Entscheidungsstichwort (Thema)

RVO § 539 Abs 1 Nr 1, 19, Abs 2 iVm Abs 1 Nr 1; SGB XI § 20 Abs 4; SGG §§ 62, 103, 106, 128. Betreuung des Enkels unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung. Zum Unfallversicherungsschutz bei täglicher Betreuung eines Enkelkindes während der Berufstätigkeit der Mutter.

 

Beteiligte

Klägerin und Revisionsbeklagte

Beklagter und Revisionskläger

 

Tatbestand

I

Die Beteiligten streiten darüber, ob die Klägerin bei der Betreuung ihres Enkels unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung stand.

Die unverheiratete Tochter der im Jahre 1923 geborenen Klägerin ist die Mutter eines im Juli 1982 geborenen nichtehelichen Sohnes. Zum Zeitpunkt der Geburt ihres Kindes war sie noch minderjährig. Um ihrer Tochter im Anschluß an die Schule eine Berufsausbildung zu ermöglichen, übernahm die Klägerin im wesentlichen Umfang die Betreuung ihres Enkelkindes. Nach ihren Angaben verzichtete sie deshalb auf eine ihr angebotene Tätigkeit als Arzthelferin. Die Tochter der Klägerin schloß die Berufsausbildung ab und ist seitdem berufstätig. Die Klägerin setzte aus diesem Grunde die Betreuung des Kindes fort. Die Tochter wohnt mit dem Kind in einer gesonderten Einliegerwohnung in dem der Klägerin gehörenden und auch von dieser bewohnten Haus. Die Betreuung des Enkels durch die Klägerin besteht darin, daß sie das Kind morgens weckt, für den Kindergarten - mittlerweile die Schule - zurechtmacht, dort hinbringt und wieder abholt. Anschließend betreut sie das Kind, bis die Tochter von der Arbeit nach Hause kommt.

Die Klägerin erhält seit Aufnahme der Betreuungstätigkeit von ihrer Tochter 800,-- DM monatlich, wovon 400,-- DM als Miete für die Wohnung und 400,-- DM als Gegenleistung für die Betreuung des Kindes bestimmt sind. Soweit der Klägerin Kosten bei der Betreuung (Verpflegung uä) entstehen, erstattet die Tochter diese gesondert. Die 800,-- DM werden nach Angaben der Klägerin bar ausgezahlt, Sozialversicherungsbeiträge werden nicht abgeführt. Schriftliche Abmachungen wurden nicht getroffen.

Am 17. Mai 1989 stürzte die Klägerin, als sie sich auf dem Weg befand, ihren Enkel vom Kindergarten abzuholen. Sie erlitt eine Zertrüschen Dreiecks.

Der Beklagte lehnte eine Entschädigung des Unfalls als Arbeitsunfall ab (Bescheid vom 21. März 1991 und Widerspruchsbescheid vom 30, Januar 1992). Es sei schon zweifelhaft, ob die Tätigkeit der Klägerin einem fremden Unternehmen (Haushalt der Tochter) zugerechnet werden könne oder nicht vielmehr als eigene Aufgabe wahrgenommen worden sei. Jedenfalls sei die Betreuung weder als Beschäftigung i.S. des § 539 Abs. 1 Nr. 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) noch als arbeitnehmerähnliche Tätigkeit i.S. des § 539 Abs. 2 i.V.m. Abs. 1 Nr. 1 RVO anzusehen. Es habe sich statt dessen um eine durch familiäre Beziehungen geprägte Hilfeleistung gehandelt.

Das Sozialgericht (SG) hat die angefochtenen Bescheide aufgehoben und den Beklagten verurteilt, den Unfall als Arbeitsunfall dem Grunde nach zu entschädigen (Urteil vom 18. Januar 1993). Es spreche einiges dafür, die Betreuungstätigkeit der Klägerin als Beschäftigung i.S. des § 539 Abs. 1 Nr. 1 RVO anzusehen; dies könne letztlich offenbleiben. Jedenfalls lägen die Voraussetzungen des § 539 Abs. 2 i.V.m. Abs. 1 Nr. 1 RVO vor. Die Klägerin habe keine eigene Aufgabe wahrgenommen. Die Betreuung habe vielmehr dem Haushalt der Tochter gedient. Die Tätigkeit sei weit über das hinausgegangen, was durch familiäre Bindungen rechtlich oder sittlich geboten sei. In diesem Umfang seien Hilfeleistungen einer Mutter nicht allgemein üblich.

Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung zurückgewiesen (Urteil vom 16. Juni 1993). Die Betreuung des Enkels sei als Beschäftigung i.S. des § 539 Abs. 1 Nr. 1 RVO anzusehen. Zwar habe die Klägerin ihre Tätigkeit im wesentlichen Umfang frei gestalten können; dennoch habe ein persönliches Abhängigkeitsverhältnis zur Tochter bestanden. Dieser habe die Entscheidungsbefugnis bei der Erziehung des Kindes zugestanden; sie habe auch die Grundzüge von dessen Freizeitaktivitäten bestimmt. Weiteres Indiz für ein Beschäftigungsverhältnis sei die Zahlung von monatlich 400,-- DM. Jedenfalls sei eine arbeitnehmerähnliche Tätigkeit i.S. des § 539 Abs. 2 i.V.m. Abs. 1 Nr. 1 RVO zu bejahen. Die Betreuungstätigkeit könne nicht als unversicherte familiäre Hilfeleistung angesehen werden. Als Maßstab für die Abgrenzung zwischen familiären Gefälligkeiten und arbeitnehmerähnlichen Tätigkeiten könne § 1618a des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) herangezogen werden, wonach Eltern und Kinder einander Beistand und Rücksicht schuldeten. Diese gesetzliche Beistandspflicht umfasse keine ständig geleisteten Dienste, wie hier geschehen. Auch unabhängig von dieser Beistandspflicht sei die Tätigkeit nicht von verwandtschaftlichen Beziehungen geprägt gewesen. Eine Tätigkeit in dem von der Klägerin ausgeübten Umfang sei auch unter nächsten Verwandten nicht allgemein üblich. Zuständig für die Entschädigung sei der Beklagte, nicht die Beigeladene. Kinderbetreuung sei eine haushaltsübliche Tätigkeit und keine darüber hinausgehende Wohlfahrtspflege.

Mit der - vom LSG zugelassenen - Revision rügt der Beklagte die Verletzung formellen und materiellen Rechts. Er sieht eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör darin, daß das LSG sein Urteil entscheidend darauf stütze, daß die Tätigkeit der Klägerin "unter Verwandten nicht allgemein üblich" sei. Auf diese "allgemeinen Erfahrungssatz" hätte das LSG zuvor hinweisen müssen. Einen solchen Erfahrungssatz gebe es aber auch nicht. In seiner Feststellung durch das LSG sei ein Verstoß gegen die §§ 103, 106, 128 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zu sehen. Die Zahl alleinerziehender Mütter, insbesondere derjenigen, die erwerbstätig seien, sei in den letzten Jahren stetig angestiegen. Diese Mütter seien auf Hilfe Dritter, insbesondere aus der eigenen Familie angewiesen. Daher sei eine Betreuung des Enkels, wie sie die Klägerin durchgeführt habe, heute durchaus üblich. Der Beklagte rügt ferner einen Verstoß gegen die §§ 103, 128 SGG zu der Feststellung des LSG, die Klägerin habe wegen der Betreuung des Enkels auf die Aufnahme einer Tätigkeit als Arzthilfe verzichtet. Ein entsprechende Angebot eines Arztes sei bei der bereits bei Geburt des Enkels 59jährigen Klägerin äußerst unwahrscheinlich. Ein weiterer Verstoß gegen die §§ 103, 106 SGG liege darin, daß das LSG zu dem von der Tochter gezahlten Entgelt keine weiteren Ermittlungen angestellt habe. Es sei zweifelhaft, ob eine solche Zahlung überhaupt regelmäßig erfolgt sei.

Materiell-rechtlich verstoße das angefochtene Urteil gegen die §§ 539, 541 RVO. Für ein Beschäftigungsverhältnis fehle es an dem Merkmal der persönlichen Abhängigkeit. Die Betreuung habe sich nicht nach den Anweisungen der Tochter, sondern nach den Bedürfnissen des Enkels gerichtet. Im Ergebnis habe es sich bei der Betreuungstätigkeit um eine Art Realunterhalt gegenüber der Tochter gehandelt. Die Tätigkeit sei nicht arbeitnehmerähnlich, sondern familiär geprägt von der Mutter-Tochter-Beziehung, so daß auch ein Versicherungsschutz nach § 539 Abs. 2 i.V.m. Abs. 1 Nr. 1 RVO ausscheide. Im übrigen mache auch die Fassung des § 20 Abs. 4 des Elften Buches des Sozialgesetzbuches (SGB XI) i.d.F. des Gesetzes zur sozialen Absicherung des Risikos der Pflegebedürftigkeit (PflegeVG) vom 26. Mai 1994 - BGBl. I 1013 - deutlich, daß auch in Fällen wie hier die Vermutung bestehe, daß eine den Unfallversicherungsschutz begründende Beschäftigung nicht ausgeübt werde.

Der Beklagte beantragt,

das Urteil des LSG Rheinland-Pfalz vom 16. Juni 1993 und das vorangegangene Urteil des SG Koblenz vom 18. Januar 1993 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Die Beigeladene beantragt,

die Revision zurückzuweisen,

hilfsweise, die Klage abzuweisen.

Sie meint, die Entscheidung des LSG sei richtig; jedenfalls sei eine Zuständigkeit ihrerseits für die Entschädigung des Unfalls der Klägerin nicht gegeben.

II

Die Revision des Beklagten ist unbegründet.

Die Klägerin hat, wie das SG und das LSG zutreffend entschieden haben, Anspruch auf Entschädigung aus der gesetzlichen Unfallversicherung wegen der Folgen des Unfalls vom 17. Mai 1989. Die Klägerin erlitt einen von dem Beklagten zu entschädigenden Arbeitsunfall, als sie auf dem Weg zum Kindergarten verunglückte.

Arbeitsunfall ist nach § 548 Abs. 1 Satz 1 RVO ein Unfall, den ein Versicherter bei einer der in den §§ 539, 540 und 543 bis 545 RVO genannten und danach versicherten Tätigkeiten erleidet. Die Klägerin war bei der Betreuung ihres Enkels gemäß § 539 RVO unfallversichert. Dabei kann es für die Entscheidung des vorliegenden Rechtsstreits dahinstehen, ob zwischen der Klägerin und ihrer Tochter ein echtes Beschäftigungsverhältnis i.S. von § 539 Abs. 1 Nr. 1 RVO und § 7 Abs. 1 Sozialgesetzbuch - Gemeinsame Vorschriften für die Sozialversicherung - (SGB IV) bestanden hat. Aufgrund der tatsächlichen Feststellungen des LSG ergibt sich der Versicherungsschutz jedenfalls aus § 539 Abs. 2 i.V.m. Abs. 1 Nr. 1 RVO. Zwar setzt die Anwendung des § 539 Abs. 2 RVG grundsätzlich voraus, daß keiner der Tatbestände des § 539 Abs. 1 RVO eingreift. § 539 Abs. 2 RVO hat insoweit ergänzende (subsidiäre) Bedeutung (BSGE 5, 168, 171 zu den inhaltsgleichen Vorschriften des § 537 Nrn 1 und 10 RVO aF; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 11. Aufl., S. 470c I und 477; Lauterbach/Watermann, Gesetzliche Unfallversicherung, 3. Aufl., § 539 Anm. 99). Das schließt allerdings nicht aus, bei Zweifeln hinsichtlich des Vorliegens seiner Tatbestandsmerkmale die Anwendung des § 539 Abs. 1 Nr. 1 RVO offenzulassen, wenn Jedenfalls die Voraussetzungen des § 539 Abs. 2 i.V.m. Abs. 1 Nr. 1 RVO vorliegen. Dies gilt zumindest für die Fälle, in denen eine mögliche Konkurrenz für die Zuständigkeit des Unfallsicherungstägers nicht gegeben ist.

Die Klägerin unterlag einem Versicherungsschutz nach § 539 Abs. 2 i.V.m. Abs. 1 RVO. Nach § 539 Abs"2 RVO sind gegen Arbeitsunfall Personen versichert, die wie ein nach Absal des § 539 RVO Versicherter tätig werden. Die Anwendung der Vorschrift erfordert eine ernsthafte, dem Unternehmen zu dienen bestimmte und seinem wirklichen oder mutmaßlichen Willen 'entsprechende Tätigkeit, die ihrer Art nach sonst von Personen verrichtet werden könnte, die in einem dem allgemeinen Arbeitsmarkt zuzurechnenden Beschäftigungsverhältnis stehen, und die unter solchen Umständen geleistet wird, daß sie einer Tätigkeit aufgrund eines Beschäftigungsverhältnisses ähnlich ist. Eines persönlichen oder wirtschaftlichen Abhängigkeitsverhältnisses bedarf es beim Tätigwerden nach § 539 Abs. 2 i.V.m. Abs. 1 Nr. 1 RVO nicht (BSGE 5, 168, 171; 17, 211, 216; BSG SozR 2290 § 539 Nr. 123; BSG Urteil vom 8. Dezember 1983 - 2 RU 81/82 - USK83194; BSG Urteil vom 9. Dezember 1993 - 2 RU 54/92 - HV-Info 1994, 413; Brackmann a.a.O. S. 475mff. mwN; KassKomm-Ricke, § 539 RVO RdNrn 108ff.). Dabei sind die gesamten Umstände des jeweiligen Einzelfalls zu beachten, insbesondere Art, Umfang und Zeitdauer der verrichteten Tätigkeiten sowie die Stärke der verwandtschaftlichen Beziehungen (BS SozR 3-2200 § 539 Nr. 25).

Bei der Betreuung des Enkels durch die Klägerin handelte es sich angesichts der Dauer und des Umfangs um eine ernsthafte Tätigkeit, die dem in Betracht kommenden Unternehmen - dem Haushalt der Tochter - erheblich diente. Die Tätigkeit entsprach dem wirklichen Willen der Tochter und konnte ihrer Art nach auch von einer dem allgemeinen Arbeitsmarkt zuzurechnenden Person verrichtet werden, nämlich einem Kindermädchen oder einer Tagesmutter. Dabei ist es unerheblich, ob die Tochter bei Ausfall der Klägerin tatsächlich eine solche Person beschäftigt hätte. Es kommt nicht darauf an, ob solche Personen von dem Unternehmen üblicherweise beschäftigt werden; es genügt, daß sie nach Art der Tätigkeit beschäftigt werden könnten. (s BSG SozR § 2200 § 539 Nr. 55; KassKomm-Ricke, § 539 RVO RdNr 111).

Für den Versicherungsschutz nach § 539 Abs. 2 RVO ist auch unerheblich, ob die Klägerin wegen der Betreuung ihres Enkels auf eine andere Beschäftigungsmöglichkeit tatsächlich verzichtet hat. Nach der ständigen Rechtsprechung des Senats kommt es für den Unfallversicherungsschutz nämlich auf das vom LSG im einzelnen gewürdigte Gesamtbild der ausgeübten Tätigkeit an (s BSG Urteil vom 8. Dezember 1983 - 2 RU 81/82 - USK 83194). Die von der Revision insoweit erhobene Verfahrensrüge ist damit unbegründet.

Entgegen der Auffassung der Revision war die Betreuungstätigkeit der Klägerin einer Tätigkeit aufgrund eines Beschäftigungsverhältnisses zumindest ähnlich. Die Klägerin hat nicht, wie der Beklagte meint, die Erziehung des Enkels als eigene Aufgabe wahrgenommen und somit unternehmerähnlich gehandelt, sondern arbeitnehmerähnlich. Hierbei kann jedoch nicht - wie das LSG ausgeführt hat - maßgebend auf das fehlende Unternehmerrisiko der Klägerin abgestellt werden. Entscheidend ist vielmehr die konkrete Ausgestaltung der Betreuung. In dem - auch von dem Beklagten angeführten - Urteil vom 8. Dezember 1983 (2 RU 81/82 - USK a.a.O.) hat der Senat den Versicherungsschutz für eine Frau verneint, die ihr Patenkind eigenverantwortlich und selbständig vier Wochen lang im eigenen Haushalt betreute und während dieser Betreuungstätigkeit einen Unfall erlitt. Im Unterschied dazu hat im vorliegenden Fall die Klägerin ihren Enkel nicht in den eigenen Haushalt aufgenommen. Das Kind wohnt vielmehr nach den insoweit nicht angegriffenen und somit bindenden Feststellen des LSG (§ 163 SGG) nach wie vor bei seiner Mutter. Es kann auch durchaus unterstellt werden, daß im Unfallzeitpunkt ein besonders enges Großmutter-Enkel-Verhältnis bestand. Die von der Revision besonders betonte Handlungstendenz der Klägerin die Betreuung ihres Enkelkindes zu übernehmen und durchzuführen, war nach den Feststellungen des LSG nicht auf die eigenständige Erziehung des Enkels, sonder auf die Entlastung der Tochter gerichtet, um dieser eine Berufsausbildung und später eine Berufstätigkeit zu ermöglichen. Die Klägerin handelte daher nicht für ihren eigenen Haushalt. Mit ihrer Tätigkeit wollte sie vielmehr in erster Linie dem Haushalt ihrer Tochter helfen.

Der Versicherungsschutz entfällt auch nicht - wie die Revision meint - wegen der engen Verwandtschaft zwischen der Klägerin und ihrer Tochter. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) schließen auch Verwandtschaft bei Freundschafts- und Gefälligkeitsdiensten einen Versicherungsschutz nach § 539 Abs. 2 RVO nicht von vornherein aus (BSG SozR 2200 § 539 Nrn 55 und 134; BSG SozR 3-2200 § 657 Nr. 1; Brackmann a.a.O. S. 475u/v m.w.N.). Ein Versicherungsschutz nach dieser Vorschrift ist aber nicht gegeben, wenn die unter Verwandten vorgenommene Gefälligkeitshandlung im wesentlichen durch die familiären Beziehungen zwischen den Verwandten geprägt ist (BSG SozR 2200 § 539 Nr. 134; BSG Urteil vom 21. August 1991 - 2 RU 2/91 - HV-Info 1991, 2234). Das ist dann der Fall, wenn es sich lediglich um Gefälligkeitshandlungen handelt, die ihr gesamtes Gepräge von den familiären Bindungen zwischen Angehörigen erhalten. Je enger die verwandtschaftliche Beziehung ist, um so eher scheint die Annahme gerechtfertigt, daß sich um Gefälligkeitsdienste handelt, die ihr Gepräge allein durch die familiären Beziehungen erhalten und deshalb nicht mehr als arbeitnehmerähnlich angesehen werden können (BSG SozR a.a.O.). Dabei sind neben der Stärke der verwandtschaftlichen Beziehung die gesamten Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen, insbesondere Art, Umfang und Zeitdauer der vorgesehenen Tätigkeit.

Hiervon ausgehend hat der Senat bisher einen Versicherungsschutz nach § 539 Abs. 2 RVO verneint, soweit es sich um die Betreuung von Kindern durch Verwandte handelte (BSG SozR 2200 § 539 Nr. 43; BSG Urteil vom 8. Dezember 1983 - 2 RU 81/82 - USK 83194). Der vorliegende Fall unterscheidet sich aber von den bisher entschiedenen allein schon dadurch, daß dort jeweils um eine vorübergehende Beaufsichtigung (kurzzeitige Beaufsichtigung während einer Besichtigung bzw. unentgeltliche Betreuung eines Patenkindes während einer vierwöchigen Urlaubsreise der Eltern) ging, während die Tätigkeit der Klägerin auf nicht vergleichbar lange Zeit angelegt war.

Das LSG hat aufgrund seiner tatsächlichen Feststellungen zutreffend entschieden, daß die Betreuungstätigkeit der Klägerin nach ihrer Art - nämlich durch ihre Zweckbestimmung, hauptsächlich der Erwerbstätigkeit der Tochter zu dienen und nach sich über viele Jahre erstreckenden Dauer das auch unter Verwandten Übliche sprengt; sie kann nicht mehr als rein familiäre Hilfeleistung angesehen werden.

Die hiergegen erhobenen Verfahrensrügen der Revision greifen nicht durch. Das LSG hat nicht den Grundsatz des rechtlichen Gehörs (Art 103 Abs. 1 des Grundgesetzes, § 62 SGG) verletzt, indem es ausgeführt hat, die Tätigkeit der Klägerin sei "unter Verwandten nicht allgemein üblich". Der Auffassung, es habe sich hierbei um eine Überraschungsentscheidung gehandelt, kann nicht gefolgt werden. Es ist zwar richtig, daß das Urteil nicht auf Gesichtspunkte gestützt werden darf, die bisher nicht erörtert worden sind, wenn dadurch der Rechtsstreit eine unerwartete Wendung nimmt (Meyer-Ladewig, SGG, 5. Aufl., § 62 RdNr 8 m.w.N.). Hier hat das LSG aber insoweit lediglich die Argumentation des SG aufgegriffen und vertieft. Auch die Klägerin hat im Berufungsverfahren ihre Rechtsmeinung vorwiegend darauf abgestellt, daß ihre Tätigkeit über das familiär Übliche hinausgehe. Der Beklagte war somit ausreichend darauf hingewiesen worden, daß es auf die "Üblichkeit" ankomme; er wurde von diesem Gesichtspunkt nicht überrascht. Im übrigen muß das Gericht nicht jede denkbaren Gesichtspunkt mit den Beteiligten erörtern (Meyer-Ladewig a.a.O. § 62 RdNr 8b).

Das LSG hat auch nicht - wie die Revision meint - gegen die §§ 103, 106 und 128 SGG verstoßen, indem es darauf abgestellt habe, die Tätigkeit der Klägerin sei nicht allgemein unter Verwandten üblich. Soweit unter Hinweis auf §§ 103, 106 SGG eine Verletzung der Amtsermittlungspflicht gerügt werden soll, entspricht diese Rüge der Revision nicht den Anforderungen des § 164 Abs. 2 Satz 3 SGG. Die Amtsermittlungspflicht ist verletzt, wenn das Tatsachengericht sich aus seiner Sicht hätte gedrängt fühlen müssen, weitere Ermittlungen anzustellen (BSG SozR 1500 § 103 Nr. 25; Meyer-Ladewig a.a.O. § 103 RdNr 20, Krasney/Udsching, Handbuch des sozialgerichtlichen Verfahrens, 1991, IX, RdNr 338, jeweils m.w.N.). Welche weiteren Beweise das Gericht hätte erheben müssen, muß in der Verfahrensrüge genau bezeichnet werden (Meyer-Ladewig a.a.O. § 164 RdNr 12). Hierzu hat die Revision keine weiter Beweismittel angegeben.

Schließlich hat das LSG auch nicht die Grenzen der freien richterlichen Beweiswürdigung nach § 128 SGG überschritten, indem es - wie die Revision meint - einen nicht bestehenden allgemeinen Erfahrungssatz aufgestellt habe (s Meyer-Ladewig a.a.O. § 128 RdNr 11). Bei seiner Aussage, "die Tätigkeit der Klägerin sei unter Verwandten nicht allgemein üblich", ist das LSG nicht von einem allgemeinen Erfahrungssatz ausgegangen. Insoweit handelt es sich um die rechtliche Wertung des festgestellten Sachverhalts. Ob diese - dem Umfang nach unstreitige - Betreuungstätigkeit unter dem Gesichtspunkt des Unfallversicherungsschutzes als unter Verwandten üblich anzusehen ist, ist eine Wertungsfrage, die revisionsrechtlich überprüfbar ist und mit einer Verfahrensrüge nicht angegriffen werden kann. Zwar fließen in diese rechtliche Wertung insoweit generelle Tatsachen ein, als zu berücksichtigen ist, in welchem Umfang andere Großmütter ihre Enkel betreuen; diese generellen - auf das Verhalten der Gesamtbevölkerung abstellenden - Tatsachen stehen aber Rechtssätze näher als die sog. Einzeltatsachen und sind ebenfalls ohnehin inhaltlich vom Revisionsgericht überprüfbar (zur Feststellung genereller Tatsachen in der Revisionsinstanz vgl. Rauscher SGb 1986, 45 ff; Eicher SGb 1986, 501ff.).

Auch der Ansicht des Beklagten, Fälle wie der vorliegende seien weitverbreitet und allgemein üblich, kann in dieser allgemeinen Form nicht gefolgt werden. Richtig ist zwar, daß die Zahl der alleinerziehenden Mütter, die auf eine Erwerbstätigkeit angewiesen sind, stetig zugenommen hat. Daraus mag auch ein wachsendes Bedürfnis nach Mithilfe von Verwandten resultieren. Dem läßt sich aber nicht schon entnehmen, daß "in der Praxis Großmütter tausendfach eine derartige Betreuung vornehmen". Die Revision berücksichtigt nicht ausreichend, daß diese Arbeit häufig im Rahmen der familiär geprägten Beziehungen zu dem Enkelkind geleistet wird und nicht nach Art und einem Umfang wie hier gegen - wenn auch geringes - Entgelt deshalb erfolgt, um der Mutter des Kindes eine Erwerbstätigkeit zu ermöglichen. Die vom Beklagten erwähnte Diskussion um den Anspruch eines jeden Kindes auf einen Kindergartenplatz weist eher auf das Gegenteil hin. Das verstärkte Bedürfnis nach mehr Kindergartenplätzen entsteht auch, weil eine familiäre Betreuung häufig nicht möglich ist. Eine Betreuung durch die Großmutter scheidet zudem vielfach schon aus, soweit diese selbst berufstätig ist. Berufstätigkeit von Frauen ist heute in der "Großelterngeneration" keine Ausnahme mehr. Häufig entfällt die Möglichkeit einer solchen Betreuung wegen der örtlichen Entfernungen. Schließlich ist bei weitem nicht jede Großmutter angesichts des Zerfalls der Großfamilie und des gesteigerten Freizeitbedürfnisses und -angebots bereit, sich der Betreuung von Enkelkindern zu wi DMen. So mag es zwar sein, daß In tausenden von Fällen" Kinder gelegentlich von den Großeltern betreut werden, täglich bei der Großmutter zu Mittag essen usw. Eine allumfassende Betreuung aber wie im vorliegenden Fall sprengt nach Art und Dauer den Rahmen des Üblichen. Nach alledem ist die rechtliche Wertung des LSG nicht zu beanstanden.

Der Auffassung des Beklagten, bei der Tätigkeit der Klägerin habe es sich um eine Art Realunterhalt gehandelt, kann falls nicht gefolgt werden. Ob die Klägerin im Rahmen ihrer Leistungsfähigkeit zu finanziellen Unterhaltsleistungen verpflichtet gewesen wäre, wenn ihre Tochter nicht berufstätig gewesen wäre, kann hier offenbleiben. Jedenfalls ist eine so intensive persönliche Inanspruchnahme wie hier dem Unterhaltsrecht fremd.

Versicherungsfreiheit nach § 541 Abs. 1 Nr. 5a RVO scheidet aus, weil nach den Feststellungen des LSG die Tätigkeit nicht unentgeltlich war. Der von der Revision bezüglich der Entgeltlichkeit gerügte Verstoß gegen die Amtsermittlungspflicht liegt nicht vor. Die von der Revision hierzu geforderten weiteren Beweiserhebungen waren nach der zugrundezulegenden Rechtsauffassung des LSG nicht geboten. Danach kam es nur auf die bloße Zahlung und nicht darauf an, ob Sozialversicherungsbeiträge oder eine pauschale Lohnsteuer abgeführt worden seien. Das Bankkonto, auf das die Zahlungen geleistet wurden, braucht schon deshalb nicht ermittelt zu werden, weil das Geld nach den Angaben der Klägerin bar ausgezahlt wurde.

Diesem Ergebnis steht auch nicht der vom Beklagten dargelegte Grundgedanke in § 20 Abs. 4 SGB XI (idF des PflegeVG vom 26. Mai 1994 - BGBl. I 1013 -) entgegen. Danach besteht bei Personen, die mindestens 10 Jahre nicht in der sozialen Pflegeversicherung oder der gesetzlichen Krankenversicherung versicherungspflichtig waren, und eine dem äußeren Anschein nach versicherungspflichtige Beschäftigung von untergeordneter wirtschaftlicher Bedeutung aufnehmen, die widerlegbare Vermutung, daß eine die Versicherungspflicht begründende Beschäftigung nach Abs. 1 Nr. 1 dieser Vorschrift tatsächlich nicht ausgeübt wird. Wollte man diese Regelung über die allgemeine Pflegeversicherung hinaus als allgemeinen Grundsatz ansehen, so wäre andererseits gerade für den Bereich der gesetzlichen Unfallversicherung § 539 Abs. 1 Nr. 19 i.d.F. des PflegeVG (Art 7 Nr. 1) heranzuziehen, wonach Pflegepersonen zum unfallversicherten Personenkreis gehören; das sind nach § 19 SGB XI die Personen, die nicht erwerbsmäßig einen Pflegebedürftigen wenigstens 14 Stunden wöchentlich in seiner häuslichen Umgebung pflegen. Den Feststellungen des LSG ist zu entnehmen, daß die Betreuungstätigkeit der Klägerin für ihr Enkelkind diesen Zeitrahmen bei weitem überschritt.

Das LSG hat schließlich zutreffend entschieden, daß der Beklagte und nicht die Beigeladene zuständiger Unfallversicherungsträger ist. Die Betreuungstätigkeit der Klägerin unterfiel dem Unternehmen "Haushalt der Tochter" (§ 657 Abs. 1 Nr. 3 RVO) und nicht einem selbständigen Unternehmen der Wohlfahrtspflege. Zum Aufgabenbereich einer Haushaltung als Unternehmen im Sinne der gesetzlichen Unfallversicherung zählen sowohl die hauswirtschaftlichen Tätigkeiten z.B. Kochen, Aufräumen der Wohnung, als auch alle sonstigen häuslichen Tätigkeiten, die mit der Haushaltung im inneren Zusammenhang stehen (BSG SozR 2200 § 539 Nr. 2; BSG SozR 3-2200 § 539 Nr. 6). Hierzu zählt auch die Betreuung der Kinder (BSG SozR 2200 § 539 Nr. 2). Eine solche Betreuungstätigkeit ist nur dann als häusliche Betätigung nicht mehr anzusehen, wenn der einheitliche Zweck der Pflege den allgemeinen Zweck der Haushaltsführung in entscheidendem Maße überwiegt (BSG SozR 3-2200 § 539 Nr. 6). Im vorliegenden Fall handelt es sich nicht um die Betreuung eines Pflegebedürftigen Kindes, sondern um die alltägliche Betreuung eines Kindergartenkindes.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.2 RU 24/93

BUNDESSOZIALGERICHT

Verkündet am 5. Juli 1994

 

Fundstellen

Haufe-Index 517848

Breith. 1995, 203

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