Beteiligte

Kläger und Revisionsbeklagter

Beklagte und Revisionsklägerin

 

Tatbestand

I

Der 1939 geborene Kläger schloß 1959 seine Lehre zum Isolierer mit Erfolg ab und arbeitete bis 1969 versicherungspflichtig in diesem Beruf. Seitdem steht er, weil er an Lungentuberkulose erkrankte, in keinem Arbeitsverhältnis mehr. Eine Umschulungsmaßnahme zum Industriekaufmann wurde aufgegeben. Seit 1973 erhielt er Erwerbsunfähigkeitsrente (Bescheid vom 26. Februar 1974), von 1976 bis 1977 nur Berufsunfähigkeitsrente, und sodann wieder Erwerbsunfähigkeitsrente (Bescheid vom 14. Dezember 1977).

Durch Schreiben vom 28. Dezember 1982 teilte die Beklagte dem Kläger mit, sie beabsichtige die Entziehung der Erwerbsunfähigkeitsrente, weil die Lungentuberkulose jetzt inaktiv und er nunmehr in der Lage sei, leichte und staubarme Arbeiten in geschlossenen Räumen vollschichtig auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu verrichten. Mit Bescheid vom 29. März 1983 entzog ihm die Beklagte aus diesem Grunde die Erwerbsunfähigkeitsrente mit Ablauf des Monats April 1983. Auf den Widerspruch des Klägers hin stellte die Beklagte fest, daß der Kläger zwar Berufsschutz genieße, aber noch als Kontrolleur, Automatenbediener, Schaltpultwärter, Verwieger, Montierer von Kleinteilen, Magaziner, Lagerverwalter, Werkzeugausgeber, Werkstattschreiber und Pförtner arbeiten könne. Dies teilte sie dem Kläger jedoch nicht mehr mit, sondern leitete mit seiner Zustimmung den Widerspruch als Klage dem Sozialgericht (SG) zu. Das SG hat mit Urteil vom 9. Februar 1984 den angefochtenen Bescheid aufgehoben und ausgeführt, die nach § 24 Abs. 1 des Zehnten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB 10) vorgeschriebene Anhörung sei nicht ordnungsgemäß durchgeführt worden. Dem Kläger seien die für die Entziehung erheblichen Tatsachen nicht vollständig bekanntgegeben worden.

Mit der vom SG zugelassenen Sprungrevision rügt die Beklagte eine Verletzung des § 24 Abs. 1 SGB 10.

Die Beklagte beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage gegen den Bescheid vom 29. März 1983 abzuweisen.

Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

II

Die Revision der Beklagten ist unbegründet. Zu Recht hat das SG den Bescheid der Beklagten aufgehoben, da er wegen unterlassener Anhörung des Klägers fehlerhaft war. Nach § 24 Abs. 1 SGB 10 ist vor Erlaß eines Verwaltungsaktes, der in Rechte eines Beteiligten eingreift, diesem Gelegenheit zu geben, sich zu den "für die Entscheidung erheblichen Tatsachen" zu äußern. Das ist hinsichtlich des angefochtenen Bescheides nicht in ausreichender Weise geschehen. Der Bescheid, mit dem die Beklagte dem Kläger die Erwerbsunfähigkeitsrente entzog, war ein in die Rechte des Klägers eingreifender Verwaltungsakt. Der Gesetzgeber hat bei Schaffung der Anhörungspflicht der Verwaltung (§ 34 SGB 1, jetzt § 24 SGB 10) besonders an den Fall gedacht, daß unanfechtbar zuerkannte Rechte aufgrund späterer Veränderungen wieder entzogen werden sollen (BSG SozR 1200 § 34 Nr. 8, S. 38 m.w.N.). Die Entziehung einer zuerkannten Rente, auf der die Lebensführung des Versicherten beruht, ist ein "nachhaltiger Eingriff in die persönliche Lebenssphäre des Versicherten" (BSG SozR 2200 § 1286 Nr. 12 S. 28, 29). Zu den "für die Entscheidung erheblichen Tatsachen" gehören auch die Berufe, auf die die Beklagte den Kläger verweist. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) können - soweit es die Berufsunfähigkeitsrente angeht -, einem Facharbeiter nicht alle Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes zugemutet werden. Facharbeiter sind nur auf Beschäftigungen verweisbar, die im Rahmen des Vierstufenschemas in die Gruppe mit dem Leitberuf des angelernten Arbeiters fallen (vgl. BSG SozR § 1246 Nr. 100, S. 306 m.w.N.). Soweit es um die Erwerbsunfähigkeitsrente geht, genießt der Versicherte allerdings grundsätzlich keinen Schutz gegen einen sozialen Abstieg (BSGE 19, 147, 149 = SozR RVO § 1247 Nr. 6). Doch ist auch bei Entziehung dieser Rente zu prüfen, ob der Versicherte die ihm angesonnenen Tätigkeiten ausüben kann. Die Beklagte hatte also bei ersatzloser Entziehung der Erwerbsunfähigkeitsrente Anlaß, die Frage der Verweisung zu prüfen.

Allerdings hatte die Beklagte bei Erlaß des angefochtenen Bescheides diese Gesichtspunkte übersehen. Zu Recht weist sie darauf hin, daß ein Bescheid, bei dessen Erlaß die Verwaltungsbehörde einen rechtserheblichen Gesichtspunkt und deshalb auch eine Tatsache übersieht, von der die Entscheidung nach dem Gesetz abhängt, nicht § 24 SGB 10 verletzt. Denn die Verwaltung kann den Versicherten nur zu solchen Umständen hören, die sie selbst als entscheidungserheblich betrachtet und auf die sie ihre Entscheidung zu stützen gedenkt. Das BSG spricht deshalb davon, daß der Versicherungsträger die "ihm bekannten entscheidungserheblichen Tatsachen" dem Versicherten mitzuteilen hat (BSG SozR 1300 § 24 Nr. 2 S. 4). Deshalb hat das BSG beispielsweise in dem von der Revision zitierten Urteil vom 24. Juni 1982 (4 RJ 37/81) am Bescheid eines Versicherungsträgers bemängelt, er habe sich nicht mit Verweisungstätigkeiten auseinandergesetzt, ohne § 24 SGB 10 auch nur zu erwähnen (vgl. BSG SozR 2200 § 1286 Nr. 12 S. 29).

Durch den Widerspruch des Klägers wurde der Beklagten klar, daß der Kläger Berufsschutz genoß und deshalb jedenfalls hinsichtlich des Anspruchs auf Berufsunfähigkeitsrente nicht auf den allgemeinen Arbeitsmarkt verwiesen werden konnte. Sie verwies den Kläger nun nicht mehr auf den allgemeinen Arbeitsmarkt, sondern auf die ihm nach ihrer Meinung zumutbaren Verweisungsberufe. War der angefochtene Verwaltungsakt demnach ursprünglich ohne Verletzung des § 24 SGB 10 ergangen, wurde er nun dadurch fehlerhaft, daß die Beklagte im Widerspruchsverfahren die Unhaltbarkeit ihrer bisherigen Begründung erkannte und dem Verwaltungsakt zulässigerweise eine andere Begründung mit einem anderen Sachverhalt nachschob, ohne den Kläger gemäß § 24 SGB 10 hierzu zu hören. Die Beklagte verletzte dadurch § 24 SGB 10.

In seinen Entscheidungen zu § 34 SGB 1 und später zu § 24 SGB 10, der § 34 SGB 1 ersetzt hat, hat das BSG wiederholt auf die vom Gesetzgeber mit der Anhörungspflicht verfolgten Zwecke hingewiesen. Einerseits soll der Versicherungsträger vor Erlaß des Verwaltungsaktes die Tatsachen kennen, die der Betroffene zu seinen Gunsten geltend macht; er soll prüfen können, ob die Stellungnahme des Beteiligten zu den für die Entscheidung erheblichen Tatsachen Veranlassung gibt, vom Erlaß des beabsichtigten Verwaltungsaktes abzusehen oder ihn erst zu einem späteren als dem zunächst vorgesehen Zeitpunkt oder mit anderem Inhalt zu erlassen (BSG SozR 1300 § 24 Nr. 2 S. 3 m.w.N.). Die Anhörung dient andererseits aber auch dem Vertrauen der Versicherten in die Organe der Versicherungsträger (BSG SozR 1200 § 34 Nr. 1 S. 3). Wenn sie von den Organen der Versicherungsträger gehört werden, wird ihre Stellung als Verfahrensbeteiligte anerkannt und es wird vermieden, daß sie sich lediglich als Objekte des Verfahrens fühlen und als solche betrachtet werden. Wenn die Beklagte dem Widerspruch des Klägers aufgrund ihrer Kenntnis von Verweisungsberufen den Erfolg versagte, über die sie den Kläger nicht unterrichtet und zu denen sie ihn nicht gehört hatte, verletzte sie die genannten Zwecke der Anhörung und damit § 24 SGB 10. Sie kann dies nicht mit dem Hinweis rechtfertigen, der Kläger hätte bei Akteneinsicht (§ 25 SGB 10) erkennen können, welche Tatsachen ihrer Entscheidung zugrunde gelegt werden sollten. Wie die bereits dargestellten Zwecke der Anhörung und das Nebeneinander der §§ 24 und 25 SGB 10 zeigen, dient das Recht aus § 25 SGB 10 nicht der Einschränkung der Pflicht nach § 24 SGB 10. Der Kläger konnte somit zwar Akteneinsicht verlangen; er war aber nicht gehalten dies zu tun, um die Klägerin von ihrer Verpflichtung nach § 24 SGB 10 zu entbinden. Entscheidend ist, daß die Beklagte ihren Bescheid im Klageverfahren allein auf Tatsachen stützte; die ursprünglich ihrem Bescheid nicht zugrunde gelegt hatten und daß sie damit den Kläger nicht im Widerspruchsverfahren bekanntmachte, sondern im Rechtsstreit überraschte.

§ 24 SGB 10 schreibt zwar vor, daß der Beteiligte zu hören ist "bevor ein Verwaltungsakt erlassen wird". Gleichwohl macht auch ein in bezug auf § 24 SGB 10 fehlerhaftes Verhalten der Beklagten im Widerspruchsverfahren - nach Erlaß des Verwaltungsaktes - den ergangenen Bescheid aufhebbar. Das Widerspruchsverfahren findet als Teil des Verwaltungsverfahrens oder als ein dem Prozeß vorgeschaltetes Verfahren im Organisationsbereich der Beklagten statt (vgl. BSG SozR 1200 § 34 Nr. 1 S. 3). Wenn ein Widerspruchsbescheid ergeht, so ist Gegenstand der Klage der ursprüngliche Verwaltungsakt in der Gestalt, die er durch den Widerspruchsbescheid gefunden hat (§ 95 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -), also auch mit einer nachgeschobenen Begründung. Wenn die Widerspruchsstelle keinen Widerspruchsbescheid erläßt, sondern mit Zustimmung des Versicherten den Widerspruch als Klage dem SG zuleitet (§ 85 Abs. 4 SGG), bekräftigt sie mit dieser - möglicherweise ebenfalls auf nachgeschobene Gründe gestützten - Entscheidung den Verwaltungsakt nach erneuter Prüfung. Ebenso wie der formelle Widerspruchsbescheid bildet diese Entscheidung mit dem Verwaltungsakt eine am Ende des Verwaltungsverfahrens stehende Einheit. Verletzt die Verwaltung bei dieser Entscheidung das Recht des Beteiligten aus § 24 SGB 10, so muß auch das dem Verwaltungsakt als Mangel anhaften, wenn die das rechtliche Gehör im Verwaltungsverfahren gewährleistende Norm nicht im Wege des Nachschiebens von Gründen unterlaufen werden soll.

Das SG hat damit zu Recht den angefochtenen Bescheid aufgehoben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.5b RJ 40/84

Bundessozialgericht

verkündet am

15. Mai 1985

 

Fundstellen

Dokument-Index HI518280

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