Orientierungssatz

Zur Frage der Bindungswirkung gemäß § 77 SGG und der Rücknahme eines rechtswidrigen nicht begünstigenden Verwaltungsaktes nach § 44 SGB 10.

 

Normenkette

SGB 10 § 44 Fassung: 1980-08-18; SGG § 77 Fassung: 1953-09-03

 

Verfahrensgang

SG Duisburg (Entscheidung vom 24.04.1981; Aktenzeichen S 3 Kn 156/80)

 

Tatbestand

Der Kläger begehrt Befreiung von der knappschaftlichen Krankenversicherung der Rentner (knKVdR).

Der Kläger ist Beamter im Ruhestand. Er hatte während der Zeit seiner Erwerbstätigkeit in der Rentenversicherung der Angestellten und in der knappschaftlichen Rentenversicherung freiwillig Beiträge entrichtet. Seit dem 1. November 1977 erhält er Knappschaftsruhegeld. Damit ist er Pflichtmitglied der knKVdR. Eine weitere gesetzliche Pflichtversicherung besteht nicht. Der Antrag des Klägers vom 10. Juli 1977 auf Befreiung von der Mitgliedschaft in der knKVdR, mit dem er ua vorbrachte, er sei ausreichend privatversichert, wurde von der Beklagten mit Bescheid vom 23. September 1977 abgelehnt. Diesen Bescheid focht der Kläger nicht an. Am 12. Februar 1980 beantragte der Kläger erneut, von der Pflichtmitgliedschaft bei der Beklagten befreit zu werden. Die Beklagte lehnte das mit der Begründung ab (Bescheid vom 29. Juli 1980; Widerspruchsbescheid vom 28. Oktober 1980), für Pflichtmitglieder der knKVdR bestehe, wie sich aus den §§ 15 und 19 des Reichsknappschaftsgesetzes (RKG) ergebe, die Befreiungsmöglichkeit des § 173a Reichsversicherungsordnung (RVO) nicht.

Das Sozialgericht (SG) hat die Klage mit Urteil vom 24. April 1981 abgewiesen. Die Vorschriften über die knKVdR enthielten keine Befreiungsmöglichkeit für den Kläger. Das Fehlen einer solchen Möglichkeit verstoße auch nicht gegen den Gleichheitsgrundsatz, weil es für eine unterschiedliche Behandlung von Rentnern in der allgemeinen KVdR einerseits und der knKVdR andererseits sachliche Gründe gebe.

Hiergegen richtet sich die im Urteil des SG zugelassene Sprungrevision des Klägers. Nach Auffassung des Klägers ist es schon fraglich, ob § 15 Abs 2 RKG nur auf versicherungspflichtige Arbeitnehmer anwendbar ist, oder ob dieser Vorschrift nicht doch allgemeine Bedeutung für die Befreiung von der Krankenversicherungspflicht zukommt. Aus dem Fehlen einer speziellen Befreiungsregelung in § 19 RKG könne keineswegs der Schluß gezogen werden, daß es für versicherungspflichtige Rentner keine Befreiungsmöglichkeit aus der knKVdR gebe. Zumindest liege ein Verstoß gegen den Gleichheitssatz des Art 3 Abs 1 Grundgesetz (GG) vor. Die vom SG angeführten Gründe könnten eine unterschiedliche Behandlung von Knappschaftsrentnern und Rentnern der Arbeiterrenten- und Angestelltenversicherung nicht rechtfertigen.

Der Kläger beantragt, das Urteil des Sozialgerichts Duisburg vom 24. April 1981 sowie den Bescheid der Beklagten vom 29. Juli 1980 idF des Widerspruchsbescheides vom 28. Oktober 1980 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihn von der Mitgliedschaft in der knappschaftlichen Krankenversicherung der Rentner zu befreien. Die Beklagte beantragt, die Sprungrevision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des Klägers ist unbegründet.

Die Beklagte ist nicht verpflichtet, den Kläger von der Mitgliedschaft in der gesetzlichen Krankenversicherung zu befreien. Nach § 19 Abs 1 Nr 1 RKG ist der Kläger bei der Beklagten versichert. Ob nach allgemeinen Auslegungsgrundsätzen aufgrund des § 15 Abs 2 RKG iVm § 19 RKG der § 173a RVO anzuwenden ist, oder ob jedenfalls eine verfassungskonforme Auslegung der §§ 15 und 19 RKG zu einer Anwendung des § 173a RKG führt, kann dahinstehen. Denn selbst bei einer Heranziehung des § 173a RVO auch bei den nach § 19 Abs 1 Nr 1 RKG versicherten Personen hätte die Beklagte nicht die Verpflichtung, den Kläger von der Versicherungspflicht zu befreien.

Nach § 173a Abs 2 RVO ist der Antrag auf Befreiung binnen eines Monats nach Beginn der Mitgliedschaft bei der zuständigen Kasse zu stellen. Diese Frist ist eine Ausschlußfrist (BSGE 35, 220, 21, 222). Bei ihrer Versäumung kann die Befreiung nicht erteilt werden. Am 1. November 1977 wurde der Kläger bereits Mitglied in der knKVdR. Sein Befreiungsantrag vom 12. Februar 1980 war daher verspätet. Der Befreiungsantrag vom 10. Juli 1977 war zwar rechtzeitig. Doch hat die Beklagte mit bindend gewordenem Bescheid vom 23. September 1977 bereits entschieden, daß dieser Antrag nicht zur Befreiung geführt hat (§ 77 SGG). Dieser Bescheid war zwar nicht mit einer Rechtsmittelbelehrung versehen, wurde aber ein Jahr nach Zustellung bzw Eröffnung unangreifbar (§§ 66 Abs 2, 63 Abs 1 SGG).

Indem der Kläger den Bescheid vom 23. September 1977 nicht fristgemäß anfocht, wurde dieser Verwaltungsakt nicht nur mit der Folge bindend, daß er danach nicht mehr mit Widerspruch und Klage angegriffen werden konnte, sondern auch in dem Sinne, daß die durch den Verwaltungsakt getroffene Regelung für die Beteiligten grundsätzlich Bestand erhielt und ihrem materiellen Inhalt nach verbindlich wurde (BSG SozR 1500 § 77 Nr 20). Diese materielle Bindungswirkung reicht so weit, wie der in dem Ausspruch enthaltene Gedanke reicht. Gegenstand der Bindungswirkung ist nicht nur das, was der Ausspruch unmittelbar besagt, nämlich, daß zum 1. November 1977 keine Befreiung von der Versicherungspflicht erteilt werden konnte, sondern auch der Subsumtionsschluß, der die Grundlage für den Ausspruch bildet (BSG aaO). Das ist hier der Schluß, daß die Voraussetzungen für eine Befreiung von der Versicherungspflicht aufgrund des Sachverhaltes, den er damals (wie heute) vorbrachte, nicht vorlagen. Daran sind nun auch die Gerichte gebunden, so daß der abgelehnte Antrag die Befreiung nicht rechtfertigen kann.

Der Bescheid vom 23. September 1977 kann auch nicht entgegen der Bindungswirkung des § 77 SGG mit der Begründung neu überprüft werden, der damalige Bescheid sei rechtswidrig gewesen. Gemäß § 77 SGG ist der Verwaltungsakt allerdings für die Beteiligten in der Sache nur bindend "soweit durch Gesetz nichts anderes bestimmt ist". Nach § 44 Abs 1 und 2 des am 1. Januar 1981 in Kraft getretenen 10. Buches des Sozialgesetzbuches (SGB 10) ist ein nichtbegünstigender Verwaltungsakt, aufgrund dessen Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht oder Beiträge zu Unrecht erhoben worden sind, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, wenn bei Erlaß des Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt worden ist. Im übrigen ist ein rechtswidriger, nicht begünstigender Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben. Nach der Übergangsvorschrift des Art 2 § 40 Abs 2 SGB 10 sind die §§ 44 bis 39 SGB 10 erstmals anzuwenden, wenn nach dem 31. Dezember 1980 ein Verwaltungsakt aufgehoben wird. Dazu rechnen auch die Fälle, in denen die Behörde zwar vor dem 1. Januar 1981 die Aufhebung eines Verwaltungsaktes abgelehnt hat, es deswegen es jedoch zu einem Rechtsstreit kommt und die abschließende gerichtliche Entscheidung erst nach dem 31. Dezember 1980 ergeht (BSG Urteil vom 27. April 1982, 1 RJ 84/80). Nach Art 2 § 40 Abs 2 Satz 3 sind ausgenommen jedoch solche Verwaltungsakte in der Sozialversicherung, die bereits bestandskräftig waren und bei denen auch nach § 1744 der RVO in der vor dem 1. Januar 1981 geltenden Fassung eine neue Prüfung nicht vorgenommen werden konnte. Mit dieser Bestimmung hat der Gesetzgeber diejenigen Verwaltungsakte von der Aufhebung nach neuem Verwaltungsverfahrensrecht ausnehmen wollen, die vor dem Inkrafttreten des neuen Rechts in Bindungswirkung erwachsen (§ 77 SGG) und darum nach bisherigem Recht (§ 1744 RVO) unabänderbar gewesen sind. Es kann dahinstehen, ob dann, wenn nach altem Recht eine Überprüfung nach §§ 93 RKG, 627, 1300 RVO noch möglich war, nach dem 1. Januar 1981 neues oder altes Recht anzuwenden ist (vgl BSGE 51, 209, 212 = SozR 2200 § 627 Nr 8, S 22; Urteil vom 10. September 1981, 5a/5 RKn 4/80). Denn im vorliegenden Fall war nach altem Recht der Bescheid vom 23. September 1977 nicht mehr überprüfbar, auch nicht nach den §§ 93 RKG, 627, 1300 RVO. Die Voraussetzungen des bis zum 31. Dezember 1980 geltenden § 1744 RVO liegen nicht vor. Auch § 93 Abs 1 RKG ist nicht entsprechend (vgl BSGE 36, 120 = SozR Nr 61 zu § 182 RVO) anzuwenden. Denn diese Vorschrift gilt nur, wenn eine Leistung zu Unrecht abgelehnt, entzogen, eingestellt oder zu niedrig festgestellt worden ist (vgl das Urteil des erkennenden Senats vom 26. Juni 1980, 5 RKn 5/78, SozR 2600 § 121 Nr 3, S 9; Zweng/Scherer, Handbuch der Rentenversicherung § 1300 Anm IV 1). Um einen Leistungsbescheid hat es sich hier aber nicht gehandelt. Ob darüber hinaus auch bei grundsätzlicher Anwendung des § 93 Abs 1 RKG oder des § 44 Abs 1, 2 SGB 10 Einschränkungen dahin zu machen wären, daß allenfalls für die Zukunft Änderungen der Mitgliedschaft des Klägers bei der Beklagten möglich wären, weil in der Vergangenheit abgeschlossene zurückliegende Versicherungsverhältnisse nicht rückwirkend umgestaltet werden dürfen (BSGE 24, 45, 48 mwN; 26, 120, 123; SozR Nr 4 zu § 1403 RVO Bl Aa 8; Urteil des erkennenden Senats vom 28. Mai 1980, 5 RKn 21/79) kann hier dahinstehen.

Der Kläger hat sich in der Revisionsinstanz darauf berufen, die Beklagte habe durch den Erlaß der Bescheide vom 29. Juli 1980 und 28. Oktober 1980 den Rechtsweg über seinen früheren Antrag vom 10. Juli 1977 neu eröffnet. Es kann dahinstehen, ob durch Erlaß eines Zweitbescheides, der die Bindungswirkung eines früheren Bescheides unberücksichtigt läßt, nicht nur der Rechtsweg neu eröffnet wird, also die formelle Bindungswirkung des früheren Bescheides beseitigt wird, sondern auch die materielle Bindungswirkung (vgl BSGE 10, 248; 13, 48, 86; SozR Nr 35 zu § 77 SGG und Nr 12 zu § 40 VerwVG; SozR 5050 § 15 Nr 9, S 25/26; 14. Mai 1981, 4 RJ 15/80). In vorliegendem Fall hat nach den Tatsachenfeststellungen des LSG, an die das Revisionsgericht gebunden ist (§ 163 SGG), die Beklagte mit den Bescheiden vom 29. Juli 1980 und 28. Oktober 1980 über den erneuten Befreiungsantrag des Klägers vom 12. Februar 1980 entschieden und nicht über den vom 10. Juli 1977. Ein die erneute Prüfung eröffnender Zweitbescheid ist von der Beklagten daher nicht erlassen worden. Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Abs 1 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1657740

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