Leitsatz (amtlich)

Zur Frage, unter welchen Voraussetzungen während einer "Hachscharah" (Ausbildung eines Jugendlichen in einem jüdischen Landwerk) eine Beitragsentrichtung iS WGSVG § 14 Abs 2 S 1 aus Verfolgungsgründen unterblieben ist (Anschluß an BSG 1974-03-27 1 RA 197/73 = SozR 5070 § 14 Nr 1).

 

Leitsatz (redaktionell)

Während der Hachscharah im jüdischen Landwerk Ahrensdorf im Jahre 1939 wurde eine rentenversicherungspflichtige Beschäftigung aufgrund eines einem Lehrverhältnis gleichzusetzenden Ausbildungsverhältnisses ausgeübt.

 

Normenkette

WGSVG § 14 Abs. 2 S. 1 Fassung: 1970-12-20

 

Verfahrensgang

LSG Hamburg (Entscheidung vom 10.11.1977; Aktenzeichen V JBf 28/75)

SG Hamburg (Entscheidung vom 01.04.1975; Aktenzeichen 16 J 43/73)

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 10. November 1977 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat dem Kläger dessen außergerichtliche Kosten auch für das Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Tatbestand

Gegenstand des Rechtsstreits ist ein Anspruch des Klägers auf Gewährung einer Versichertenrente. Die Beteiligten streiten insbesondere darum, ob die Zeit einer sogenannten "Hachscharah" als Beitragszeit zu geltend hat.

Der 1924 in L geborene Kläger ist Verfolgter im Sinne des Bundesentschädigungsgesetzes (BEG). Nach dem Besuch der Volksschule und der jüdischen Schule in L war er von März bis Juni 1939 im jüdischen Landwerk Ahrensdorf (Kreis Teltow) tätig, um sich durch Erlernen eines Berufs auf seine beabsichtigte Auswanderung vorzubereiten (Hachscharah). Am 18. Juli 1939 wanderte er nach Großbritannien aus. Dort lebt er heute noch. Seit 1948 ist er britischer Staatsbürger. Für ihn wurden zu keiner Zeit Beiträge zur deutschen Rentenversicherung entrichtet.

Im April 1972 beantragte der Kläger bei der Beklagten die Gewährung von Rente wegen Berufs- bzw Erwerbsunfähigkeit. Die Beklagte lehnte den Antrag mit Bescheid vom 5. Dezember 1972 ab, weil die gesetzliche Wartezeit nicht erfüllt sei.

Das Sozialgericht (SG) Hamburg hat die Beklagte verurteilt, dem Kläger Rente wegen Erwerbsunfähigkeit zu gewähren (Urteil vom 1. April 1975). Das Landessozialgericht (LSG) Hamburg hat die Berufung der Beklagten mit der Maßgabe zurückgewiesen, daß die Rente wegen Erwerbsunfähigkeit ab April 1972 zu gewähren ist (Urteil vom 10. November 1977); es hat die Revision zugelassen. Zur Begründung hat es ua ausgeführt:

Der Kläger sei erwerbsunfähig und erfülle auch die für die Gewährung der Rente vorausgesetzte Wartezeit. Gemäß § 14 Abs 2 Satz 1 des Gesetzes zur Regelung der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung (WGSVG) vom 22. Dezember 1970 (BGBl I S 1846) würden Beiträge zur Rentenversicherung für die Tätigkeit des Klägers im Landwerk A von März bis Juni 1939 als entrichtet gelten. Die Beitragszeit und die anschließende, als Ersatzzeit anzurechnende Zeit des verfolgungsbedingten Auslandsaufenthaltes bis zum 31. Dezember 1949 (§ 1251 Abs 1 Nr 4 der Reichsversicherungsordnung - RVO -) überschritten die für die Erfüllung der Wartezeit geforderten 60 Kalendermonate.

Der Kläger sei Verfolgter. Die von ihm nach Beendigung seiner Schulzeit angestrebte handwerkliche Lehre habe er wegen der von den nationalsozialistischen Machthabern vorgenommenen Maßnahmen zur Ausschaltung von Juden aus dem Wirtschaftsleben nicht aufnehmen können und sich daher zur Auswanderung entschlossen. Zur Vorbereitung der Auswanderung habe er auf seine Bewerbung hin am 1. März 1939 die "Hachscharah" im jüdischen Landwerk A (Kreis T) angetreten, die er vorzeitig beendet habe, um nach Großbritannien auszureisen.

Nach der ua auf die Aussagen der Zeugen Prof. Dr. S und W gegründeten Überzeugung des Gerichts seien die im Rahmen der landwirtschaftlichen Ausbildung des Klägers im Landwerk Ahrensdorf ausgeübten Tätigkeiten nach § 1226 Abs 1 Nr 4 RVO aF rentenversicherungspflichtig gewesen. Bei der rechtlichen Beziehung des Klägers zum Landwerk A habe es sich um ein dem Lehrlingsverhältnis entsprechendes Ausbildungsverhältnis gehandelt, bei welchem die Leistung einer Arbeit von wirtschaftlichem Wert im Vordergrund gestanden habe. So habe sich das Landwerk A mit den wirtschaftlichen Erzeugnissen der Arbeit der dort Beschäftigten teilweise selbst finanziert. Der Kläger sei wie ein Lehrling verpflichtet gewesen, die von ihm geforderten Tätigkeiten zu erbringen. Da die praktische Tätigkeit des Klägers im Vordergrund gestanden habe, sei ein Ausbildungsverhältnis mit überwiegend schulischem Charakter auszuschließen.

Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme sei glaubhaft, daß der Kläger für seine Tätigkeit Barbezüge in Höhe von mindestens 2,50 RM wöchentlich erhalten habe. Die Barbezüge zusammen mit den Sachbezügen (freie Unterkunft und Verpflegung) seien als Entgelt iS der §§ 1226, 160 RVO aF anzusehen, dessen Bezug aufgrund einer Beschäftigung die Rentenversicherungspflicht begründet habe. Die Barvergütung des Klägers habe ein Sechstel des damaligen Ortslohns von 1,80 RM überstiegen.

Die Entrichtung von Beiträgen zur Rentenversicherung für die Tätigkeit des Klägers im Landwerk A sei aus Verfolgungsgründen unterblieben, denn das sei auch der Fall, wenn ein Verfolgter mangels anderer Möglichkeiten eine Beschäftigung bei einem Arbeitgeber aufgenommen habe, der grundsätzlich für die bei ihm tätigen Personen keine Beiträge entrichtet habe (vgl BSG SozR 5070 § 14 Nr 4). Die Entrichtung der Beiträge durch das Landwerk Ahrensdorf und ihre Entgegennahme durch einen Rentenversicherungsträger hätten dem Zweck der Verfolgung entgegengestanden. Zudem sei die Entrichtung von Beiträgen zur Rentenversicherung von der Gestapo, die die jüdischen Ausbildungslager kontrolliert habe, unterbunden worden, wie sich aus der Aussage des Zeugen Prof. Dr. S ergeben habe.

Mit der Revision rügt die Beklagte eine Verletzung des § 14 Abs 2 WGSVG. In tatsächlicher Hinsicht bestünden Zweifel an der Feststellung des LSG, daß der Kläger für seine Tätigkeit im Landwerk A neben Kost und Logis ein ausreichendes, dem Grunde nach Versicherungspflicht begründendes Entgelt bezogen habe. In rechtlicher Hinsicht sei auf der Grundlage der tatsächlichen Feststellungen des LSG zwar davon auszugehen, daß die Tätigkeit des Klägers im Landwerk A eine versicherungspflichtige Beschäftigung gewesen sei. Damit sei aber noch nicht festgelegt, daß aus Verfolgungsgründen keine Beiträge entrichtet worden seien. Hierfür sei nach dem Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 27. März 1974 (SozR 5070 § 14 Nr 1) erforderlich, daß für die an sich rentenversicherungspflichtige Beschäftigung aus individuellen, konkreten Verfolgungsgründen keine Beiträge entrichtet worden seien. Der allgemeine Verfolgungsdruck auf die jüdischen Mitbürger während der damaligen Zeit reiche demnach für die Anwendung des § 14 Abs 2 WGSVG nicht aus (so auch Schmidinger, SozVers 1976, S 69 f). Das LSG habe sich demgegenüber der Entscheidung des 4. Senats des BSG vom 26. Mai 1976 (SozR 5070 § 14 Nr 4) angeschlossen. Danach müsse § 14 Abs 2 Satz 1 WGSVG auch dann eingreifen, wenn eine Beschäftigung aus Verfolgungsgründen mangels anderer Möglichkeiten bei einem Arbeitgeber aufgenommen worden sei, der grundsätzlich für die bei ihm tätigen Personen keine Beiträge entrichtet habe, selbst wenn hierdurch eine bestimmte Gruppe von Verfolgten berührt werde. Dieses Urteil des BSG stelle eine Abweichung von der bisherigen Rechtsprechung dar und ziehe eine erhebliche Ausdehnung des Anwendungsbereiches des § 14 Abs 2 WGSVG nach sich. Andererseits habe das Urteil vom 26. Mai 1976 sich nicht abschließend mit der hier entscheidenden Rechtsfrage auseinanderzusetzen brauchen, weil der Rechtsstreit zwecks Klärung der tatsächlichen Voraussetzungen an das Berufungsgericht zurückverwiesen und dort inzwischen anderweitig erledigt worden sei. Es sei daher nunmehr höchstrichterlich zu klären, ob § 14 Abs 2 WGSVG auch dann angewendet werden könne, wenn es sich lediglich um den "allgemeinen Verfolgungsdruck" gehandelt habe, der auch dazu geführt habe, daß sich insbesondere Jugendliche in landwirtschaftlichen Ausbildungsstätten auf eine Tätigkeit im Ausland vorbereiteten.

Die Beklagte beantragt,

die Urteile des Landessozialgerichts Hamburg vom 10. November 1977 sowie des Sozialgerichts Hamburg vom 1. April 1975 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Er trägt vor, er habe die Hachscharah auf dem Landwerk Ahrensdorf aufgrund konkreter Verfolgungsmaßnahmen angetreten. Er sei nämlich daran gehindert worden, den angestrebten Beruf eines Dekorationsmalers zu erlernen und auszuüben. Dieser Ausschluß vom angestrebten Beruf sei eine konkrete Verfolgungsmaßnahme. Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts habe die Gestapo die Leistung von Beiträgen zur Rentenversicherung ausdrücklich unterbunden. Eine derartige Anordnung der Gestapo stelle sich selbst dann als individuelle und konkrete Verfolgungsmaßnahme dar, wenn sie gegen sämtliche Teilnehmer einer landwirtschaftlichen Hachscharah gerichtet gewesen sei.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung gemäß § 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) einverstanden erklärt.

 

Entscheidungsgründe

Die durch Zulassung statthafte Revision der Beklagten ist zulässig, aber nicht begründet.

Die Vorinstanzen haben die Beklagte zu Recht verpflichtet, dem Kläger Rente wegen Erwerbsunfähigkeit zu gewähren. Der Kläger ist erwerbsunfähig. Dies räumt auch die Beklagte ein. Ebenso hat er die Wartezeit von 60 Kalendermonaten (§ 1247 Abs 3 RVO) erfüllt. Auf sie ist die Zeit des Auslandsaufenthaltes des Klägers bis zum 31. Dezember 1949 anzurechnen (§ 1251 Abs 1 Nr 4 RVO). Denn in der der Auswanderung des Klägers vorhergegangenen Zeit hat iS des § 1251 Abs 2 Satz 1 RVO eine Versicherung bestanden.

Der Kläger hat während seiner Tätigkeit im Landwerk A von März bis Juni 1939 die in § 14 Abs 2 Satz 1 WGSVG aufgestellten Voraussetzungen erfüllt. Danach muß der Verfolgte eine rentenversicherungspflichtige Tätigkeit ausgeübt haben, für die aus Verfolgungsgründen keine Beiträge zur Rentenversicherung entrichtet worden sind.

Der Anwendung des § 14 Abs 2 Satz 1 WGSVG steht nicht entgegen, daß der Kläger vor dem Tatbestand, der die Fiktion der Beitragsleistung ausgelöst hat, noch nicht der gesetzlichen Rentenversicherung angehört hat (vgl BSG SozR 5070 § 14 Nr 1 und Nr 4). Auch derjenige Verfolgte, der "erstmalig" eine versicherungspflichtige Beschäftigung ausübt, wird von § 14 Abs 2 WGSVG erfaßt (BSG aaO). Ob ein Verfolgter eine rentenversicherungspflichtige Beschäftigung während einer sogenannten Hachscharah ausgeübt hat, läßt sich nur im Einzelfall nach Art und Gestaltung der jeweiligen Tätigkeit und ihrer wirtschaftlichen Bedeutung beurteilen.

Der Kläger, der Verfolgter iS des BEG ist und damit die Voraussetzung des § 1 Abs 1 WGSVG erfüllt, hat während der Hachscharah im Landwerk A von März bis Juni 1939 eine rentenversicherungspflichtige Beschäftigung aufgrund eines einem Lehrverhältnis gleichzusetzenden Ausbildungsverhältnisses ausgeübt. Maßgebend für das Vorliegen eines Beschäftigungsverhältnisses ist die persönliche Abhängigkeit des Beschäftigten, dh seine Weisungsunterworfenheit und seine Eingliederung in den Betrieb (BSGE 20, 6, 8; BSG SozR 2200 § 1227 Nr 8; 4100 § 168 Nr 7). Das LSG hat festgestellt, daß der Kläger "wie ein Lehrling" verpflichtet gewesen ist, bestimmte Tätigkeiten auszuüben. Es hat daraus zutreffend die Eingliederung des Klägers in den Betrieb des Landwerks A und seine Weisungsunterworfenheit geschlossen. Das LSG hat aufgrund des Beweisergebnisses weiter festgestellt, daß in dem Ausbildungsverhältnis die praktische Tätigkeit des Klägers im Vordergrund gestanden hat. Es sind zudem Arbeiten von wirtschaftlichem Wert verrichtet worden (vgl dazu BSG SozR 5070 § 14 Nr 4; 4100 § 168 Nr 7), denn die landwirtschaftlichen Erzeugnisse der Ausbildungsstätte A sind zum Teil verkauft worden. Der Erlös hat der Finanzierung des Landwerks mitgedient.

Für Lehrlinge, denen der Kläger aufgrund seiner Tätigkeit im Landwerk A gleichzusetzen ist, hat zur damaligen Zeit gemäß § 1226 Abs 1 Nr 4 RVO aF Versicherungspflicht bestanden, sofern sie gegen Entgelt beschäftigt gewesen sind (§ 1226 Abs 2, § 160 RVO aF). Das hat im Jahre 1939 grundsätzlich auch noch für jüdische Beschäftigte gegolten (BSG SozR 5070 § 14 Nr 4).

Nach den Feststellungen des LSG hat der Kläger für seine Tätigkeit eine Barvergütung von mindestens 2,50 RM wöchentlich erhalten. Da die Tätigkeit des Klägers - zumindest auch - dem Ziel des Gelderwerbs zur Befriedigung seiner persönlichen Lebensbedürfnisse gedient hat, ist diese Barvergütung als Entgelt zu werten (zum Entgeltbegriff BSG SozR 4100 § 168 Nr 7).

Nach den für die Versicherungspflicht von Lehrlingen maßgeblichen Richtlinien vom 1. März 1932 (dazu BSG SozR 5070 § 14 Nr 4), aufgestellt vom ständigen Ausschuß des Reichsverbandes Deutscher Landesversicherungsanstalten in Übereinstimmung mit der Vereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände und dem Reichsverband des Deutschen Handwerks (veröffentlicht bei Beurskens/Grintsch, AmtlMittLVA Rheinprovinz 1971, S 310, 314), haben die neben freiem Unterhalt gewährten Barbezüge die Versicherungspflicht in der Invalidenversicherung ausgelöst, wenn die wöchentlichen Barbezüge des Lehrlings ein Sechstel des jeweiligen Ortslohns überschritten haben (Nr 3 der Richtlinien). Nach den Feststellungen des LSG sind die Barbezüge, die dem Kläger neben dem freien Unterhalt gewährt worden sind, höher gewesen als das maßgebliche Ortslohnsechstel. Die Tätigkeit des Klägers hat damit der Rentenversicherungspflicht unterlegen.

Die tatsächlichen Feststellungen, aus denen das LSG die Rechtsfolgen hergeleitet hat, daß der Kläger im Landwerk Ahrensdorf in einem Beschäftigungsverhältnis gestanden und ein für die Begründung der Versicherungspflicht ausreichendes Entgelt bezogen hat, sind für den Senat bindend (§ 163 SGG). Die Beklagte hat hiergegen keine zulässigen und begründeten Rügen erhoben. Zwar hat sie Zweifel an der Tatsachenfeststellung des LSG geäußert und weiter dargelegt, wie nach ihrer Ansicht die festgestellten Tatsachen zu würdigen seien. Durchgreifende Verfahrensrügen sind dem jedoch nicht zu entnehmen. Insbesondere hat die Beklagte nicht die Umstände schlüssig aufgeführt, aufgrund derer sich das Berufungsgericht aus seiner Sicht zur weiteren Aufklärung hätte gedrängt fühlen müssen, und keine weiteren Beweismittel angegeben, von denen das Berufungsgericht hätte Gebrauch machen können und müssen.

Die Beitragsentrichtung für die Tätigkeit des Klägers ist aus Verfolgungsgründen unterblieben.

Wie der erkennende Senat in seinem Urteil vom 27. März 1974 (SozR 5070 § 14 Nr 1) ausgeführt hat, ergibt sich aus Wortlaut und Entstehungsgeschichte des § 14 Abs 2 WGSVG, daß aus individuellen, konkreten Verfolgungsgründen keine Beiträge entrichtet worden sein dürfen. Die Unterlassung der Beitragsentrichtung muß danach auf eine gegen ganz bestimmte Personen, nämlich den Arbeitgeber oder den Arbeitnehmer, gerichtete Verfolgungsmaßnahme zurückzuführen sein. Der allgemeine Verfolgungsdruck der damaligen Zeit gegen jüdische Mitbürger genügt dagegen nicht. Der 4. Senat des BSG (SozR 5070 § 14 Nr 4) will § 14 Abs 2 Satz 1 WGSVG nach dessen Sinn und Zweck auch eingreifen lassen, wenn eine Beschäftigung aus Verfolgungsgründen mangels anderer Möglichkeiten bei einem Arbeitgeber aufgenommen worden ist, der grundsätzlich für die bei ihm tätigen Personen keine Beiträge entrichtet hat, selbst wenn hierdurch eine bestimmte Gruppe von Verfolgten berührt worden ist. Es kann auf sich beruhen, ob der 4. Senat hiermit von dem Urteil des erkennenden Senats abgewichen ist bzw hat abweichen wollen oder ob nicht auch unter der von ihm angenommenen Voraussetzung jedenfalls gegenüber dem einzelnen Beschäftigten eine konkrete und individuelle Verfolgungsmaßnahme vorliegt. Selbst wenn dies zu verneinen wäre, ist im vorliegenden Fall eine Beitragsentrichtung für den Kläger aufgrund einer solchen Verfolgungsmaßnahme unterblieben.

Nach den nicht angegriffenen Feststellungen des LSG, das sich insoweit auf die Bekundungen des Zeugen Prof. Dr. S stützt, ist die Entrichtung von Beiträgen zur Rentenversicherung durch die jüdischen kollektiven Ausbildungsstätten von der Gestapo, die diese kontrolliert hat, unterbunden worden. Das Berufungsgericht bezieht diese Aussage auch auf das Landwerk A. Die Unterbindung der Beitragsentrichtung durch die Gestapo hat sich demnach auch gegen die Ausbildungsstätte Landwerk A als Arbeitgeber des Klägers gerichtet. Sie ist damit eine individuelle, konkrete Verfolgungsmaßnahme iS des § 14 Abs 2 Satz 1 WGSVG gewesen. Denn an der Individualität und Konkretisierung einer Verfolgungsmaßnahme ändert sich nichts dadurch, daß sie gegenüber mehreren Arbeitgebern oder mehreren Arbeitnehmern in gleicher Weise ergriffen worden ist. Darüber hinaus hat, wie das LSG zutreffend dargelegt hat, auch gegenüber dem Kläger deswegen eine konkrete, individuelle Verfolgungsmaßnahme vorgelegen, weil er den von ihm angestrebten Beruf nicht hat ausüben können und als Voraussetzung für die Auswanderung eine berufliche Ausbildung hat aufnehmen müssen, bei der festgestanden hat, daß für sie keine Beiträge zur Rentenversicherung entrichtet würden. Der allgemeine Verfolgungsdruck, dem die jüdischen Mitbürger zur damaligen Zeit ausgesetzt waren, konkretisiert sich dann zur individuellen Verfolgungsmaßnahme, wenn Verfolgte nur Tätigkeiten haben aufnehmen können, die zwar der Rentenversicherungspflicht unterlegen haben, für die aber der Arbeitgeber - aus verschiedenen Gründen - keine Beiträge gezahlt hat. Die Amtliche Begründung zu § 14 Abs 2 WGSVG (vgl BSG SozR 5070 § 14 Nr 1), die auf die Gefährdung des Verfolgten oder seines Arbeitgebers abstellt, wegen der die Beitragszahlung unterblieben sein muß, gibt nur den augenfälligsten Fall für die Nichtleistung der Beiträge aus Verfolgungsgründen an. Das Tatbestandsmerkmal "aus Verfolgungsgründen" in § 14 Abs 2 Satz 1 WGSVG wird dadurch aber nicht allein auf diesen Anwendungsbereich verengt.

Für die Tätigkeit des Klägers im Landwerk A von März bis Juni 1939 gelten daher Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung als entrichtet (§ 14 Abs 2 Satz 1 WGSVG). Die angeführten Zeiten sind Beitragszeiten gemäß § 1251 Abs 2 RVO. Mit der bis 31. Dezember 1949 als Ersatzzeit anzurechnenden Zeit des verfolgungsbedingten Auslandsaufenthaltes hat der Kläger die gesetzliche Wartezeit von 60 Kalendermonaten als Voraussetzung für die Gewährung der Erwerbsunfähigkeitsrente erfüllt. Ihm steht diese Rente zu.

Die Revision der Beklagten ist daher zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Abs 1 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1653729

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