachablauf. Gültige Ergebnisse lassen sich durch eine geeignete, an den rechtlichen Tatbestandserfordernissen ausgerichtete Fragestellung an Sachverständige erzielen. Vor allem aber erscheint es wichtig und wertvoll, daß diejenigen Fachärzte nach der inneren Einstellung und dem Willen des Versicherten gefragt werden, die ihn während der verschiedenen Stadien seiner Trunksucht behandelt haben.

In diesen Richtungen ist die Sache weiter zu erörtern und zu prüfen. Dies ist dem Berufungsgericht, an welches die Sache zurückverwiesen wird, zu überlassen (§ 170 Abs. 3 des Sozialgerichtsgesetzes).

Die Entscheidung über den Anspruch auf Erstattung der im Revisionsverfahren entstandenen Kosten bleibt dem Berufungsgericht vorbehalten.

 

Unterschriften

Penquitt, Schmitt, Dr. Ecker

 

Fundstellen

BSGE, 163

NJW 1964, 2035

MDR 1964, 960

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