Leitsatz (amtlich)

Hat die Verwaltungsbehörde, nachdem ein früherer Bescheid über die Ablehnung des Anspruchs auf eine öffentlich-rechtliche Leistung nicht oder erfolglos angefochten worden ist, den Antrag auf diese Leistung nach sachlicher Prüfung des Anspruchs auf Grund neuer Ermittlungsergebnisse oder bisher nicht erörterter Gesichtspunkte rechtlicher oder tatsächlicher Art wiederum abgelehnt, so handelt es sich um eine neue "Regelung" und damit um einen neuen, im Verwaltungsrechtsweg anfechtbaren Verwaltungsakt.

Auf die Erklärung der Verwaltungsbehörde, sie verzichte auf die "Rechtskraft" des früheren Bescheids, kommt es dabei nicht an, sondern nur darauf, ob die Entscheidung, die sie in dem "wiederaufgenommenen" Verfahren getroffen hat, rechtlich als Verwaltungsakt zu werten ist.

 

Normenkette

BVG § 85 Fassung: 1950-12-20; KOVVfG § 40 Abs. 1 Fassung: 1955-05-02; SGG § 77 Fassung: 1953-09-03

 

Tenor

Das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 9. Oktober 1956 wird aufgehoben; die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

I

Der Vater der Kläger, A Sch, starb am 9. Januar 1925 an Lungentuberkulose. Sein Antrag auf Versorgung vom 26. Mai 1923 war vom Versorgungsamt A durch Bescheid vom 27. September 1923 abgelehnt worden, weil das Lungenleiden erst nach dem Kriege aufgetreten sei und kein Zusammenhang mit dem Wehrdienst bestehe.

Die Mutter der Kläger, G Sch beantragte im Jahre 1925 für sich und ihren Sohn J Hinterbliebenenversorgung. Das Versorgungsamt W lehnte den Antrag durch Bescheid vom 30. Mai 1925 ab, weil der Tod des A Sch nicht die Folge einer Wehrdienstbeschädigung sei. Die Berufung gegen den Bescheid wurde durch Urteil des Versorgungsgerichts Würzburg vom 24. November 1925 zurückgewiesen, den Rekurs gegen dieses Urteil wies das Bayer. Landesversorgungsgericht mit Urteil vom 8. Januar 1927 zurück. In der Folge stellte die Mutter der Kläger mehrfach erneut Anträge auf Hinterbliebenenrente. Die Anträge wurden sämtlich abgelehnt.

Am 26. Januar 1947 beantragte die Mutter der Kläger die Erteilung eines Zugunsten-Bescheides und die Gewährung der Witwenrente nach dem Bayer. Gesetz über Leistungen an Körperbeschädigte (KBLG). Die KB-Abteilung W der Landesversicherungsanstalt U lehnte den Antrag durch Bescheid vom 17. November 1948 unter Bezugnahme auf die frühere rechtskräftige Verneinung des ursächlichen Zusammenhangs ab. Das Oberversicherungsamt W wies die Berufung durch Urteil vom 16. Oktober 1950 zurück, da die Erteilung eines Zugunsten-Bescheides im Ermessen der Verwaltungsbehörde stehe.

Im Januar 1951 wandte sich die Mutter der Kläger mit der Bitte um nochmalige Prüfung der Angelegenheit an das Bayer. Staatsministerium für Arbeit und soziale Fürsorge; das Ministerium wies das Versorgungsamt W an, "den Versorgungsanspruch der Witwe unter Berücksichtigung der neuen Beweismittel nochmals sachlich zu überprüfen und ihr durch einen Zugunsten-Bescheid den Rechtsweg nochmals zu eröffnen". Das Versorgungsamt lehnte in einem Bescheid vom 28. August 1952, den es auf Art. 30 Abs. 4 KBLG stützte, die Versorgungsansprüche "unter Verzicht auf die Rechtskraft der früheren Entscheidungen" wiederum ab. Das Oberversicherungsamt holte ein neues ärztliches Gutachten ein und erließ dann das Urteil vom 30. März 1953, das den Bescheid vom 28. August 1952 aufhob und den Beklagten verpflichtete, vom 1. Februar 1947 an Witwenrente zu gewähren. Hiergegen legte der Beklagte Rekurs beim Bayer. Landesversicherungsamt ein; der Rekurs ging am 1. Januar 1954 auf das Bayer. Landessozialgericht (LSG.) über. Die Kläger traten als Rechtsnachfolger ihrer am 5. November 1953 verstorbenen Mutter in das Verfahren ein.

Durch Urteil vom 9. Oktober 1956 hob das LSG. das Urteil des Oberversicherungsamts W vom 30. März 1953 auf und wies die Klage ab: Die Erteilung eines Zugunsten-Bescheides stehe im Ermessen der Verwaltungsbehörde; die Bindung des Gerichts an eine frühere rechtskräftige Entscheidung könne durch eine Erklärung der Beteiligten nicht beseitigt werden; der "Verzicht" des Versorgungsamts auf die Rechtskraft der früheren Entscheidungen sei insoweit ohne rechtliche Bedeutung; das Gericht dürfe nicht sein eigenes Ermessen an die Stelle des Ermessens der Verwaltungsbehörde setzen; es könne lediglich die Frage prüfen, ob die Verwaltungsbehörde die Grenzen ihres Ermessens überschritten oder von dem Ermessen in sachfremder Weise Gebrauch gemacht habe; ein Mißbrauch oder eine Überschreitung der Grenzen des Ermessens seien hier aber nicht ersichtlich. Die Revision ließ das LSG. zu.

Das Urteil wurde den Klägern am 14. Dezember 1956 zugestellt. Am 11. Januar 1957 legten sie Revision ein und beantragten,

unter Aufhebung des Urteils des Bayer. LSG. vom 9. Oktober 1956 nach dem Klageantrag zu erkennen,

hilfsweise,

die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Bayer. LSG. zurückzuverweisen.

Am 9. März 1957 - nach Verlängerung der Revisionsbegründungsfrist bis zum 14. März 1957 - begründeten sie die Revision: Das LSG. habe zu Unrecht nicht den Versorgungsanspruch selbst geprüft; der Verzicht des Beklagten auf die Rechtskraft wirke auch gegenüber dem Gericht, ein "Zugunsten-Bescheid" könne auch zu dem Zweck erteilt werden, den Rechtszug erneut zu eröffnen; im übrigen habe das LSG. bei der Prüfung des Ermessens der Verwaltungsbehörde die Grenzen seines Rechts, die Beweise frei zu würdigen, überschritten; zu Unrecht habe es einen Ermessensfehler deshalb verneint, weil die Verwaltungsbehörde den Anspruch auf Grund einer erschöpfenden sachlichen Prüfung des Falles abgelehnt habe; in Wirklichkeit seien Beweismittel unberücksichtigt geblieben; der Tod des Vaters der Kläger sei jedenfalls auf wehrdienstliche Einflüsse zurückzuführen.

Der Beklagte beantragte,

die Revision zurückzuweisen.

II

Die Revision ist statthaft (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 Sozialgerichtsgesetz - SGG -); die Kläger haben sie auch frist- und formgerecht eingelegt und begründet; sie ist sonach zulässig. Die Revision ist auch begründet.

Angefochten ist der Bescheid des Beklagten vom 28. August 1952; in diesem Bescheid hat der Beklagte den Antrag der Mutter der Kläger auf Gewährung einer Witwenrente nach dem Bayer. KBLG und nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) abgelehnt; der Beklagte hat darin zunächst auf Art. 30 Abs. 4 KBLG in Verbindung mit § 84 Abs. 3 BVG verwiesen und erklärt, daß er diesen Bescheid "unter Verzicht auf die Rechtskraft der früheren Entscheidung" erteile; zur Begründung des Bescheides hat er sodann ausgeführt, die nochmalige Prüfung des Versorgungsanspruches, zu der auch eine neue ärztliche Stellungnahme eingeholt worden sei, habe wiederum ergeben, daß der Tod des A Sch an einer Lungen- und Augentuberkulose keine Schädigungsfolge im Sinne der versorgungsrechtlichen Vorschriften gewesen sei.

Der Beklagte hat den Antrag auf Gewährung der Witwenrente nach dem KBLG bereits mit dem Bescheid vom 17. November 1948 abgelehnt; er hat sich in diesem Bescheid darauf berufen, daß über den Versorgungsanspruch nach früheren versorgungsrechtlichen Vorschriften rechtskräftig entschieden worden sei. Dieser Bescheid ist für die Beteiligten bindend geworden (vgl. die §§ 77 SGG, 24 des Gesetzes über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung (VerwVG) und die entsprechenden Grundsätze des allgemeinen Verwaltungsrechts); die Berufung gegen den Bescheid hat das Oberversicherungsamt Würzburg mit Urteil vom 16. Oktober 1950 zurückgewiesen. Die bindende Wirkung des Bescheids vom 17. November 1948 hat nicht bedeutet, daß die Regelung, die die Versorgungsbehörde damit getroffen hat, nunmehr unabänderlich gewesen ist; sie hat die Versorgungsbehörde nicht gehindert, zu Gunsten der Witwe eine andere Regelung zu treffen. Der Bescheid vom 17. November 1948 ist ein belastender Verwaltungsakt gewesen; die Verwaltungsbehörden sind berechtigt, belastende Verwaltungsakte, auch wenn sie unanfechtbar geworden sind oder wenn die Anfechtung keinen Erfolg gehabt hat, auf ihre Rechtmäßigkeit zu überprüfen und neue Verwaltungsakte zu erlassen, sofern sie damit die "Belastung", die in den Erstbescheiden enthalten ist, nicht erhöhen. Diese Auffassung hat für das Recht der Kriegsopferversorgung in den Vorschriften der Art. 30 Abs. 4 KBLG und § 40 VerwVG ihren besonderen Ausdruck gefunden; sie entspricht den Grundsätzen, die auch sonst im Verwaltungsrecht gelten (vgl. Knoll in "Die Sozialgerichtsbarkeit", 1956, S. 369 ff.). Im vorliegenden Fall hat die Versorgungsbehörde den Versorgungsanspruch der Witwe auf Weisung der Aufsichtsbehörde erneut geprüft; sie hat dies getan, weil ihr nach dem neuen Vorbringen der Witwe Zweifel gekommen sind, ob die tatsächlichen Voraussetzungen des Versorgungsanspruchs - insbesondere die Frage, ob ein ursächlicher Zusammenhang zwischen dem Wehrdienst und dem Tode des Ehemannes an der Tbc. bestanden hat - in den früheren Entscheidungen richtig beurteilt worden sind. Die Versorgungsbehörde hat dann den Versorgungsanspruch in dem Bescheid vom 28. August 1952 zwar erneut abgelehnt, sie hat aber - anders als in dem Bescheid vom 17. November 1948 - die Anspruchsvoraussetzungen selbst sachlich geprüft; dabei ist sie auf das neue Vorbringen der Witwe eingegangen, hat die Ermittlungen zur Feststellung des tatsächlichen Sachverhalts ergänzt und insbesondere auch ein neues ärztliches Gutachten eingeholt und ausgewertet; sie hat sich zur Begründung der erneuten Ablehnung des Versorgungsanspruchs nicht auf die Bindungswirkung der früheren Entscheidungen berufen; sie hat sich über die Anspruchsvoraussetzungen in dem Bescheid auch nicht etwa nur geäußert, um hilfsweise zu begründen, daß der frühere Bescheid, an dem sie festhalten wolle, auch sachlich richtig sei; sie ist von ihrer Aufsichtsbehörde angewiesen gewesen, den Versorgungsanspruch unter Berücksichtigung der "neuen Beweismittel" nochmals sachlich zu überprüfen und der Witwe durch einen "Zugunsten-Bescheid" den Rechtsweg nochmals zu eröffnen; daraufhin hat sie eine neue sachliche Entscheidung getroffen; diese Entscheidung stellt die "Regelung" eines Einzelfalles auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts dar, sie ist deshalb ein Verwaltungsakt. Am Erlaß dieses Verwaltungsakts hat die Versorgungsbehörde auch das Urteil des Oberversicherungsamts Würzburg vom 16. Oktober 1950, durch das die Berufung gegen den ablehnenden Bescheid vom 17. November 1948 zurückgewiesen worden ist, nicht gehindert. Die Sach- und Rechtslage, die das Oberversicherungsamt damals beurteilt hat, ist die "Regelung" gewesen, die der Bescheid vom 17. November 1948 enthalten hat. In diesem Bescheid ist die Ablehnung des Versorgungsanspruchs ausschließlich darauf gestützt worden, daß bereits nach früherem Recht rechtskräftig entschieden sei, der Tod des Ehemannes sei nicht Schädigungsfolge. Das Oberversicherungsamt hat infolgedessen auch nur entschieden, daß es "die Versorgungsbehörde nicht anweisen könne, in eine neue sachliche Prüfung auf Grund des vorgelegten Tatsachenmaterials einzutreten und einen neuen sachlichen und berufungsfähigen Bescheid zu erteilen"; die Erteilung eines "Zugunsten-Bescheides" nach Art. 30 Abs. 4 KBLG stehe im Verwaltungsermessen; den Versorgungsanspruch selbst hat das Oberversicherungsamt sachlich nicht geprüft. Die Rechtskraft des Urteils des Oberversicherungsamts hat zwar die Beteiligten gebunden, soweit über den Streitgegenstand entschieden worden ist (§ 141 SGG); entschieden hat aber das Oberversicherungsamt nur, daß der damals angefochtene Verwaltungsakt, nämlich der Bescheid vom 17. Oktober 1948, rechtmäßig gewesen ist, das heißt, daß sich die Versorgungsbehörde zu Recht auf die "Rechtskraft" der früheren Entscheidungen berufen hat. Die Rechtskraft des Urteils des Oberversicherungsamts hat sich damit nur auf den rechtlichen Gesichtspunkt, auf den in den Gründen des Urteils abgehoben ist, nicht aber auf das Rechtsverhältnis zwischen den Beteiligten in seiner Gesamtheit erstreckt (vgl. auch Eyermann-Fröhler, Kommentar zum Verwaltungsgerichtsgesetz, 2. Aufl., S. 256/257; Klinger, Verwaltungsgerichtsbarkeit in der britischen Zone, 1954 S. 49); sie hat eine andere sachliche Entscheidung über den Versorgungsanspruch nicht ausgeschlossen; sie hat die Versorgungsbehörde auch nicht gehindert, dabei neue Ermittlungsergebnisse und bisher nicht erörterte Gesichtspunkte rechtlicher oder tatsächlicher Art zu berücksichtigen. Auch die Bescheide der Versorgungsbehörde vom 27. September 1923 und 30. Mai 1925 und die Urteile des Versorgungsgerichts Würzburg vom 24. November 1925 und des Bayer. Landesversorgungsgerichts vom 8. Januar 1927, in denen über den Anspruch der Witwe nach früherem Versorgungsrecht (dem Reichsversorgungsgesetz) entschieden worden ist, haben einer sachlichen Prüfung und der Neuregelung des Versorgungsanspruchs der Witwe nach dem KBLG und dem BVG nicht entgegengestanden; diese Entscheidungen sind mit dem Außerkrafttreten des früheren Versorgungsrechts gegenstandslos geworden (vgl. hierzu BSG. 3, S. 251 (256, 257)); soweit sie im Hinblick auf § 85 BVG (Art. 1 Ziff. 4 KBLG in Verbindung mit § 42 Abs. 1 DVO zum KBLG) noch von Bedeutung gewesen sind, haben sie, weil sie belastende Verwaltungsakte gewesen sind oder belastende Verwaltungsakte bestätigt haben, die Verwaltung auch nicht hindern können, neue Verwaltungsakte zu erlassen, sofern dadurch die frühere Belastung nicht erhöht worden ist. "Neue" Verwaltungsakte sind von den Gerichten wie "Erstbescheide" in vollem Umfang nachzuprüfen. Dabei kommt es nicht darauf an, ob die Behörde bei Erlaß des neuen Verwaltungsakts auch erklärt hat, sie verzichte auf die "Rechtskraft" (richtig: die bindende Wirkung) des ersten Verwaltungsakts; entscheidend ist allein, daß ein neuer Bescheid vorliegt, der rechtlich als Verwaltungsakt zu werten ist. Hat die Behörde, wie dies hier der Fall ist, in dem neuen Bescheid eine neue "Regelung" getroffen und liegt deshalb ein Verwaltungsakt vor, so hat der Betroffene, soweit er beschwert ist, auch die Möglichkeit, die gerichtliche Prüfung dieses Verwaltungsakts herbeizuführen; das gilt auch dann, wenn durch die "neue Regelung" das sachliche Begehren des Antragstellers wiederum abgelehnt worden ist, wenn also der "Verfügungssatz" des neuen Verwaltungsakts genauso lautet wie der "Verfügungssatz" des ersten Verwaltungsakts.

Das LSG. hat deshalb zu Unrecht nicht geprüft, ob der Versorgungsanspruch der Witwe begründet und damit der Bescheid des Beklagten vom 28. August 1952 rechtswidrig gewesen ist. Die Revision ist danach begründet. Das angefochtene Urteil ist aufzuheben; da das LSG. keine eigenen sachlichen Feststellungen getroffen hat, ist die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG. zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG).

Die Entscheidung über die Kosten bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.

 

Fundstellen

BSGE, 248

NJW 1959, 2183

MDR 1960, 82

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