Entscheidungsstichwort (Thema)

Hachscharah. fiktive Beitragszeit

 

Orientierungssatz

Eine fiktive Beitragszeit iS des § 14 Abs 2 S 1 WGSVG kann nur dann angenommen werden, wenn während der Beschäftigung auf einem jüdischen Lehrgut (Zeit der Hachscharah) ein Arbeitsentgelt gezahlt wurde.

 

Normenkette

WGSVG § 14 Abs 2 S 1 Fassung: 1970-12-22

 

Verfahrensgang

SG Düsseldorf (Entscheidung vom 08.08.1980; Aktenzeichen S 14 J 8/80)

 

Tatbestand

Streitig ist, ob eine Hachscharah-Zeit der Klägerin vom 2. Mai bis zum 30. Dezember 1938 als fiktive Beitragszeit anzuerkennen ist.

Die im Jahre 1922 geborene Klägerin jüdischer Abstammung ist Verfolgte iS des Bundesentschädigungsgesetzes (BEG). Sie mußte verfolgungsbedingt die Oberschule verlassen und begab sich danach zur Vorbereitung auf eine beabsichtigte Auswanderung von Mai bis Dezember 1938 auf das jüdische Lehrgut W. Nach einem Zeugnis vom 20. Januar 1939 war sie dort als landwirtschaftliche Praktikantin tätig und wurde in den Abteilungen Haus, Küche und Waschküche sowie einige Zeit in der Landwirtschaft beschäftigt. Neben freier Kost und Unterkunft erhielt die Klägerin nach ihren Angaben wöchentlich 3 bis 5 RM in bar ausgezahlt. Im Mai 1939 wanderte sie nach Australien aus.

Mit Bescheid vom 22. April 1977 lehnte die Beklagte es ab, die Tätigkeit auf Gut W als fiktive Beitragszeit anzuerkennen; zugleich verneinte sie eine anrechnungsfähige Verfolgtenersatzzeit sowie das Recht der Klägerin zur Beitragsnachentrichtung nach §§ 9 und 10 des Gesetzes zur Regelung der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung (WGSVG). Das Sozialgericht (SG) Düsseldorf hat die gegen die Ablehnung erhobene Klage abgewiesen (Urteil vom 8. August 1980): Die Klägerin habe während der Hachscharah-Zeit keine rentenversicherungspflichtige Beschäftigung iS des § 14 Abs 2 Satz 1 WGSVG ausgeübt. Bei der Hachscharah, der Vorbereitung oder Tauglichmachung für die beabsichtigte Auswanderung, habe es sich um ein umfassendes Selbsthilfeunternehmen der Juden gehandelt. Sein Ziel sei es gewesen, unter Aufbietung der verfügbaren Kräfte und Mittel aller Beteiligten die vom Staat erzwungene Selbstausgliederung zu bewältigen. In der sogenannten Mittleren-Hachscharah für die 14 bis 17jährigen habe in erster Linie die Schulerziehung fortgesetzt werden sollen, daneben seien aber auch die Jugendlichen körperlich und geistig für den Aufenthalt in dem Auswanderungsland zu ertüchtigen gewesen. Dies mache den eher schulmäßigen, auf den Auswanderungszweck ausgerichteten Charakter der Hachscharah deutlich und lasse eine Wertung des Aufenthalts auf den Lehrgütern als versicherungspflichtige Beschäftigung nicht zu. Bei auswärtiger Unterbringung hätten die Eltern einen finanziellen Beitrag leisten müssen. Nur wenn sie diesen nicht hätten aufbringen können, seien Zuschüsse in Form von Darlehen gewährt worden. Die grundsätzliche Kostenpflicht der Ausbildung mache deutlich, daß die Hachscharah nicht auf Austausch von Arbeit gegen Entgelt angelegt gewesen sei. Bei den Barzuwendungen habe es sich um versicherungsrechtlich unerhebliches Taschengeld gehandelt, das die Jugendlichen in Ergänzung der Unterhaltsgewährung durch Kost, Unterbringung und Kleidung erhalten hätten.

Gegen dieses Urteil hat die Klägerin die vom SG zugelassene Sprungrevision eingelegt. Sie macht die unrichtige Anwendung des § 14 Abs 2 Satz 1 WGSVG geltend. Wahrscheinlich seien zwar für sie keine Beiträge zur Rentenversicherung abgeführt worden, ihre Tätigkeit auf Gut W sei jedoch versicherungspflichtig gewesen. Es habe sich nicht nur um eine schulmäßige Fortbildung gehandelt; vielmehr sei eine praktische Tätigkeit ausgeübt worden, wobei sie in persönlicher und wirtschaftlicher Abhängigkeit Arbeit von wirtschaftlichem Wert verrichtet habe. Nur die Abführung der Beiträge sei verfolgungsbedingt unterblieben.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom

8. August 1980 aufzuheben und die Beklagte zu

verurteilen, unter Abänderung ihres Bescheides vom

22. April 1977 die Zeit vom 2. Mai 1938 bis

30. Dezember 1938 als Versicherungszeit und die Zeit

vom 1. Januar 1939 bis 31. Dezember 1949 als

verfolgungsbedingte Ersatzzeit zu berücksichtigen

und der Klägerin zu gestatten, Beiträge gemäß § 10

WGSVG nachzuentrichten.

Die Beklagte beantragt,

die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist nicht begründet.

Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Anrechnung der Zeit vom 2. Mai bis zum 30. Dezember 1938 als fiktive Beitragszeit. Nach § 14 Abs 2 Satz 1 WGSVG vom 22. Dezember 1970 (BGBl I S 1846) gelten Rentenversicherungsbeiträge für Zeiten als entrichtet, in denen ein Verfolgter eine rentenversicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit ausgeübt hat, für die aus Verfolgungsgründen eine Beitragsentrichtung unterblieben ist. Diese Voraussetzungen liegen nicht vor. Dabei bedarf es keiner weiteren Aufklärung, welche Tätigkeiten die Klägerin im einzelnen ausgeübt hat, ob die praktische Arbeit in Haus und Landwirtschaft im Vordergrund stand, oder ob die Ausbildung mehr lehrgangsmäßig auf eine Wissensvermittlung ausgerichtet war. Vielmehr kommt es entscheidend darauf an, ob die Klägerin auf Gut W eine an sich rentenversicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit ausgeübt hat. Der Begriff der rentenversicherungspflichtigen Beschäftigung, wie er in § 14 Abs 2 Satz 1 WGSVG verwendet wird, stimmt mit dem entsprechenden Begriff in der Reichsversicherungsordnung (RVO) überein. Dies hat der erkennende Senat bereits mehrfach entschieden (vgl BSG Urteil vom 10. Dezember 1974 - 4 RJ 379/73 - SozR 5070 § 14 Nr 2 = BSGE 38, 245, 247; Urteil vom 26. Mai 1976 - 4 RJ 359/74 = SozR 5070 § 14 Nr 4). Nach § 1226 Abs 1 Nr 4 RVO in der Fassung, wie sie seit dem 1. Januar 1923 und während der hier streitigen Zeit gegolten hat (aF), waren grundsätzlich auch Lehrlinge rentenversicherungspflichtig in der damaligen Invalidenversicherung. Wenn auch der Begriff "Lehrling" in einem umfassenden Sinn verwendet und darunter alle Personen verstanden worden sind, die zum Zwecke der Fachausbildung in ein Beschäftigungsverhältnis getreten waren (vgl Anleitung des Reichsversicherungsamts -RVA- über den Kreis der nach der RVO gegen Invalidität und gegen Krankheit versicherten Personen vom 26. April 1912, Ziff 39 = AN 1912, Seiten 721, 760 und Jantz-Zweng, Das neue Recht der Rentenversicherung der Arbeiter und der Angestellten, 1957, Anm 2 zu § 1227 RVO), so bestehen hier doch bereits erhebliche Zweifel, ob die Klägerin tatsächlich Lehrling iS der RVO gewesen ist. Denn in dem vom Gut W - Jüdisches Lehrgut S S - am 20. Januar 1939 ausgestellten Zeugnis wird sie lediglich als landwirtschaftliche Praktikantin bezeichnet. Zwar ist für die sozialversicherungsrechtliche Einordnung seit jeher weder auf die Berufsbezeichnung noch in erster Linie auf die vertragliche Abmachung abgestellt worden, sondern maßgebend war die tatsächliche Ausgestaltung der Verhältnisse; immerhin liegt aber die Schlußfolgerung nahe, daß ein Lehrgut dieser Größenordnung den Begriff "Praktikantin" zutreffend und bewußt abgrenzend von einem Lehrverhältnis gewählt hat. Überdies sind von den gewichtigen Umständen, die nach Bundessozialgericht (BSG) vom 30. Januar 1963 - 3 RK 36/59 (= BSGE 18, 246, 248, 249) für die Annahme einer Beschäftigung als Lehrling sprechen, hier keine festgestellt worden.

Selbst wenn hiernach noch die Möglichkeit bestehen bleiben sollte, daß die Klägerin Lehrling gewesen sei, hat aus folgenden Gründen keine Versicherungspflicht bestanden: Lehrlinge unterlagen nach § 1226 Abs 2 RVO aF nur dann der Rentenversicherungspflicht, wenn ein Entgelt gezahlt wurde. Die Klägerin hat während ihrer landwirtschaftlichen Tätigkeit freie Unterkunft und Verpflegung erhalten sowie 3 bis 5 RM wöchentlich. Ob die freie Kost und Logis dabei als Entgelt zu werten sind, kann dahingestellt bleiben; bejahendenfalls würde dies gleichwohl keine Versicherungspflicht der Klägerin in der Rentenversicherung begründet haben, weil nach § 1227 RVO aF eine Beschäftigung, für die als Entgelt nur freier Unterhalt gewährt wurde, versicherungsfrei war.

An die tatsächlichen Feststellungen, aus denen das SG gefolgert hat, die bar ausgezahlten 3 bis 5 RM wöchentlich seien kein Entgelt gewesen, ist das Revisionsgericht nach § 163 des Sozialgerichtsgesetzes (gGG) gebunden, da hiergegen von der Klägerin keine zulässigen und begründeten Revisionsrügen erhoben worden sind. Das Erstgericht hat nach Auffassung des Senats aber auch zu Recht entschieden, daß es sich bei den 3 bis 5 RM wöchentlich nicht um ein Entgelt gehandelt hat und deshalb eine Versicherungspflicht nicht bejaht werden kann. Entgelt iS des § 160 RVO aF ist nur, was als Gegenleistung für verrichtete Arbeiten gewährt wird (RVO-Kommentar, hrsg von Mitgliedern des Reichsversicherungsamtes, Bd I, 2. Aufl 1930 § 160 Anm 1). Dabei ist es unerheblich, ob die Arbeitsleistung der eigentliche Zweck des Beschäftigungsverhältnisses ist, oder ob in erster Linie eine andere Absicht verfolgt wird, wie es bei einem Ausbildungsverhältnis der Fall sein mag. Eine die Versicherungspflicht begründende Zuwendung liegt stets nur dann vor, wenn damit eine für den Arbeitgeber geleistete Arbeit vergütet wird. Dies trifft auf die der Klägerin wöchentlich gezahlten 3 bis 5 RM nicht zu.

Die Teilnahme an der Hachscharah-Zeit auf den landwirtschaftlichen Gütern war grundsätzlich kostenpflichtig. Die Kosten waren von den Eltern zu tragen. Nur wenn und soweit deren wirtschaftliche Lage dies nicht erlaubte, traten jüdische Organisationen für sie ein und gewährten Zuschüsse in Form von Darlehen. Auch soweit den Jugendlichen ein wöchentliches Taschengeld gezahlt wurde, war dies Teil der von den Eltern oder den jüdischen Hilfsorganisationen aufzubringenden Teilnahmekosten. Das der Klägerin ausgezahlte Taschengeld wurde damit als Unterhaltsleistung erbracht; dies schließt es aus, es als Arbeitsentgelt anzusehen. Dem steht die Entscheidung des 1. Senats vom 13. März 1979 - 1 RJ 24/78 - (= SozR 5070 § 14 Nr 8) nicht entgegen. In jenem Urteil ist der 1. Senat deshalb von einer Entgeltzahlung für einen Hachscharah-Teilnehmer ausgegangen, weil das Berufungsgericht sie bindend festgestellt hatte (vgl § 163 SGG). Darauf wird in den Gründen des Urteils ausdrücklich hingewiesen.

Da die Tätigkeit der Klägerin auf Gut W nicht als versicherungspflichtige Beschäftigung gilt und die Klägerin auch sonst keine Versicherungszeiten in der deutschen Rentenversicherung zurückgelegt hat, kann auch keine anrechnungsfähige Ersatzzeit anerkannt werden. Die Klägerin ist auch nicht zur Nachentrichtung von Beiträgen nach § 10 WGSVG berechtigt; denn dies setzt eine Vorversicherungszeit von 60 Kalendermonaten voraus.

Nach alledem war die Revision der Klägerin in vollem Umfang zurückzuweisen.

Die Entscheidung über die Kosten folgt aus § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1658764

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