Entscheidungsstichwort (Thema)

Unfallversicherungsschutz nach § 539 Abs 2 RVO bei der Betreuung eines Patenkindes

 

Orientierungssatz

Für einen Versicherungsschutz gemäß § 539 Abs 2 iVm Abs 1 Nr 1 RVO bei der Betreuung eines Patenkindes reicht es nicht aus, daß das Kind zB auch von einem Kindermädchen im Rahmen eines Arbeits- oder Dienstverhältnisses hätte beaufsichtigt und betreut werden können. Es kommt vielmehr darauf an, ob die Verletzte unter ähnlichen Umständen wie ein Kindermädchen oder eine andere zur Kinderbetreuung im "Unternehmen" eines Privathaushalts (vgl BSG 1959-04-22 2 RU 245/57 = SozR Nr 16 zu § 537 RVO aF) aufgrund eines Arbeits- oder Dienstvertrages Beschäftigte tätig geworden ist.

 

Normenkette

RVO § 539 Abs 2 Fassung: 1963-04-30

 

Verfahrensgang

LSG für das Saarland (Entscheidung vom 30.11.1982; Aktenzeichen L 2 U 21/80)

SG für das Saarland (Entscheidung vom 27.03.1980; Aktenzeichen S 4 U 13/78)

 

Tatbestand

Die in S wohnende Klägerin (geboren 1922, Witwe) kam am 22. August 1974 bei einem Spaziergang mit ihrem im Mai 1972 geborenen Patenkind im S. Stiftswald zu Fall und brach sich dadurch das rechte Fersenbein. Sie hatte ihr Patenkind für die Dauer einer vierwöchigen Urlaubsreise der in K. wohnenden Eltern des Kindes - der Eheleute A. - aus Gefälligkeit - unentgeltlich - zur Betreuung in ihrem Haushalt aufgenommen. Zwischen den Eltern des Kindes und der Klägerin bestanden schon seit längerer Zeit freundschaftliche Beziehungen. Schon zuvor hatte die Klägerin mehrmals Kinder der Eheleute A. bei deren Abwesenheit in K. betreut.

Der Beklagte lehnte einen Entschädigungsantrag der Klägerin ab (Bescheid vom 24. Juni 1977 und Widerspruchsbescheid vom 19. Dezember 1977). Der Unfall habe sich im eigenen Haushalt der Klägerin ereignet und nicht in der elterlichen Wohnung des betreuten Kindes. Als Haushaltsvorstand sei die Klägerin nicht versichert.

Das Sozialgericht (SG) hat den Beklagten antragsgemäß verurteilt, den Unfall vom 22. August 1974 als Arbeitsunfall anzuerkennen und zu entschädigen (Urteil vom 27. März 1980). Es ist davon ausgegangen, daß die Klägerin am Unfalltag wie ein Kindermädchen für die Familie A. tätig gewesen und deshalb nach § 539 Abs 2 der Reichsversicherungsordnung -RVO- (iVm § 539 Abs 1 Nr 1 RVO) gegen Arbeitsunfall versichert gewesen sei. Der Spaziergang sei der Haushaltung der Eheleute A. zuzurechnen.

Das Landessozialgericht (LSG) hat das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen (Urteil vom 30. November 1982). Zur Begründung hat es ua ausgeführt: Die Klägerin habe nicht in einem Beschäftigungsverhältnis (§ 539 Abs 1 Nr 1 RVO) zu den Eheleuten A. in deren Haushalt gestanden. Das Kind habe nicht im Haushalt seiner Eltern betreut werden sollen, sondern sei der Klägerin zur Betreuung in ihrem Haushalt übergeben worden. Zudem bestehe kein Anhalt dafür, daß die Klägerin in Abhängigkeit von den Eheleuten A. tätig geworden sei. Ein Versicherungsschutz nach § 539 Abs 2 RVO (iVm § 539 Abs 1 Nr 1 RVO) setze eine arbeitnehmerähnliche Tätigkeit voraus. Daran habe es hier gefehlt, weil die von der Klägerin übernommene Betreuung des Kindes für die Dauer des Urlaubs seiner Eltern sich nach Art, Umfang und Dauer im Rahmen einer durch freundschaftliche Beziehungen geprägten Gefälligkeitshandlung bewegt habe. Da die Betreuung des Kindes keine arbeitnehmerähnliche Tätigkeit darstelle, brauche nicht entschieden zu werden, ob die Klägerin bei dem Spaziergang nicht ohnehin eigenwirtschaftlich tätig geworden sei.

Die Klägerin trägt zur Begründung der vom LSG zugelassenen Revision ua vor: Anders als in den vom Bundessozialgericht (BSG) entschiedenen Fällen von Gefälligkeitshandlungen zwischen Verwandten, Nachbarn oder in familienhaft gestalteten Gemeinschaften sei es selbst bei einer - wie hier - engen Freundschaft oder Bekanntschaft nicht üblich, lediglich gefälligkeitshalber für einen Zeitraum von vier Wochen die alleinverantwortliche Betreuung eines Kleinkindes zu übernehmen, zumal dann nicht, wenn das Kind dazu aus seiner gewohnten Familienumgebung an einen ihm fremden Ort gebracht werden müsse. Hier liege das Motiv für die Betreuung nicht in einer unter freundschaftlich verbundenen Menschen üblichen Gefälligkeit, sondern in der Einsicht in die Notwendigkeit, dem Kind einen sonst unvermeidbaren Heimaufenthalt und den Umgang mit fremden Pflegepersonen zu ersparen. Jedenfalls aber habe das LSG - in Verletzung der §§ 103 und 128 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) - zu Unrecht angenommen, daß die täglich neun- bis zehnstündige Beaufsichtigung und Betreuung eines 2 1/4 Jahre alten Kindes nach Umfang und Zeitdauer einer üblichen Gefälligkeit unter einander nahestehenden Personen entspreche. Daß der Spaziergang mit dem Kind zur Betreuung gehört habe und nicht eigenwirtschaftlich gewesen sei, bedürfe entgegen der vom LSG angedeuteten Auffassung keiner weiteren Begründung.

Die Klägerin beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des SG für das Saarland vom 27. März 1980 zurückzuweisen, hilfsweise, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache an das LSG zurückzuverweisen.

Der Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 SGG).

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist nicht begründet. Zutreffend haben der Beklagte und das LSG angenommen, daß die Klägerin gegen den Beklagten keinen Anspruch auf eine Entschädigung aus der gesetzlichen Unfallversicherung wegen der Folgen des Unfalles vom 22. August 1974 hat. Die Klägerin war bei der unfallbringenden Tätigkeit, dem Spaziergang mit ihrem Patenkind, nicht gegen Arbeitsunfall versichert.

Nach § 548 Abs 1 Satz 1 RVO ist Arbeitsunfall ein Unfall, den ein Versicherter bei einer der in den §§ 539, 540 und 543 bis 545 RVO genannten Tätigkeiten erleidet. Mit Recht besteht nach den - insoweit nicht angegriffenen - tatsächlichen Feststellungen des LSG unter den Beteiligten kein Streit darüber, daß die Klägerin zu den Eltern ihres Patenkindes nicht in einem Arbeits- oder Dienstverhältnis gestanden hat und demnach ein Versicherungsschutz nach § 539 Abs 1 Nr 1 RVO ausscheidet.

Die Klägerin ist auch nicht "wie ein nach Abs 1 Versicherter tätig" geworden (§ 539 Abs 2 RVO). Sie war nicht, was nach der Lage des Falles allein in Betracht zu ziehen ist, wie eine aufgrund eines Arbeits- oder Dienstverhältnisses im Haushalt der Eltern ihres Patenkindes Beschäftigte tätig, so daß auch ein Versicherungsschutz nach § 539 Abs 2 iVm Abs 1 Nr 1 RVO nicht bestanden hat.

Für die Anwendung des § 539 Abs 2 iVm Abs 1 Nr 1 RVO ist nach der ständigen Rechtsprechung des BSG erforderlich, daß es sich um eine ernstliche, dem in Betracht kommenden Unternehmen dienende Tätigkeit handelt, die dem erklärten oder mutmaßlichen Willen des Unternehmers entspricht. Der Tätigwerdende braucht weder persönlich noch wirtschaftlich von dem Unternehmer abhängig zu sein. Die Beweggründe des Handelns sind für den Versicherungsschutz unerheblich. Grundsätzlich schließen auch Freundschafts- und Gefälligkeitsdienste den Versicherungsschutz nicht aus (s BSGE 5, 168; BSG SozR Nr 16 zu § 537 RVO aF; BSG SozR 2200 § 539 Nrn 43, 49, 55, 57, 66; BSG Urteil vom 15. Dezember 1977 - 8 RU 42/77 - USK 77246; s auch Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 1.-9. Aufl S 475m ff mit zahlreichen weiteren Nachweisen). Allerdings ist eine Person nicht bei jeder Tätigkeit, die einem Unternehmen dient und dem Willen des Unternehmers entspricht, nach § 539 Abs 2 RVO versichert. Es muß eine Tätigkeit sein, die ihrer Art nach sonst von Personen verrichtet werden könnte, die zu dem Unternehmer in persönlicher und wirtschaftlicher Abhängigkeit stehen, und die Tätigkeit muß unter solchen Umständen geleistet werden, daß sie einer Tätigkeit aufgrund eines Beschäftigungsverhältnisses (§ 539 Abs 1 Nr 1 RVO) ähnlich ist. Diese Voraussetzung darf nicht losgelöst von den tatsächlichen und rechtlichen Umständen beurteilt werden, unter denen sich die Tätigkeit vollzieht; erforderlich ist, daß durch die Tätigkeit ein innerer ursächlicher Zusammenhang mit dem unterstützten Unternehmen hergestellt wird (s BSGE 5, 168, 174; Brackmann aaO S 476d mwN). Maßgebend sind die Verhältnisse des Einzelfalls, nach denen zu beurteilen ist, ob die jeweilige Tätigkeit unter solchen Umständen verrichtet worden ist, die sie einer Tätigkeit aufgrund eines Beschäftigungsverhältnisses ähnlich erscheinen lassen (BSGE 5, 168, 174; BSG SozR Nr 15 zu § 539 RVO). Für einen Versicherungsschutz gemäß § 539 Abs 2 iVm Abs 1 Nr 1 RVO reicht es danach nicht aus, daß das Kind zB auch von einem Kindermädchen im Rahmen eines Arbeits- oder Dienstverhältnisses hätte beaufsichtigt und betreut werden können. Es kommt vielmehr darauf an, ob die Klägerin unter ähnlichen Umständen wie ein Kindermädchen oder eine andere zur Kinderbetreuung im "Unternehmen" eines Privathaushalts (s BSG SozR Nr 16 zu § 537 RVO aF; §§ 541 Abs 1 Nr 5, 657 Abs 1 Nr 3 RVO) aufgrund eines Arbeits- oder Dienstvertrages Beschäftigte tätig geworden ist. An dieser Voraussetzung fehlt es hier.

Nach den insoweit nicht angegriffenen und deshalb für das BSG bindenden Feststellungen im Urteil des LSG (s § 163 SGG) hatte die Klägerin ihr damals zwei Jahre und drei Monate altes Patenkind in ihren Haushalt in S. aufgenommen, um es während einer vierwöchigen Urlaubsreise der in K. wohnenden Eltern, aus Gefälligkeit unentgeltlich zu betreuen. Aufgrund einer langjährigen Freundschaft bestanden zwischen der Klägerin und den Eltern des Patenkindes enge persönliche Beziehungen; schon zuvor hatte die Klägerin mehrmals Kinder der Eheleute A. bei deren Abwesenheit in K. betreut. Der Unfall ereignete sich bei einem Spaziergang, den die Klägerin an ihrem Wohnort mit ihrem Patenkind während der Zeit unternahm, in der sie es bei sich aufgenommen hatte.

Zugunsten der Klägerin kann davon ausgegangen werden, daß sie, was das LSG offengelassen hat, den Spaziergang nicht nur "eigenwirtschaftlich" - zu ihrer Erholung und ihrem Vergnügen - unternommen hat, sondern wesentlich, wie die Revision geltend macht, zumindest auch deshalb, weil Kleinkinder zur Erhaltung ihrer Gesundheit und normalen Entwicklung möglichst täglich an die frische Luft geführt werden sollen. Es kann ebenfalls zugunsten der Klägerin davon ausgegangen werden, daß sie für die Betreuung des Kindes erhebliche Zeit und Mühe aufgewendet hat. Insoweit bedarf es keiner weiteren Feststellungen. Ausschlaggebend für die rechtliche Beurteilung ist nach der Lage des Falles bei natürlicher Betrachtung, daß die eigenverantwortliche, selbständige Betreuung des Patenkindes im eigenen Haushalt nicht nur durch langjährige Freundschaft mit den Eltern des Kindes, sondern vor allem aufgrund enger persönlicher Bindungen zu dem Patenkind nicht unter solchen Umständen unternommen worden ist, die sie einer Arbeitsleistung aufgrund eines Beschäftigungsverhältnisses (§ 539 Abs 1 Nr 1 RVO) ähnlich erscheinen lassen. Damit aber scheidet ein Versicherungsschutz der Klägerin nach § 539 Abs 2 iVm Abs 1 Nr 1 RVO aus.

Die Revision war danach zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1663439

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