Entscheidungsstichwort (Thema)

Notwendige Vertretung im Schwerbehinderten-Vorverfahren. Erstattung der Kosten. erfolgreicher Widerspruch. schuldhafte Kostenverursachung. Sachaufklärung von Amts wegen. Feststellung von Behinderungen. Antragsbeschränkung. Grundsatz der Meistbegünstigung

 

Orientierungssatz

1. Die Zuziehung eines Bevollmächtigten ist in Schwerbehindertensachen im allgemeinen als notwendig iS von § 63 SGB 10 anzunehmen.

2. Die Rücknahme eines noch nicht bestandskräftigen Verwaltungsaktes aus den Gründen des Widerspruchs macht diesen "erfolgreich".

3. Wenn das Versorgungsamt im Verwaltungsverfahren nach dem SchwbG nicht die im Verfahren der sozialen Entschädigung üblichen ärztlichen Untersuchungen veranlaßt, mit denen in der Regel eine gründliche fachgerechte Befragung nach Gesundheitsverhältnissen durch einen Arzt verbunden ist, kann die Verwaltung einem Antragsteller, der nicht von sich aus vor Erlaß eines Ablehnungsbescheides sämtliche ihm bekannt gewordenen Tatsachen und Gesundheitsstörungen erschöpfend mitteilt, dies nicht als schuldhaftes Versagen anlasten.

4. Die Kostenerstattungspflicht des § 63 SGB 10 soll die Verwaltung dazu bringen, mit Hilfe einer ausreichenden Aufklärungstätigkeit, wozu eine gezielte fachliche Beratung des Antragstellers gehört, schon im ursprünglichen Verwaltungsverfahren eine zutreffende Entscheidung herbeizuführen.

5. Es bleibt offen, ob es für den "Erfolg" eines Widerspruchs iS des § 63 Abs 1 S 1 SGB 10 auf das Vorbringen eines Antragstellers oder auf die wirkliche Sach- und Rechtslage bis zum Einlegen des Rechtsmittels ankommt oder ob auch Änderungen während des Vorverfahrens zu berücksichtigen sind.

6. Der Antrag auf Feststellung nach § 3 Abs 1 S 1 SchwbG ist nur dann als auf benannte Behinderungen beschränkt zu verstehen, wenn der Antragsteller ausdrücklich erklärt, er wolle eine bestimmte Gesundheitsstörung nicht als Behinderung anerkannt haben, und damit in Kauf nimmt, daß sie nicht als Voraussetzung des Grades der MdE und damit für einen Schwerbehindertenausweis berücksichtigt werden soll (vgl BSG 26.2.1986 9a RVs 4/83).

7. Die Kostenlast nach § 63 Abs 1 S 1 SGB 10 trifft die Verwaltung im Erfolgsfall zwingend, nicht kraft einer Ermessensentscheidung wie nach § 193 SGG.

 

Normenkette

SGB 10 § 63 Abs 1 S 1; SGB 10 § 63 Abs 1 S 3; SGB 10 § 63 Abs 2; SchwbG § 3 Abs 1 S 1 Fassung: 1979-10-08; SGB 10 § 20 Abs 1; SGG § 85 Abs 1; SGB 1 §§ 46, 16; SchwbG § 3 Abs 5 S 2, § 4; SGG § 193

 

Verfahrensgang

Schleswig-Holsteinisches LSG (Entscheidung vom 15.12.1986; Aktenzeichen L 2a Vsb 91/86)

SG Itzehoe (Entscheidung vom 02.07.1986; Aktenzeichen S 6 Vsb 57/86)

 

Tatbestand

Der Kläger, der in diesem Verfahren Aufwendungen für einen Bevollmächtigten ersetzt haben will, stellte im Mai 1984 einen "Antrag nach § 3 des Schwerbehindertengesetzes (SchwbG)" und gab als "geltend gemachte" Behinderungen "Folgen nach Meniskusoperation rechts" und "zu hoher Blutdruck" an. Nach Beiziehung von entsprechenden ärztlichen Unterlagen und einer gutachtlichen Stellungnahme stellte das Versorgungsamt mit Bescheid vom 19. April 1985 die beiden Behinderungen und den Grad der durch sie bedingten Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) auf 40 vH fest; einen Schwerbehindertenausweis lehnte es ab. Der Kläger erhob dagegen Widerspruch durch einen Rechtsanwalt. In der schriftlichen Widerspruchsbegründung vom 10. Juni 1985 verwies dieser auf weitere Gesundheitsstörungen, die als Behinderungen zu berücksichtigen seien, insbesondere auf einen Bandscheibenverschleiß mit Schulter- und Armbeschwerden, die in einer Kur vom 16. Januar bis 13. Februar 1985 behandelt worden seien, und auf die Folgen eines am 7. Juni 1985 erlittenen Unfalls. Nach erneuter, vom Kläger angeregter Sachaufklärung anerkannte das Versorgungsamt durch einen auf § 85 Sozialgerichtsgesetz (SGG) gestützten "Abhilfebescheid" vom 22. Januar 1986 weitere Gesundheitsstörungen als Behinderungen und eine durch sie bedingte MdE von 60 vH. Nach nochmaliger Akteneinsicht erklärte der Bevollmächtigte, die Sache könne abgeschlossen werden, sofern die Verwaltung nach § 63 Sozialgesetzbuch - Verwaltungsverfahren - (SGB X) dem Antragsteller die notwendigen Aufwendungen erstatte, die sich auf insgesamt 332,31 DM beliefen. Das Versorgungsamt lehnte eine Erstattung von Aufwendungen ab, weil der "Abhilfebescheid" aufgrund des erst im Vorverfahren bekannt gewordenen Sachverhalts ergangen und deshalb der Widerspruch nicht erfolgreich iS des § 63 SGB X gewesen sei (Bescheid vom 24. März 1986). Das Sozialgericht (SG) hat den Beklagten verurteilt, dem Kläger Vorverfahrenskosten in Höhe von 235,41 DM zu erstatten (Urteil vom 2. Juli 1986). Das Landessozialgericht (LSG) hat auf die vom SG zugelassene Berufung des Beklagten den zu erstattenden Aufwendungsbetrag auf 220,88 DM festgesetzt, im übrigen dieses Rechtsmittel ebenso wie die Berufung des Klägers, der weiterhin den höheren Erstattungsbetrag begehrte, zurückgewiesen (Urteil vom 15. Dezember 1986). Nach der Rechtsauffassung des Berufungsgerichts kann der Kläger die zweckentsprechenden Aufwendungen gemäß der Höhe einer Mittelgebühr für den beauftragten Rechtsanwalt nach § 63 Abs 1 Satz 1 und Abs 2 SGB X ersetzt verlangen, weil sein Widerspruch erfolgreich gewesen sei; er habe zu dem den Kläger zufriedenstellenden Abhilfebescheid geführt. Aus welchen Gründen der Widerspruch dies bewirkt habe, sei unerheblich. Der Umfang der Erstattung werde nicht durch ein Verschulden des Klägers nach § 63 Abs 1 Satz 3 SGB X beeinträchtigt. Insbesondere habe der Kläger mit der Benennung von zwei Gesundheitsstörungen seinen Antrag nicht mit der Wirkung eingeschränkt, daß weitere Behinderungen nicht hätten anerkannt werden dürfen. Die Verwaltung hätte von Amts wegen den Sachverhalt umfassend aufklären müssen.

Der Beklagte rügt mit seiner - vom LSG zugelassenen - Revision eine Verletzung des Verschuldensprinzips (§ 63 Abs 1 Satz 3 SGB X) sowie des Antragsprinzips (§ 3 Abs 1 SchwbG aF/§ 4 Abs 1 SchwbG nF). Insbesondere weiche das Berufungsurteil von der Entscheidung des Bundessozialgerichts (BSG) vom 26. Februar 1986 - 9a RVs 4/83 - ab, wonach gegen den Willen eines Antragstellers keine Behinderung anerkannt werden dürfe. Der Kläger habe mit seinem gestaltend wirkenden Antrag allein die ausdrücklich angegebenen Gesundheitsstörungen als Behinderungen anerkannt haben wollen. Dem habe das Versorgungsamt in vollem Umfange entsprochen. Der angefochtene Bescheid sei zur Zeit seines Erlasses rechtmäßig, der dagegen gerichtete Widerspruch unbegründet gewesen. Zur Feststellung weiterer Behinderungen und zur Höherbewertung der Gesamt-MdE im "Abhilfebescheid" sei es erst außerhalb des Vorverfahrens auf den neuen Antrag im Schriftsatz vom 10. Juni 1985 gekommen, mit dem der Kläger erstmals weitere Gesundheitsstörungen geltend gemacht habe.

Der Beklagte beantragt, das Urteil des LSG zu ändern, das Urteil des SG aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des Beklagten ist erfolglos.

Die Vorinstanzen haben zu Recht den Beklagten verpflichtet, dem Kläger die zur Rechtsverfolgung im Vorverfahren notwendigen Aufwendungen in Form von Rechtsanwaltsgebühren und -auslagen zu erstatten. Der entgegenstehende Bescheid, gegen den sich der Kläger wendet, ist rechtswidrig.

Der Anspruch besteht auf Grund der Vorschrift des § 63 Abs 1 Satz 1 SGB X, die auch in Schwerbehindertensachen anzuwenden ist (§ 1 Satz 1, Art II § 16 SGB X vom 18. August 1980 -BGBl I 1469-, § 10, Art II § 1 Nr 3 SGB I vom 11. Dezember 1975 -BGBl I 3015-, § 3 Abs 1 Satz 3 SchwbG in der 1984/85 geltend gewesenen Fassung vom 8. Oktober 1979 -BGBl I 1649-; BSG SozR 1300 § 48 Nrn 13 und 29; 1300 § 63 Nrn 2 und 9). Demnach hat das beklagte Land, dessen Versorgungsamt den Verwaltungsakt über die Verneinung der Schwerbehinderteneigenschaft erlassen hatte (§§ 1 und 3 Abs 1 SchwbG 1979), dem Kläger die für seinen Widerspruch gegen den Bescheid notwendigen Aufwendungen zu erstatten; denn sein Rechtsbehelf war in vollem Umfang erfolgreich. Zu vergüten sind nach § 63 Abs 2 SGB X die Gebühren und Auslagen des Rechtsanwalts; die Vertretung des Klägers, eines Torfmeisters, durch den rechtskundigen Bevollmächtigten (§ 13 Abs 1 Satz 1 SGB X) war objektiv notwendig (vgl dazu BVerwG Buchholz 316 § 80 VwVfG Nrn 1, 2, 13, 18), was in Schwerbehindertensachen im allgemeinen anzunehmen ist. Dies hat das LSG näher begründet. Auf seine zutreffenden Ausführungen wird Bezug genommen; die Revision hat sie nicht beanstandet. Auch gegen die Höhe des Erstattungsbetrages, der der Rechtsprechung des BSG entspricht (vgl auch Urteil des Senats vom 23. Oktober 1985 - 9a RVs 5/83 -), wird nichts eingewendet.

Das Vorverfahren wurde durch eine die Beschwer des Klägers beseitigende Entscheidung über den Widerspruch erledigt (BSG SozR 1300 § 63 Nr 3 und 7; BVerwG Buchholz 316 § 80 VwVfG Nrn 10 und 12), dagegen nicht auf andere Weise (vgl dazu BVerwG, NJW 1982, 300). Die gegenteilige Auffassung des Beklagten beachtet nicht genügend den Ablauf des Vorverfahrens. Das Versorgungsamt half durch den Bescheid vom 22. Januar 1986 dem Widerspruch dadurch vollauf ab, daß es die Voraussetzung der Schwerbehinderteneigenschaft, eine MdE von mehr als 50 vH, mit 60 vH feststellte (§§ 1 und 3 Abs 2 SchwbG 1979; jetzt Grad der Behinderung - §§ 1, 3 Abs 2 und 3, § 4 Abs 1 SchwbG idF vom 26. August 1986 -BGBl I 1421-; zur Statusfeststellung durch das Versorgungsamt: BSGE 52, 168, 170 = SozR 3870 § 3 Nr 13); damit wurde der Widerspruch iS des § 85 Abs 1 SGG "für begründet erachtet" (Meyer-Ladewig, Sozialgerichtsgesetz, 3. Aufl 1987, § 85 Rz 2; Peters/Sautter/Wolff, Kommentar zur Sozialgerichtsbarkeit, 4. Aufl, § 85 Anm 2). Die Abhilfe geschah im Vorverfahren, das sich in dieser Schwerbehindertensache nach den §§ 78 ff SGG richtete (§ 3 Abs 6 SchwbG 1979). Das Versorgungsamt bezeichnete dementsprechend seinen zweiten Verwaltungsakt als "Abhilfebescheid" und stützte ihn ausdrücklich auf § 85 SGG. Diese Behörde, die den angefochtenen Ablehnungsbescheid erlassen hatte und bei der der Widerspruch einzulegen war (§§ 83, 84 Abs 1 SGG), war für die Abhilfe zuständig (ausdrücklich: § 72 Verwaltungsgerichtsordnung -VwGO-). Nur dann, wenn sie ausnahmsweise dem Begehren des Widerspruches nicht entsprochen hätte, hätte sie den Rechtsbehelf dem Landesversorgungsamt zur Entscheidung durch einen Widerspruchsbescheid vorlegen müssen (§ 85 Abs 2 Nr 1 und Abs 3 SGG). Sie beschritt hier den normalen Weg einer Abhilfe. Das Versorgungsamt hat auch hier dadurch, daß es den Schwerbehindertenausweis ab Antragsmonat (Mai 1984) hat wirksam werden lassen (§ 6 Abs 1 Ausweisverordnung Schwerbehindertengesetz -SchwbAwV- vom 3. April 1984 - BGBl I 509), einen vollen Ersatz des Ablehnungsbescheides angenommen.

Die abweichende Auffassung des Beklagten widerspricht der damaligen zutreffenden Behandlung des Widerspruchs. Demnach soll der Rechtsbehelf ursprünglich nicht begründet gewesen und soll ihm nicht vollauf abgeholfen worden sein; vielmehr soll der "Abhilfebescheid" aufgrund eines neuen, erst mit der Widerspruchsbegründung gestellten Antrages in einem gesonderten Verwaltungsverfahren ergangen sein. Diese Konstruktion widerspricht auch dem Gesetz. Der Zugunstenbescheid gegenüber einem rechtsverbindlichen Bescheid in einem Verwaltungsverfahren im engeren Sinn - eventuell auf einen neuen Antrag - unterscheidet sich von der hier tatsächlich getroffenen Entscheidung über den Widerspruch gegen einen noch nicht rechtsverbindlichen Verwaltungsakt (vgl dazu BSGE 55, 92, 93 = SozR 1300 § 63 Nr 1). Selbst eine solche Rücknahme eines noch nicht bestandskräftigen Verwaltungsaktes aus den Gründen des Widerspruches macht diesen "erfolgreich" (Meister, DÖV 1985, 146). Was der Kläger im Vorverfahren anstrebte, ergab sich aus seinem Angriff gegen den Bescheid, durch den sein auf § 3 SchwbG gestützter Antrag abgelehnt worden war. Dasselbe wie im ursprünglichen Verwaltungsverfahren (im engeren Sinn) verlangte er im anschließenden Vorverfahren, das der Selbstkontrolle der Verwaltung dient und damit auch ein Verwaltungsverfahren (im weiteren Sinn) ist (§§ 85 und 95 SGG; BSGE 20, 199, 200, 201 = SozR Nr 11 zu § 79 SGG; BSGE 24, 207, 209 f; SozR Nr 6 zu § 84 SGG; Nr 95 zu § 162 SGG; Nr 1 zu § 590 RVO aF; 1300 § 63 Nr 9; Peters/Sautter/Wolff, aaO, § 78, Anm 2; Stelkens/Bonk/Leonhardt, Verwaltungsverfahrensgesetz, 1978, § 9 Rz 2, 20, 21; BVerwG, Bay VerwBl 1983, 412). Er wollte vor allem die schon bezeichnete Voraussetzung der Schwerbehinderteneigenschaft, dh eine MdE von mindestens 50 vH, festgestellt und auf Grund dessen einen Schwerbehindertenausweis ausgestellt haben (§ 3 Abs 5 SchwbG 1979). Mit Hilfe dieses Ausweises als Beweismittel kann der Schwerbehinderte die ihm zustehenden Rechte und Vergünstigungen (Nachteilsausgleiche) in Anspruch nehmen (§ 3 Abs 5 Satz 2 SchwbG 1979, jetzt § 4 Abs 5 Satz 2 SchwbG 1986). Der Beklagte verkennt die Bedeutung der Anerkennung von Behinderungen und das schon bezeichnete Hauptziel des Verfahrens. Die zusätzliche Feststellung von Behinderungen (§ 3 Abs 1 Satz 1 SchwbG 1979, § 4 Abs 1 Satz 1 SchwbG 1986) ist nicht selbständig bedeutsam für das Geltendmachen von Schwerbehindertenrechten; die Behinderungen werden nicht in den Ausweis eingetragen (§ 3 Abs 5 Satz 1 SchwbG 1979, § 4 Abs 5 Satz 1 SchwbG 1986, §§ 1 bis 4 SchwbAwV vom 15. Mai 1981 -BGBl I 431- (SchwbAwV 1984). Sie sind nur mittelbar für den Behinderten deshalb wichtig, weil der nach außen allein maßgebende Grad der MdE/Behinderung von den Behinderungen und den durch sie bedingten Funktionsstörungen und -ausfällen abhängt (§ 3 Abs 1 Satz 1 und Abs 3 SchwbG 1979, §§ 3 und 4 Abs 1 Satz 1 und Abs 3 SchwbG 1986).

Der Widerspruch des Klägers war auch von vorneherein begründet und damit erfolgreich. Wenn die gemäß den Angaben zum Antrag festgestellten Behinderungen - entgegen den Erwartungen des Antragstellers - nach Auffassung des Versorgungsamtes keine für die Schwerbehinderteneigenschaft ausreichenden Funktionsbeeinträchtigungen ergeben sollen, kann ein Behinderter, der eine Höherbewertung derselben im Anfechtungsweg nicht mit Gewißheit erwartet, vorsorglich weitere Gesundheitsstörungen geltend machen, um sein Ziel zu erreichen. So geschah es hier. Der Antrag auf Feststellung nach § 3 Abs 1 Satz 1 SchwbG 1979 ist nur dann als auf benannte Behinderungen beschränkt zu verstehen, wenn der Antragsteller ausdrücklich erklärt, er wolle eine bestimmte Gesundheitsstörung nicht als Behinderung anerkannt haben, und damit in Kauf nimmt, daß sie nicht als Voraussetzung des Grades der MdE und damit für einen Schwerbehindertenausweis berücksichtigt werden soll. Davon ist das LSG in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Senats ausgegangen (Urteil vom 26. Februar 1986 = BSGE 60, 11 = SozR 3870 § 3 Nr 21). Hier fehlte eine solche Antragsbeschränkung. Sie kann schon deshalb nicht in den Antrag des Klägers hineingedacht werden, weil der Antragsteller jedenfalls als Schwerbehinderter anerkannt werden wollte. Dann gilt für die Auslegung des Antrages der Grundsatz der Meistbegünstigung (vgl dazu BSGE 39, 203, 204 ff = SozR 2200 § 1409 Nr 2; BSGE 49, 114, 116 = SozR 4100 § 100 Nr 5; SozR 3100 § 35 Nr 1; 3100 § 48 Nr 7; 5070 § 10a Nr 3). Selbst im Verfahren der sozialen Entschädigung, in dem die Anerkennung von Schädigungsfolgen (zB nach § 1 Abs 1 Bundesversorgungsgesetz -BVG-) selbständig bedeutsam ist für einen Heilbehandlungsanspruch und für eine Hinterbliebenenentschädigung (§ 10 Abs 1, § 38 Abs 1 Satz 2 BVG), kann in höherer Instanz ohne einen neuen Versorgungsantrag eine weitere Gesundheitsstörung geltend gemacht werden (stRspr, zB BSGE 11, 26, 28 f).

Angesichts dieser Sach- und Rechtslage kann dahingestellt bleiben, ob es für den "Erfolg" eines Widerspruchs iS des § 63 Abs 1 Satz 1 SGB X auf das Vorbringen eines Antragstellers oder auf die wirkliche Sach- und Rechtslage bis zum Einlegen des Rechtsmittels ankommt oder ob auch Änderungen während des Vorverfahrens zu berücksichtigen sind. Die Gründe für einen solchen Erfolg und damit für die Erteilung eines Abhilfebescheides sind jedenfalls nicht rechtserheblich für den Erstattungsanspruch aus § 63 Abs 1 Satz 1 SGB X (vgl zum allgemeinen Verwaltungsvorverfahren: BVerwG Buchholz 316 § 80 VwVfG Nr 12; Altenmüller, DÖV 1978, 906, 908). Ob die Verwaltung den Widerspruch "veranlaßt" hat, ist damit unerheblich. Das folgt schon daraus, daß nach Satz 3 Halbsatz 1 der Erstattungsberechtigte die von ihm verschuldeten Aufwendungen selbst zu tragen hat. Dies läßt den Anspruch dem Grunde nach aus Satz 1 unberührt. Die Kostenlast nach dieser Vorschrift trifft die Verwaltung im Erfolgsfall zwingend, nicht Kraft einer Ermessensentscheidung wie nach § 193 SGG.

Der Anspruch des Klägers wird nicht durch § 63 Abs 1 Satz 3 SGB X dem Umfange nach eingeschränkt. "Verschulden" ist in diesem Zusammenhang verfahrensrechtlich als Außerachtlassen der im Verwaltungsverfahren gebotenen Sorgfalt zu verstehen (vgl Rechtsprechung zu § 67 Abs 1 SGG und § 27 SGB X, § 32 VwVfG und § 60 VwGO; Kopp Verwaltungsverfahrensgesetz, 4. Aufl 1986, § 32 Rz 216; Hauck/Haines, SGB X, 1, 2, K § 27, Rz 7 und 8; Grüner, SGB X/3, § 27, Anm III und Anhang). Dem Kläger ist nicht als Verschulden in diesem Sinn anzulasten, daß er erst im Vorverfahren einen Rechtsanwalt zum Bevollmächtigten bestellte und durch ihn weitere Gesundheitsstörungen mitteilen ließ, was zum Erfolg des Widerspruchs führte. Als Torfmeister, der nicht erkennbar rechtskundig in Schwerbehindertensachen und medizinisch fachkundig ist, konnte er annehmen, die beiden ausdrücklich von ihm benannten Gesundheitsstörungen bedingten eine Schwerbehinderteneigenschaft. Es besteht kein Anhalt dafür, daß er auf eine rechtzeitige Nachricht des Versorgungsamtes, es sei anderer Ansicht, oder auf gezieltes Befragen durch einen von der Verwaltung beauftragten Arzt die weiteren Gesundheitsstörungen nicht sogleich, sondern erst im Vorverfahren durch einen Rechtsanwalt angegeben hätte.

Nach objektivem Recht bestand für den Kläger keine Rechtspflicht zu anderem Verhalten. Selbst nach der versorgungsrechtlichen Sondervorschrift des § 7 Abs 1 Satz 1 des Gesetzes über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung (idF vom 6. Mai 1976 -BGBl I 1169-) "sollen" nur im Antrag die begehrten Leistungen bezeichnet sowie die zur Begründung erforderlichen Tatsachen und Beweismittel angegeben werden. Diese Bestimmung ist durch das SGB X aufgehoben worden (Art II § 16 Nr 1). Der Gesetzgeber geht davon aus, daß ein Bürger zu seinem Antrag nicht immer vollständige Angaben macht; das Gesetz verpflichtet in § 16 Abs 3 SGB I den Leistungsträger - hier die über den Status zu entscheidende Stelle -, darauf hinzuwirken, daß unvollständige Angaben ergänzt werden. Die Bezeichnung von Gesundheitsstörungen, die als Behinderungen anerkannt werden sollen, erleichtert nur der Verwaltung den Aufklärungsweg. Nach § 21 Abs 3 Satz 2 SGB X "soll" ein Beteiligter die ihm bekannten Tatsachen und Beweismittel angeben. Diese - eingeschränkte - Obliegenheit gehört aber zu seinen Mitwirkungspflichten im weiteren Sinn innerhalb der Sachaufklärung, wie sich aus dem Zusammenhang mit § 21 Abs 1 und 2 Satz 1 SGB X ergibt, setzt mithin voraus, daß die Verwaltung ihn dazu auffordert.

Das Versorgungsamt hat im Verwaltungsverfahren, das sie auf einen Antrag - hier iS des SchwbG - durchführen muß (§ 18 SGB X), den Sachverhalt von Amts wegen aufzuklären (§ 20 Abs 1 SGB X), namentlich alle für den Einzelfall bedeutsamen, auch die für den Antragsteller günstigen Umstände zu berücksichtigen (Abs 2) und darauf hinzuwirken, daß unvollständige Angaben ergänzt werden (§ 16 Abs 3 SGB I). Die Verwaltung ist an das Vorbringen und an die Beweisanträge bei der Sachaufklärung nicht gebunden (§ 20 Abs 1 Satz 2 Halbs 2 SGB X). Sie hat entscheidungserhebliche Tatsachen auch insoweit zu ermitteln, als sie der Beteiligte nicht von sich aus vorgetragen hat (Obermayer, Kommentar zum Verwaltungsverfahrensgesetz, 1983, § 24 Rz 8). Wenn das Versorgungsamt im Verwaltungsverfahren nach dem SchwbG nicht die im Verfahren der sozialen Entschädigung üblichen ärztlichen Untersuchungen veranlaßt, mit denen in der Regel eine gründliche fachgerechte Befragung nach Gesundheitsverhältnissen durch einen Arzt verbunden ist, kann die Verwaltung einem Antragsteller, der nicht von sich aus vor Erlaß eines Ablehnungsbescheides sämtliche ihm bekannt gewordenen Tatsachen und Gesundheitsstörungen erschöpfend mitteilt, dies nicht als schuldhaftes Versagen anlasten. Zwar mag sie nicht schon vor einer Ablehnung eines vom Antragsteller behaupteten Begehrens nach § 24 Abs 1 SGB X (früher § 34 SGB I) den Betroffenen anhören müssen (BSG SozR 1200 § 34 Nr 8; Grüner, aaO, § 24, Anm IV 1 mwN). Aber wenn sie sich auf die Vollständigkeit der gesundheitlichen Angaben verläßt, die der Antragsteller in dem ohne weitere Erläuterungen ausgestatteten Formular über "geltend gemachte" Behinderungen einträgt, und eine ausreichende Sachaufklärung der bezeichneten Art unterläßt, kann sie eine Kostenerstattung unter den Umständen dieses Falles nicht wegen Verschuldens ablehnen. Das gilt insbesondere dann, wenn - wie hier - das Verwaltungsverfahren lange Zeit in Anspruch nimmt, in der weitere Behinderungen mit Funktionsstörungen eintreten und dem Antragsteller deutlich werden können. Eine Leitlinie für die Aufklärungspflicht der Verwaltung, die ein Verschulden des Antragstellers ausschließt, findet sich in der Beratungspflicht des § 14 SGB I. Die Kostenerstattungspflicht des § 63 SGB X soll gerade die Verwaltung dazu bringen, mit Hilfe einer ausreichenden Aufklärungstätigkeit, wozu eine gezielte fachliche Beratung des Antragstellers gehört, schon im ursprünglichen Verwaltungsverfahren eine zutreffende Entscheidung herbeizuführen. Vor einer unzumutbaren Erstattungspflicht wird die Verwaltung durch die zuvor behandelte Einschränkung in Verschuldensfällen geschützt. Diese kommt aber erst in Betracht, wenn die Verwaltung ihre Aufklärungspflicht erfüllt hat.

Mithin muß es bei der Verurteilung durch das LSG verbleiben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1652439

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